Wie „machen“ Kinder und Lehrkräfte den Unterrichtsanfang während der Corona-Pandemie? (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Inhalt

  • Einleitung
  • Dichte Beschreibung und analytische Dimensionierung
    • Die Situation
    • Dichte Beschreibung eines Unterrichtsbeginns einer ersten Schulstunde
    • Analytische Dimensionierung: Die Perspektive der „Kinder Akteur*innen“
  • Fazit
  • Literaturverzeichnis

Einleitung

„Sich mit dem schulischen Alltag aus der Perspektive von Kindern zu beschäftigen, bedeutet, den sozialen Prozessen in der Schulklasse eine größere Bedeutung bei zu messen“ (Heinzel, 2012, S.179). In dieser Arbeit soll anhand einer ethnographischen Analyse eines Unterrichtsbeginns einer ersten Stunde während des Wechselunterrichts in der Coronapandemie die Perspektive des Kindes als Akteur*in der Situation und dessen Interaktion innerhalb seiner Peergroup sowie mit der Lehrkraft genauer betrachtet werden. Es handelt sich um eine alltägliche Übergangssituation, die aktuell stark durch geltende Coronaschutzmaßnahmen geprägt ist. Obwohl es in der Forschung umstritten ist, ob es einem als Erwachsenen gelingt die Perspektive der Kinder überhaupt angemessen zu rekonstruieren (vgl. ebd. S.180, angelehnt an Honig, 1999; Hülst 2000), soll es in dieser Arbeit versucht werden.

Heinzel stellt heraus, dass die Aufmerksamkeit der Kinder im „Spannungsverhältnis zwischen der kommunikativ-generalisierten Unterrichtsordnung und der durch viele verschiedenen Dimensionen anders gekennzeichneten Peerkultur“ steht (Heinzel, 2012, S.178). Wagner-Willi bedient sich zur Beschreibung der Perspektiven einer Theatermetaphorik, der Vorder- und Hinterbühne (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.58ff.). Das Klassenzimmer kann hiernach als Vorderbühne dienen, wenn die Lehrkraft im Raum ist und die Unterrichtsordnung im Vordergrund steht, gleichzeitig kann im Klassenzimmer eine Hinterbühne entstehen, wenn die Lehrkraft abwesend ist oder peerkulturelle Rituale entstehen (vgl. ebd.).

Dem Beginn des Unterrichts geht meist ein rituelles Signal als Auslöser für einen „Szenenwechsel“ voraus (Wagner-Willi, 2001, S.60), denn Unterricht beginnt nicht direkt nach Eintreten der formalen Kriterien, dem Beginn der Unterrichtszeit oder dem Eintritt in den Klassenraum, sondern muss zudem durch soziale Interaktionen handlungspraktisch hergestellt werden (vgl. Wolf, 2020, S.9; Wagner-Willi, 2018, S.59). Diese Übergangsphase vom Ankommen in der Schule hin zur Herstellung der Unterrichtsbereitschaft nennt Wagner- Willi nach Victor Turner „Schwellenphase“ (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.120). In dieser Schwellenphase treffen die peerkulturell geprägten Handlungen und Normen der Schüler*innen auf der Hinterbühne auf die schulischen Unterrichtsanforderungen der Vorderbühne, und es entsteht ein „Durcheinander“, in dem weder die Regeln der Peergroup noch die des Unterrichts vollständig gelten (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.59). In der Schwellenphase lassen sich Praktiken erkennen, die der Herstellung der Unterrichtsbereitschaft dienen. Von Seiten der Schüler*innen ist dies beispielsweise das Einnehmen des eigenen Sitzplatzes (vgl. Rabenstein/Rehe, 2010, S.71). Eine Praktik der Lehrkräfte ist es, sich vor die Tafel zu stellen und den Blick auf die Schüler*innen zu richten (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.60; Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.144ff.). Häufig dienen Rituale oder ritualisierte Handlungen als Unterstützung um die unterrichtliche Ordnung herzustellen. Hierrunter versteht man wiederkehrende, interaktive Handlungsmuster, die die unterrichtliche Ordnung hervorbringen und festigen (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2010, S.120).

Dichte Beschreibung und analytische Dimensionierung

Die Situation

Die Beobachtung findet in einer jahrgangsübergreifenden Schuleingangsklasse statt, in der Kinder der ersten und zweiten Jahrgangsstufe gemeinsam unterrichtet werden. Aktuell findet Wechselunterricht statt, weshalb die Klasse gemäß der Jahrgangsstufen in zwei Lerngruppen geteilt ist. Die Lerngruppen werden tageweise abwechselnd in der Schule oder Zuhause unterrichtet. Zum Zeitpunkt der Beobachtung beginnt der Schultag der Erstklässler*innen in ihrem Klassenraum, der am Vortag von den Zweitklässler*innen der Klasse genutzt wurde. Zum Beobachten sitze ich hinten rechts in der Ecke des Klassenraumes an dem freien Tisch eines Zweitklässlers. Die Tür und das Waschbecken sind vorne in der rechten Ecke, die Fensterfront ist an der linken Seite des Raumes. Vorne befindet sich die Haupttafel und hinten gibt es eine weitere Tafel, an der der Tagesplan hängt. Die Tische stehen nach vorne ausgerichtet in Reihen, sowie je eine Reihe entlang der linken und rechten Wand. Es sitzen Erst- und Zweitklässler*in abwechselnd, so dass immer ein Platz zwischen den Kindern einer Lerngruppe frei bleibt. Die Klassentür ist geöffnet und alle Fenster sind gekippt. Obwohl gelüftet wird, ist es so warm im Klassenraum, dass ich keine Jacke benötige. Alle Personen tragen aufgrund der Coronaschutzregeln eine Maske. Die dichte Beschreibung der Beobachtung betrachtet die Handhygiene beim Eintritt in den Klassenraum und die ersten Minuten bis zum Beginn der Tagesplanvorstellung.

Dichte Beschreibung eines Unterrichtsbeginns einer ersten Schulstunde

  • Zuerst betritt die Lehrkraft den Raum, nimmt den Desinfektionsmittelspender von einem kleinen Tisch nahe der Tür und dreht sich zu den Kindern. Diese stehen in einer Zweierreihe auf dem Gang vor der Tür. Die ersten beiden Kinder bleiben im Türrahmen stehen und strecken ihre Hände zu einer Schüssel geformt nach vorne. Die Lehrkraft gibt jedem Kind einen Pumpstoß Desinfektionsmittel auf die entgegengestreckten Hände. Ein Großteil der Kinder geht händereibend und untereinander unterhaltend oder stillschweigend weiter zu den eigenen Plätzen. Manche Kinder wischen ihre Hände nur kurz aneinander oder schütteln sie nachdem sie an der Lehrkraft vorbei gegangen sind, statt das Desinfektionsmittel länger zu verreiben. Janosch und Ben1 biegen, als sie in der Tür stehen, zum Waschbecken neben der Tür ab. Anstatt zu desinfizieren, waschen sie nacheinander ihre Hände und gehen auch zu ihren Plätzen, während sie sich miteinander unterhalten. Die Klasse wirkt entspannt und es werden keine Fragen zum Ablauf an die Lehrkraft gerichtet. Jedes Kind nimmt zuerst seinen Stuhl vom Tisch und stellt seinen Ranzen neben oder hinter den eigenen Stuhl. Ein paar Kinder ziehen ihre Jacken aus und hängen sie über ihren oder den benachbarten leeren Stuhl. Drei lassen sie auf den Boden neben den Ranzen fallen. Viele Kinder stellen die Stühle der Sitznachbarn herunter, die heute im Distanzunterricht sind. Es herrscht ein allgemeines Gemurmel in der Klasse. Ich kann die einzelnen Gespräche nicht verstehen. Nachdem alle Kinder eingetreten sind schließt die Lehrkraft die Klassenzimmertür, geht vor die Tafel und sagt mit schweifendem Blick durch die Klasse: „So, dann zieht mal bitte alle eure Jacken aus“. Die meisten Kinder sitzen auf ihren Stühlen. Ein paar stehen neben oder vor ihren Stühlen und lehnen sich auf den Tisch. Ein Kind setzt sich schnell auf den eigenen Platz, als die Lehrkraft beginnt zu sprechen. Fast alle verbleibenden Kinder in einer Jacke, ziehen diese jetzt aus. Die Gespräche der Kinder untereinander werden weniger. Janosch, der in der ersten Reihe zwischen seinem Tisch und Stuhl steht, ruft mit Blick auf die Tafel: „Warum sind da so Zahlenhäuser?“ und zeigt auf die bunten Zahlenhäuser an der Tafel. Die Lehrkraft antwortet, dass diese die Zweitklässler*innen gestern gemacht hätten, die hätten nämlich auch Zahlenhäuser. Die meisten Kinder unterhalten sich nun nicht mehr, sondern schauen ruhig zur Lehrkraft. Die Lehrkraft blickt durch die Klasse und sagt „Ich wünsche euch einen guten Morgen!“. Alle Kinder schauen nach vorn, stellen ihre Gespräche ein und antworten leicht versetzt gemeinsam: „Guten Morgen alle zusammen“. Anschließend geht die Lehrkraft auf die andere Seite der Klasse, an welcher der Tagesplan hängt. Die Blicke der meisten Kinder folgen ihr. Olaf und Lisa reden kurz leise miteinander und schauen sich dabei gegenseitig an. Die Lehrkraft schaut auf die laminierten Karten des Tagesplans und anschließend in die Klasse. Das Gespräch der Kinder endet. Die Lehrkraft fragt: „Wer kann uns denn sagen, welcher Tag heute ist?“ Fünf Kinder melden sich.

Analytische Dimensionierung: Die Perspektive der „Kinder Akteur*innen“

In der folgenden Analyse soll der Blick auf das Handeln und die möglichen Motive der Akteur*innen in der Situation mit dem Schwerpunkt auf die Kinder als Akteur*innen gerichtet werden. Die Verwendung und Rolle, der Tür, des Sitzplatzes, der Stühle und Jacken, als Requisiten auf der Bühne des Klassenzimmers werden genauer betrachtet und mit den Erkenntnissen von Göhlich und Wagner-Willi verglichen (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.128ff.). Allgemein steht der Szenenwechsel von der Hinter- zur Vorderbühne im Zentrum der Analyse.

Die beschriebene Situation befindet sich in der Schwellenphase zwischen dem Treffen der Schüler*innen auf dem Schulhof und dem Beginn des Unterrichts. Die Beobachtung beginnt mit dem Eintritt der Lehrkraft in den Klassenraum. Die Lehrkraft betritt zuerst den Klassenraum und macht ihn damit zur Vorderbühne, mit dem Ziel die unterrichtliche Ordnung herzustellen (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.58). Hierbei wird die „Tür als Schwelle und Grenze“(Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.128) zwischen dem Gang und dem Klassenraum zu einem „rituellen Signal“ (Wagner-Willi, 2018, S.60), welches einen „Szenenwechsel“ (ebd.) ankündigt. Die Schüler*innen reagieren darauf, indem sie erste Praktiken zum Wechsel auf die von der Lehrkraft eröffneten Vorderbühne zur Herstellung der Unterrichtsbereitschaft durchführen, ohne dass die Lehrkraft diese explizit mündlich einfordert. Die Lehrkraft beginnt das Eintrittsritual der Schüler*innen, indem sie den Desinfektionsmittelspender in die Hand nimmt und sich mit diesem den Schüler*innen in der Tür zuwendet und verteilt. Hier findet die erste aktive Interaktion zwischen den Schüler*innen und der Lehrkraft statt. Die Situation an der Tür unterscheidet sich von den Beobachtungen von Göhlich und Wagner-Wille, denn die Türschwelle als Grenze wird durch die zum Coronaschutz vorgeschriebene Handhygiene und vorgegebene Abtrennung jeder Lerngruppe in der Schule wesentlich deutlicher markiert und eine Zutrittsvoraussetzung in Form der Handdesinfektion oder -wäsche geschaffen (vgl. Zeile 1-12 und Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.128ff.). Der Ablauf der Handhygiene wirkt wie ein Ritual, ist jedoch auf eine vom Bundesland vorgeschriebenen Regel zurückzuführen, demnach ist die Definition als Ritual umstritten (vgl. Rabenstein/Rehe, 2010, S.72). Das Durchschreiten der Tür löst seitens der Schüler*innen eine Abfolge von Handlungen aus.

Die meisten Kinder zeigen ein schulaffirmatives Verhalten, indem sie ihre Hände waschen oder das Desinfektionsmittel gründlich verreiben (vgl. Zeile 4-7) und anschließend ihre Unterrichtsbereitschaft herstellen, indem sie ihren „Arbeitsplatz“ an ihrem zugeteilten markierten Sitzplatz vorbereiten. Sie nehmen die Stühle von den Tischen herunter, um diese nutzen zu können, stellen ihren Ranzen in der Reichweite von ihrem Stuhl ab, ziehen ihre Jacken aus und hängen sie an ihren rituellen Platz. Dies ist der eigene Stuhl oder der freie des*der abwesenden Sitznachbar*in (vgl. Zeile 13-18; vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.156f., S. 161f. S.173f.). Mit diesem Verhalten zeigen die Schüler*innen, dass sie sich länger im Klassenraum aufhalten werden und signalisieren mit ihrem Arbeitsplatz und ihrer Kleidung eine hergestellte Unterrichtsbereitschaft (vgl. ebd. S.173f.). Janosch und Ben nutzen zudem ihre Partizipationsmöglichkeit, die ihnen die Lehrkraft auf der Vorderbühne gewährt, indem sie sich für das Händewaschen entscheiden und weichen dadurch gemeinsam als Peer von dem Verhalten der Klasse ab (vgl. Zeile 9-11).

In Zeile 7-9 wird eine bestehende Hinterbühne außerhalb des Sichtfeldes der Lehrkraft sichtbar, auf der manche Schüler*innen bewusst die geforderte Handhygiene unzureichend ausführen, indem sie das Desinfektionsmittel nicht ausreichend verreiben oder sogar abschütteln. Ob es sich um ein peerkulturelles Verhalten (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.61) handelt, lässt sich nicht nachvollziehen, denn bestehende Blickkontakte zu Peers oder die genaue Zugehörigkeit einer Peergroup wurde nicht ausreichend beobachtet.

Die Gespräche zwischen den Schüler*innen, welches auch als Gemurmel beschrieben wird, zeigt den Charakter der Schwellenphase, denn „das Ordnungssystem Unterricht hat noch keine Oberhand“ (Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S. 196). Gleichzeitig lässt sich aber „das Aktivitätssystem der Peergroup […] nicht ungebrochen fortsetzen“ (ebd.). Es entsteht das in der Einleitung beschriebene „Durcheinander“ (Wagner-Willi, 2018, S.59) während des Wechsels zwischen der Vorder- und Hinterbühne. Die Schüler*innen setzen ihre Gespräche mit ihren Peers von der Hinterbühne fort, während sie gleichzeitig ihre Bereitschaft für das Handeln auf der Vorderbühne vorbereiten. Die Trennung zwischen der Vorder- und Hinterbühne im Klassenraum wirkt unklar (vgl. Zeile 1-18).

Die Lehrkraft scheint ein zweites „rituelle[s] Signal“ (Wagner-Willi, 2018, S.60) zu setzen, indem sie die Tür schließt und ihre Position und Aufmerksamkeit von der Tür, vor die Tafel verlagert, den Schüler*innen zugewandt. Die Vorderbühne dehnt sich vom Türbereich auf den Klassenraum aus (vgl. Zeile 19-24). Die Schüler*innen reagieren auf die Ansprache und Aufmerksamkeit der Lehrkraft, indem sie die Gespräche mit ihren Peers teilweise einstellen und ihre von der Lehrkraft zugeschriebenen Sitzplätze einnehmen (vgl. Zeile 22f). Der Tafelbereich wird zur „Bühne institutioneller Autorität“ (Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.152) der Lehrkraft. Die Anweisung der Lehrkraft die Jacken auszuziehen zeigt, wie sie versucht die unterrichtliche Ordnung weiter herzustellen. Die Reaktion der Schüler*innen betont gleichzeitig ihre Weisungsbefugnis gegenüber der Schüler*innen. Das Anbehalten der Jacken von einzelnen Schüler*innen und erst verzögerte Ausziehen nach der Aufforderung durch die Lehrkraft deuten Göhlich und Wagner-Willi als „unterrichtsoppositionelles Ritual“ (ebd. S.176.), welches der Verzögerung des Unterrichtsbeginns dienen soll (vgl. Zeile 23f; und ebd.).

Janoschs Frage (vgl. Zeile 26) kann ebenfalls als Unterrichtsverzögerung gedeutet werden, zeigt aber auch, wie er seine Aufmerksamkeit von seiner Peergroup auf den Unterrichtsbeginn richtet, dabei aber noch nicht alle unterrichtlichen Normen der Vorderbühne erfüllt. Er richtet seine Frage an die Lehrkraft, die im Unterricht die erste Ansprechperson für Nachfragen ist, hält sich dabei allerdings nicht an die Regel sich zuvor zu melden. Die Lehrkraft beachtet diesen Regelverstoß nicht, sondern antwortet. Dies zeigt, dass für sie die Schwellenphase wahrscheinlich auch nicht als abgeschlossen gilt und somit noch nicht alle Regeln eingefordert werden. Janoschs Frage nach den Zahlenhäusern kann aus der„Unterrichtsperspektive“ (Heinzel, 2012, S.179) einerseits seine Neugierde auf den bevorstehenden Unterrichtsinhalt zeigen, andererseits aus der „Peerperspektive“ (ebd.) ein Interesse an den unterrichtlichen Aktivitäten der Schüler*innen seiner Peergroup aus der anderen Lerngruppe darstellen.

Die Begrüßung der Lehrkraft ist durch „Ich wünsche euch […]“ (Zeile 30) direkt an die Schüler*innengruppe gerichtet, kann jedoch universell für jede Gruppe vertrauter Personen verwendet werden. Die weitestgehend parallele Antwort der Schüler*innen hat eine doppelte Wirkung. „Guten Morgen alle zusammen“ (Zeile 32) antwortet sowohl der Lehrkraft und begrüßt gleichzeitig auch alle anderen Klassenmitglieder. Diese ritualisierte Formulierung der Begrüßung kann von der Lehrkraft der Herstellung der Unterrichtsgemeinschaft dienen (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S. 120), denn die Schüler*innen haben vermutlich ihre Peers in den Privatgesprächen zuvor begrüßt. Erst nach dem gemeinsamen Begrüßungsritual (vgl. Zeilen 30-32) scheint die Schwellenphase und das „Ordnungssystem Unterricht“ (Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.196) von den Schüler*innen akzeptiert zu sein, denn alle Schüler*innen richten ihre Aufmerksamkeit auf die Lehrkraft, reden nicht mehr mit ihren Peers, antworten gemeinsam auf ihre Begrüßung und folgen ruhig ihrem Gang durch die Klasse zu dem Tagesplan.

Während die Lehrkraft die Klasse durchquert, wechseln Olaf und Lisa nochmal kurz auf die Hinterbühne und folgen aus der Peerperspektive dem Drang sich nochmal außerunterrichtlich auszutauschen (vgl. Zeile 34-36 und Heinzel, 2012, S.179). Für Olaf und Lisa scheint die Schwellenphase nach der Begrüßung noch nicht abgeschlossen zu sein. Vermutlich reagieren sie darauf, dass die Lehrkraft die unterrichtliche Bühne vor der Tafel wechselt und währenddessen den Gang zwischen den Tischen nutzt, der nicht klar der Funktion des Unterrichtens zugeordnet ist (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.144ff.). Olaf und Lisa kehren auf die Vorderbühne zurück, nachdem die Lehrkraft wieder vor einer Tafel steht und das Ritual der Tagesvorstellung weiterführt (vgl. Zeile 36).

Fazit

In der Analyse wird das in der Einleitung beschriebene „Durcheinander“ (Wagner-Willi, 2018, S.59) in der Schwellenphase deutlich, denn die Handlungen der Akteur*innen beziehen sich teilweise gleichzeitig sowohl auf die Vorder- als auch auf die Hinterbühne. Göhlich und Wagner-Willi beschreiben die Schwellenphase als „durch Strukturschwäche charakterisiert“ (Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.196). Jedoch werden in der Analyse einige Rituale und ritualisierte Signale identifiziert, die die Frage aufwerfen, ob die Schwellenphase nicht einer eigenen Struktur zwischen der Vorder- und Hinterbühne unterliegt, nach dessen festen Normen die Schüler*innen und die Lehrkraft sich richten. Um dieser Vermutung nachzugehen sind jedoch weitere ethnographische Beobachtungen notwendig.

Das Verhalten der Schüler*innen und der Lehrkraft zu Unterrichtsbeginn ist stark von den zum Beobachtungszeitpunkt geltenden Coronaschutzmaßnahmen vorgegeben. Diesbezüglich wäre es interessant einen Vergleich ohne diese Maßnahmen mit der gesamten Klasse zu haben.

In der Analyse wird die Annahme bestätigt, dass der Unterrichtsbeginn erst handlungspraktisch erzeugt werden muss (vgl. Wolf, 2020, S.9). Außerdem wird anhand der Interpretation der Kinder als Akteur*innen sichtbar, dass dieser Beginn von den Schüler*innen zu unterschiedlichen Zeitpunkten innerhalb der Schwellenphase praktiziert wird. Die Schwellenphase wird abschließend von allen als beendet wahrgenommen, als die Lehrkraft nach den Tag fragt und somit den Unterricht dieser Stunde beginnt.

Rückblickend auf die gesamte Arbeit bleibt die Frage offen, die auch Forscher kritisieren, ob es mir als Erwachsenem hier gelingen kann die Perspektive der Kinder überhaupt angemessen zu rekonstruieren (vgl. Heinzel, 2012, S.180, angelehnt an Honig, 1999; Hülst 2000). Die Deutung des unterrichtsverzögernden Verhaltens einiger Kinder durch das Anbehalten der Jacken unterstellt den Schüler*innen ein absichtliches Verhalten (vgl. 2.3.). Dieses fällt mir jedoch nur auf, wenn ich zuerst aus einer Erwachsenenperspektive die Situation als problematisch identifiziere und dann nach möglichen Absichten der Kinder suche und ihnen diese dann begründet aus einer „Kinderperspektive“ unterstelle. Außer Betracht gelassen wird hierbei beispielsweise, dass es viele weitere Ursachen für das Verhalten geben kann, wie z.B. die Möglichkeit, dass der*die Erstklässler*in unbeabsichtigt vergessen hat die Jacke auszuziehen, oder es ihm*ihr kalt war. An diesem kurzen Beispiel wird deutlich, dass in der Analyse die Gefahr besteht Absichten zu pauschalisieren, die man aus einzelnen Beobachtungen schließt ohne die Möglichkeit zu haben, sie überprüfen zu können. Zusätzlich erschwert wird es dadurch, dass man als Erwachsener die Perspektive der Kinder auf den Unterricht nur hypothetisch einnehmen kann, dabei aber sehr wahrscheinlich zusätzlich die eigene Perspektive als Erwachsener mit einfließen lässt. Bereits mit der Beschreibung der Beobachtung ist die Situation einmal von mir als Erwachsenem interpretiert worden. Dieses Dilemma ist allerdings der verwendeten Methode geschuldet und könnte mittels einer Video- oder Tonaufnahme etwas abgeschwächt werden. Die Aufnahmen würden jedoch neue Verfälschungen zu Beginn der Beobachtung erzeugen (vgl. Schelle, 2018, S. 86).

Literaturverzeichnis

  • Göhlich, M.; Wagner-Willi, M. (2001): Rituelle Übergänge im Schulalltag – Zwischen Peergroup und Unterrichtsgemeinschaft. In Wulf, C. (Hrsg.): Das Soziale als Ritual – Zur performativen Bildung von Gemeinschaften (S. 118 -204). Opladen: Leske + Budrich.
  • Heinzel, F. (2012): Der Blick auf Kinder. In H. de Boer & S. Reh (Hrsg.): Beobachtungen in der Schule – Beobachten lernen (S. 173-188). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Rabenstein, K.; Rehe, S. (2010): Unterricht als Interaktion: Unterrichtsanfänge und das Setting der Institution und die Ordnung des Unterrichts. In Schelle, C.; Rabenstein, K.; Rehe, S.: Unterricht als Interaktion – Ein Fallbuch für die Lehrerbildung (S.71-98). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
  • Schelle, C. (2018): Unterricht anfangen. In M. Proske & K. Rabenstein (Hrsg.): Kompendium Qualitative Unterrichtsforschung: Unterricht beobachten – beschreiben – rekonstruieren (S. 85-102). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
  • Wagner-Willi, M. (2018): Rituelle Praktiken auf den schulischen Vorder- und Hinterbühnen. In J. Brühlmann & D. Conversano (Hrsg.): Rituale an Schulen: wirksam und unterschätzt (S. 58-63). Zürich: LCH.
  • Wolf, E. (2020): Unterrichtsbeginn – Zur Entzauberung des Anfangs. In: falltiefen – Beiträge aus der kasuistischen Lehrerbildung am Institut für Erziehungswissenschaft, 06/2020, (S. 7- 15). Hannover: Institut für Erziehungswissenschaft der Leibniz Universität Hannover.

Die Perspektive der „Kinder-AkteurInnen“ – Wie zeigt sich Peerverhalten während des Unterrichts? (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Inhalt

  • Einleitung
  • Methodische Vorgehensweise
    • Ethnographische Forschungsmethode
    • Die Rolle als Forscher im Feld
    • Reaktionen des Feldes
  • Beschreibung der Lernkultur
  • Die Beobachtungen
    • Situation 1
    • Dichte Beschreibung
    • Analytische Dimensionierung
    • Situation 2
    • Dichte Beschreibung
    • Analytische Dimensionierung
  • Fazit
  • Literatur

Einleitung

In der Schule werden Kinder und Jugendliche im gleichen Alter über einen langen Zeitraum zu Gruppen formiert. Durch den täglichen Kontakt entstehen und entwickeln sich Peerkulturen, deren Praktiken Schule und Unterricht bedingen (vgl. Otto 2015, S. 27). Zschach, Zitzke und Schirner (vgl. 2010, S. 105) stellen heraus, dass Schule grundsätzlich positiv bewertet wird als Raum für Peerkontakte. Am Lernort Schule entstehen Freundschaften und Interaktionen mit Gleichaltrigen, weshalb diesem Ort eine hohe Bedeutung in diesem Kontext beigemessen wird. Die Zugehörigkeit zu funktionierenden Gleichaltrigengruppen und einer Klassengemeinschaft gilt als die wichtigste Schulerfahrung der jungen Lerner1. Dabei kann die innerschulische Interaktion der Peers mit der schulischen Ordnung in ein Spannungsverhältnis geraten. Häufig entwickeln die Gleichaltrigen mit der Schule divergierende soziale Normen und Verhaltenserwartungen (vgl. ebd., S. 106). Schüler bewegen sich deshalb ständig in einem Balanceakt zwischen der Doppelrolle des Schülers und des Peers (vgl. Otto 2015, S. 27).

Peerverhalten wirkt sich im zunehmenden Alter immer mehr auf das Unterrichtsgeschehen aus. Auch Grundschüler legen bereits viel Wert auf die Meinung ihrer Peergroup und passen ihr Verhalten häufig an die Erwartungen ihrer Freunde an. Deshalb macht sich Peerverhalten nicht nur in Pausenzeiten bemerkbar, sondern findet die Kommunikation mit den Peers und die Anpassung an die Verhaltenserwartungen der Gleichaltrigen auch innerhalb des Unterrichts statt (vgl. Zschach et al. 2010, S. 106ff.).

Wagner-Willi (vgl. 2018, S. 58) beschreibt den Lernort Schule als eine öffentliche Bühne, auf der Praktiken teilweise auf Vorder- oder Hinterbühnen stattfinden. So ordnet sie beispielsweise das Schulzimmer zu Unterrichtszeiten eher der Vorderbühne zu, wobei auch diese zur Hinterbühne werden kann, wenn Schülerhandlungen unbemerkt bleiben oder die Lehrkraft den Raum verlässt. Toilettengänge oder Aktivitäten in Pausen hingegen finden überwiegend auf der Hinterbühne statt und bleiben ungesehen. Dort können sich „Subkulturen entfalten […] oder auch Unterrichtssituationen vorbereitet und verarbeitet werden […]“ (ebd., S. 58). Wagner-Willi führt weiterhin auf, dass etablierte Unterrichtssituationen durch peerkulturelle Rahmungen, welche auf der Vor- oder der Hinterbühne stattfinden können, zu Umgestaltungen führen können (vgl. ebd., S. 61).

Die im Rahmen meines Studienprojektes verfasste Seminararbeit setzt sich aus den oben aufgeführten Gründen mit Peerverhalten während der Unterrichtszeiten auseinander und legt den Schwerpunkt auf die Fragestellung, inwiefern sich Peerverhalten während des Unterrichts zeigt. Zunächst wird die methodische Vorgehensweise erläutert, wobei sowohl die ethnographische Forschungsmethode als auch die Rolle des Forschers im Feld vorgestellt wird. Außerdem wird auf die Reaktion der kindlichen Akteure eingegangen. Im Anschluss daran folgt die Vorstellung der Lernkultur der beobachteten Klasse. Danach werden zwei dichte Beschreibungen aufgeführt, welche analytisch dimensioniert werden. Am Ende wird ein Fazit gezogen, welches einen kurzen Ausblick inkludiert.

2 Methodische Vorgehensweise

2.1 Ethnographische Forschungsmethode

Der Unterrichtsalltag lässt sich durch die Ethnographie, welche eine sozial- wissenschaftliche Forschungsstrategie darstellt, untersuchen. Ethnographische Forschung findet sowohl in der Erziehungswissenschaft als auch in der Unterrichtsforschung zunehmend Anwendung (vgl. Breidenstein 2012, S. 27f.). Ihren Ursprung hat die Ethnographie in der wissenschaftlichen Disziplin der Ethnologie, welche ihren Interessensschwerpunkt auf fremde Länder und Kulturen legt. Ziele der Ethnologie liegen darin, dass der Forscher das für ihn fremde Land bereist, sich in die Kultur einlebt und versucht, diese vorerst fremde Lebensweise zu verstehen (vgl. ebd., S. 27ff.). Die Sicht und Perspektive der Einheimischen sollte dabei vordergründig erfasst und rekonstruiert werden. Dabei sollte der Forscher keine eigenen Werturteile und Erklärungen an das einheimische Volk herantragen, sondern gilt dabei die Distanzgewinnung zu den etablierten Gewissheiten der eigenen Kultur (vgl. ebd., S. 29).

Der schulische Kontext scheint auf den ersten Blick zunächst ungeeignet für die oben beschriebene ethnographische Forschungsmethode, da das Umfeld Schule für den Forscher weniger eine fremde Welt, sondern vielmehr ein vertrautes Erfahrungsfeld ist (vgl. ebd., S. 29f.). Amann und Hirschauer entwickelten jedoch das methodologische Programm „Befremdung der eigenen Kultur“. Dabei geht es nicht darum, sich dem Fremden zu widmen, sondern „[…] ein neues, befremdetes Verhältnis zu dem (scheinbar) Bekannten und (allzu) Selbstverständlichen einzunehmen […]“ (ebd., S. 30). Demnach sollte der Forscher einen neuen Blick auf Gewohnheiten des eigenen Alltags erlangen.

Ethnographische Forschung zielt also darauf ab, alltägliche, selbstverständlich erscheinende Situationen aus einem fremden Blickwinkel zu betrachten. Dafür ist eine forschend-distanzierte Grundhaltung seitens des Forschers erforderlich (vgl. Lindner und Rosenberger 2019, S. 63). Methodisch wird sich dabei vor allem der teilnehmenden Beobachtung bedient (vgl. Breidenstein 2012, S. 27). Der Ethnograph beobachtet das Unterrichtsgeschehen möglichst objektiv, mit dem Interesse an einer präzisen und verallgemeinerungsfähigen Beschreibung (vgl. ebd. S. 31). Während der Beobachtung werden möglichst viele Notizen angefertigt, welche unmittelbar im Anschluss zu dichten Beschreibungen ausgearbeitet werden. Die Beobachtungen werden demnach in Sprache überführt, damit auch Außenstehenden die Situation nachvollziehbar erscheinen kann. Gleichzeitig ermöglicht die Verschriftlichung Distanzierung und Befremdung, indem das Geschehene in Zeitlupe genauer betrachtet wird (vgl. ebd., S. 32). Dabei sollte dem Forscher bewusst sein, dass die Verschriftlichung von Beobachtungen eine sprachliche Erschließung darstellt und somit bereits Deutungen und möglicherweise subjektive Verzerrungen enthält (vgl. Lindner und Rosenberger 2019, S. 63f.).

Das schulische Umfeld wird also insgesamt zu einem Entdeckungsfeld, wobei die Mikrostrukturen des sozialen Geschehens vordergründig sein sollen. Ethnographische Forschung ist um das wissenschaftlich begründete Verstehen-Lernen des gemeinsam hervorgebrachten Alltags mit all seinen Routinen und Ordnungen bemüht (vgl. Wiesemann 2011, S. 167f.). Diese Regeln und Strukturen des alltäglichen Handelns sind den Akteuren häufig nicht bewusst, auch wenn sie das Miteinander im Schulalltag unterbewusst organisieren. Der Forscher beabsichtigt, die Akteure dabei zu beobachten, wie sie ihre Handlungen aufeinander beziehen und gemeinsam den schulischen Alltag bewältigen (vgl. ebd., S. 169). Eine intensive Beobachtung lässt sich nur dann tätigen, wenn die Langfristigkeit der Teilnahme seitens des Forschers gegeben ist. Die Beobachterrolle setzt Vertrauen seitens der Lehrkraft und der Schüler voraus, damit Unterrichtssituationen möglichst unauffällig und unaufdringlich beobachtet werden können. Da viele Merkmale und Details erst nach einigen Anläufen entdeckt werden und sich auch das Vertrauen der T eilnehmer immer weiter ausbaut, sollte der Forscher ausreichend Zeit für seine ethnographische Erhebung einplanen (vgl. Breidenstein 2012, S. 31f.).

Die Rolle als Forscher im Feld

Der Forscher muss eine forschend-distanzierte Haltung einnehmen, da die verschiedenen Sinnebenen schulischer Phänomene nur dann sichtbar werden können. Spezifisches Alltagswissen oder Vorwissen über einzelne Schüler sollte bei der Beobachtung daher unbedingt ausgeblendet werden (vgl. Lindner und Rosenberger 2019, S. 64). Der Forscher muss um einen Rückzug aus dem Geschehen bemüht sein, welcher der eigentlichen Rolle als Praktikant gegenübersteht. Normalerweise signalisieren Praktikanten gegenüber Schülern und Lehrern stets ihre Hilfsbereitschaft und Eigeninitiative. Als ethnographischer Forscher jedoch sollte man während der Beobachtungen darum bemüht sein, nicht in die Handlungen einbezogen zu werden und möglichst einen objektiven, unvoreingenommenen Blick auf das Gesamtgeschehen zu haben (vgl. ebd., S. 64f.). Gleichzeitig kann sich das durch den Praktikantenstatus bereits bestehende Vertrauensverhältnis jedoch auch positiv auf die Forschung auswirken. Als fester Bestandteil des Schulalltags der Kinder wird meine Anwesenheit von den Schülern nicht hinterfragt und akzeptiert, sodass ich mich direkt im Forschungsfeld befinde. Die Schüler erhielten genügend Zeit, mich als Praktikantin kennenzulernen, weshalb sie Hemmungen und mögliche Ängste bereits ablegen konnten.

Reaktionen des Feldes

Zu Beginn gestaltete es sich schwierig, Freiräume zu schaffen, in denen man nicht in das Unterrichtsgeschehen integriert wurde. Mir war bewusst, dass die Qualität der teilnehmenden Beobachtung nachlässt, wenn ich zeitgleich Aufgaben von Kindern kontrolliere oder Hilfestellungen anbiete. Auch wenn ich der Lehrkraft vorher mitteilte, dass ich mich für Beobachtungen aus dem Geschehen zurückziehen werde, gab es immer wieder Schüler, die meine Hilfe einforderten oder die kurzzeitig ihren Platz verließen, um mich gezielt anzusprechen. Es herrschte Unverständnis darüber, warum ich nicht wie gewohnt als Ansprechpartner und Unterstützer zur Seite stehe. Mein Rückzug wurde weiterhin dadurch erschwert, dass mein Beobachterplatz der gleiche Sitzplatz vorne im Klassenraum war, den ich auch in meiner Praktikantenrolle einnahm. Von dort konnten mich die Schüler sehen und teilweise einsehen, wenn ich Notizen anfertigte. Dennoch war ich stets bemüht darum, Notizen unbemerkt zu machen. Durch die anfänglichen Schwierigkeiten waren meine ersten Beobachtungen unbrauchbar. Ich wurde häufig abgelenkt und konnte mich nicht auf das Beobachten und Beschreiben fokussieren.

Ich entschied mich schließlich dafür, immer wieder kleinere Sequenzen von Unterrichtsgesprächen gezielt zu beobachten, da die Schüler mich in diesen Momenten am wenigstens wahrnahmen. Während die Lehrkraft Erklärungen anführte nahm ich generell meinen Sitzplatz vorne ein, sodass dies nicht ungewöhnlich für die Klasse war. Die meisten Kinder fokussierten die Lehrkraft und die Beiträge der Mitschüler und bemerkten die Anfertigung meiner Notizen deshalb nicht.

Beschreibung der Lernkultur

Die ethnographische Forschung wurde im Rahmen des Praxissemesters an einer kleinen Verbundgrundschule durchgeführt. Der Teilstandort beinhaltet lediglich vier Klassen (einzügig), die von etwa sechs Lehrkräften unterrichtet werden. Das Schulgebäude ist auf acht Klassen ausgelegt, sodass momentan jede Klasse einen eigenen Nebenraum hat, in dem bei Bedarf kleinere Schülergruppen arbeiten können. Eine Besonderheit der Schule ist es, dass die Klassen 1 und 2 jahrgangsübergreifend unterrichtet werden, sodass es zwei Klassen mit Erst- und Zweitklässlern gibt. In diesen Klassen wird das Voneinander Lernen durch ein Helfersystem besonders gefördert. Kinder, die Unterstützung benötigen oder eine Frage zu einer Aufgabe haben sollen zunächst ihren Sitznachbarn oder ein besonders schnelles Kind um Rat fragen, bevor sie die Hilfe der Lehrkraft einfordern. In der dritten Klasse vereinen sich schließlich die ehemaligen Zweitklässler, sodass eine neue Klassenkonstellation entsteht. Die Kinder werden jedoch auch in der zweiten Klasse bereits aneinander gewöhnt, indem der Englisch- und der Musikunterricht mit allen Zweitklässlern (getrennt von den Erstklässlern) gemeinsam stattfindet. Mein Praktikum absolvierte ich zum Großteil in einer dritten Klasse, welche aus 23 Schülern bestand. Seit Beginn der Coronapandemie wird in dieser Klasse überwiegend Wochenplanarbeit durchgeführt. Die Kinder erhalten montags ihren Arbeitsplan für die gesamte Schulwoche. Dort wird kenntlich gemacht, welche Aufgaben an welchem Tag erledigt werden sollten. Aufgaben, die am Schultag nicht erledigt wurden, müssen im Nachmittagsbereich als Hausaufgabe gemacht werden. Manche Kinder erhalten Zusatzaufgaben, die auf Freiwilligkeit beruhen und über das normale Pensum hinausgehen. Außerdem gibt es hinten im Klassenraum Ablagefächer, in denen zusätzliche Aufgaben für Mathe und Deutsch, unterteilt in leichtere (Symbol einer Feder) und schwierigere Aufgaben (Symbol eines Gewichts), ausliegen. Der Beginn einer Unterrichtsstunde erfolgt meist gemeinsam im Plenum. Es werden für die Aufgaben relevante Grundlagen eingeführt oder wiederholt. Nur selten werden Inhalte am Ende der Stunde reflektiert. Die Stunde wird von der Lehrkraft durch ein Klangsignal beendet, welches den Kindern verdeutlicht, dass die Aufgaben weggepackt werden sollen und eine neue Unterrichtsstunde beginnt. Es bedarf dabei nur selten einer zusätzlichen Aufforderung.

Der Beginn meines Praxissemesters war von Wechselunterricht geprägt, sodass immer nur die halbe Klassenstärke anwesend war und jeder Tisch nur von einem Kind besetzt wurde. Viele Kinder konnten sich deshalb monatelang nicht sehen im schulischen Kontext. Die letzten zwei Wochen vor meinen getätigten Beobachtungen fand schließlich wieder Präsenzunterricht für alle Schüler statt. Generell herrscht eine rege Beteiligung am Unterrichtsgeschehen. Es gibt nur wenige Kinder, die sich bei Gesprächen gerne zurückziehen. Alle Kinder können sich der deutschen Sprache sowohl mündlich als auch im Schriftbild ausreichend bedienen. Nur wenige Kinder weisen einen Förderbedarf auf.

Coronabedingt finden keine Gespräche im Sitzkreis statt, sondern erfolgt der Unterricht lediglich frontal und überwiegend in Einzelarbeit. Es werden jedoch immer wieder Partnerarbeitsaufträge erteilt, damit die Kinder auch ohne Anleitung in den Austausch geraten. Die Tische sind alle frontal zu der Lehrkraft ausgerichtet. Es ergeben sich insgesamt vier Tischreihen, wobei immer drei Tische hintereinander angeordnet sind.

Die Beobachtungen

Bei den Beobachtungen handelt es sich aufgrund der begrenzten Wörteranzahl nur um Ausschnitte aus dem Gesamtgeschehen. Die Namen der Kinder wurden anonymisiert.

Situation 1

Ich befinde mich vorne im Klassenraum der dritten Klasse (alle 23 Kinder anwesend) an einem Einzeltisch, der unmittelbar neben dem Lehrerpult steht. Ich habe meinen Notizblock sowie mein Mäppchen mit Stiften vor mir auf dem Tisch liegen. Den Kindern habe ich zu Tagesbeginn mitgeteilt, dass ich an diesem Tag Korrekturen für die Lehrkraft vornehme und mich weitestgehend aus dem Unterrichtsgeschehen zurückziehe. Daher wurde mir auch in der ersten Unterrichtsstunde wenig Aufmerksamkeit geschenkt und ich konnte bereits unauffällig Beobachtungen vornehmen und Notizen dazu anfertigen.

Die Kinder sitzen alle an ihren Zweiertischen, die frontal nach vorne gerichtet sind. Lediglich ein Kind sitzt vorne an einem Einzeltisch. In der ersten Unterrichtsstunde handelte es sich um eine Mathematikstunde, welcher der Morgenkreis vorangestellt wurde. Um 08:30 Uhr beginnt die Deutschstunde. Die Schüler werden pünktlich um diese Uhrzeit durch ein Klangsignal dazu aufgefordert, ihre Mathematiksachen von den Tischen zu räumen und die Deutschunterlagen bereit zu legen. Dieser Vorgang läuft ritualisiert ab und bedarf keiner weiteren Aufforderung. Die Lehrkraft wartet ab, bis dies von allen Schülern erledigt ist und die Klasse die Aufmerksamkeit nach vorne richtet. Dieser Vorgang dauert etwa drei Minuten. Danach kehrt Ruhe ein und der Beobachtungszeitraum beginnt. Er erstreckt sich von 08:33 bis 08:40 Uhr.

Dichte Beschreibung

Aus den folgenden dichten Beschreibungen werden nur die Analysepunkte hervorgehoben, die mir für die Beantwortung meiner Forschungsfrage bedeutsam erscheinen.

Die Lehrkraft klappt die zuvor vorbereitete Tafel auf. Sie stellt sich mit verschränkten Armen seitlich neben die Tafel und fragt, wer den Satz an der Tafel vorlesen kann. Nina, Mona, Maja, Ina, Julia und Lina strecken ihren Arm in die Höhe. Ina dreht sich dabei um und schaut zunächst in Richtung von Nina, dann wendet sie ihren Blick Mona zu. Luca wackelt mit seinen Beinen und richtet seinen Blick auf den Tisch vor ihm. Benedikt spielt mit zwei Stiften. Als er die Lehrkraft ansieht, legt er die Stifte in seine Mappe. Lisa dreht mit ihrem rechten Zeigefinger eine Haarsträhne. Sina schreibt einen Satz auf einen kleinen Zettel. Als Adrian den Satz auf Sinas Zettel zu lesen versucht, hält diese die Hand davor.

Die Lehrkraft schaut durch die Klasse und wählt Lina aus, die den Satz an der Tafel mit lauter und deutlicher Stimme vorliest. Die Lehrkraft fragt daraufhin, wie viele Satzglieder der Satz an der Tafel beinhaltet. Es entsteht eine kurze Pause von ca. 30 Sekunden. Manche Kinder schauen sich zu ihren Mitschülern um. Olaf meldet sich schließlich und sagt mit leiser Stimme: „Drei?“ Er legt den Kopf dabei schief. Die Lehrkraft nickt und erfragt die einzelnen Satzglieder: „Mit welcher Frage fragt man nach dem Subjekt in diesem Satz?“ Nina meldet sich nach ca. zwei Sekunden und sagt in einer ruhigen und sicheren Stimmlage die passende Subjektfrage. Nina schaut kurz in Monas Richtung, welche ihr einen hochzeigenden Daumen entgegenstreckt. Die Lehrkraft wendet sich der Tafel zu, an der sie die passende Frage verschriftlicht. Während sie sich von der Klasse abwendet, schreibt Sina erneut ein paar Wörter auf ihren kleinen Zettel. Adrian lehnt sich zurück und blickt dabei auf den kleinen Zettel. Sina zieht ihre Stirn kraus, setzt einen auf mich ernst wirkenden Blick auf, mit welchem sie Adrian fixiert und sagt leise: „Adrian, das geht dich nichts an.“ Anschließend knüllt sie den Zettel zusammen und legt ihn mit ihrer Hand unter ihrem Tisch auf dem Schoß ab.

Luca dreht sich kurz zu Sina um, richtet seinen Blick aber dann wieder nach vorne als die Lehrkraft zu der Klasse gewandt wissen möchte, wie man das nächste Satzglied erfragt. Maja meldet sich etwas zögerlich. Sie sagt, dass sie sich nicht sicher sei und äußert ihre Vermutung. Als die Lehrkraft mit einem Lächeln ruft: „Genau richtig!“, nimmt Maja eine entspannte Sitzhaltung ein. Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. Die Lehrkraft schreibt auch diese Frage mit farblichen Markierungen und Einkreisungen an die Tafel. Sina ruft leise: „Jasmin!“ Diese lässt die Schultern hängen und fragt auf mich genervt wirkend: „Was ist?“ Sina schaut sich kurz nach links und rechts um, dann übergibt sie ihr den kleinen Zettel mit dem Zusatz, dass der Zettel für Nina sei. Jasmin versteckt den Zettel schnell in ihrer Mappe als die Lehrkraft noch eine kurze Rückfrage stellt. Sie wackelt dabei mit den Beinen. Olaf tippt Jasmin auf den Rücken und flüstert kaum hörbar: „Jetzt, schnell.“ Jasmin blickt zu der Lehrkraft, welche noch den Satz zu Ende schreibt. Danach überreicht sie den Zettel Olaf. Sina, die das mit ihren Blicken mitverfolgt, flüstert: „Der ist nicht für dich.“ Olaf lässt dies unkommentiert und reicht den Zettel zu Mona. Diese schenkt dem Zettel zunächst keine Beachtung und streckt ihren Arm in die Höhe. Die Lehrkraft dreht sich um und sagt mit lauter Stimme: „Das ist mir zu laut hier. Sobald ich mich der Tafel zuwende, höre ich nur Gemurmel!“ Als die Lehrkraft Monas Meldung sieht fragt sie: „Hast du eine Frage oder möchtest du das letzte Satzglied bestimmen?“ Mona stellt ihre Frage, welche die Lehrkraft an die Klasse weitergibt. Sie fordert Mona dazu auf, selbst ein Kind dranzunehmen, welches die Frage beantworten darf. Ina, Julia und Anton melden sich. Mona schaut kurz zu allen drei Kindern, entscheidet sich dann für Julia.

Sina schaut sich währenddessen mit den Beinen wippend zu mehreren Kindern um. Jasmin wendet sich ihr zu und zuckt mit den Schultern. Die Lehrkraft spricht Sina an: „Sina, ist irgendwas?“ Diese zuckt zusammen und winkt kurz angebunden ab. Sie setzt sich auf ihre Hände und lehnt sich gegen die Stuhllehne. Das Unterrichtsgeschehen wird weiter fortgeführt. Es werden noch ein paar farbliche Einkreisungen von der Lehrkraft an der Tafel vorgenommen. Olaf stößt Mona mit dem Ellenbogen in die Seite. Diese wendet sich ihm zu, verdreht die Augen und legt den kleinen Zettel auf den Tisch von Nina und Lennox. Lennox guckt auf mich ratlos wirkend auf den Zettel, auf dem der Name von Nina steht. Er zeigt mit einem Finger auf den Zettel und guckt dabei in Ninas Richtung. Diese greift nach dem Zettel und guckt sich gleichzeitig in der Klasse um. Als die Lehrkraft sieht, dass Nina etwas in der Hand hält, sagt sie: „Egal was das ist, pack es bitte weg.“ Nina folgt der Anweisung, legt den Zettel in ihre Mappe und macht den Reißverschluss zu. Der Blickkontakt zwischen den Akteuren bricht ab. Sina nimmt eine aufrechte Körperhaltung ein, legt ihre Hände auf dem Tisch ab und richtet ihren Blick auf die Lehrkraft.

Analytische Dimensionierung

Es ist möglich, dass sich Ina während des Meldens zu Nina und Marie umdreht, um zu schauen, ob diese ebenfalls für die Beantwortung der Frage aufzeigen. Die drei Mädchen verbindet eine enge Freundschaft. Während meiner ethnographischen Forschung ist mir immer wieder aufgefallen, dass die Beteiligung am Unterrichtsgeschehen für diese Peergroup eine große Bedeutung hat. Auch Noten und Rückmeldungen durch die Lehrkraft spielen häufig eine Rolle. In den Momenten des Blickkontaktes verständigen sich die drei Mädchen auf Peerebene. Durch das Aufzeigen sichern sie sich womöglich ihren Status innerhalb der Gruppe (vgl. Zschach et al. 2010, S. 108). Die passende Antwort, die Nina auf die Frage der Lehrkraft anbringt, wird von Mona durch einen hochzeigenden Daumen wertgeschätzt. Nina nimmt nach ihrer Antwort direkt den Blickkontakt zu Mona auf, was darauf hindeuten könnte, dass ihr die Anerkennung durch ihre Peers wichtig ist. Als Mona schließlich eine Rückfrage zu unterrichtlichen Themen hat, darf sie selbst einen Schüler für die Beantwortung auswählen. Sie entscheidet sich für ein Kind außerhalb ihrer Peergroup. Eine mögliche Begründung dafür wäre, dass sie ihren eigenen Status innerhalb der Gruppe nicht herabsetzen möchte.

Ein weiteres Kommunikationsmedium auf Peerebene ist das Schreiben von kleinen Briefchen, welches für Schüler häufig eine große Bedeutung hat. Sie treten damit während des Unterrichts in Kontakt zu ihren Peers, wodurch eine Praxis zwischen Peer- und Schülerkultur entsteht (vgl. Bennewitz 2009, S. 119). Die schriftliche Kommunikation bietet den Schülern den Vorteil, dass auch Kinder, die weit entfernt voneinander sitzen, miteinander kommunizieren können (vgl. ebd., S. 122). Außerdem hat das Schreiben am Lernort Schule einen hohen Stellenwert, da diese zentrale Kulturtechnik dort erlernt wird (vgl. ebd., S. 121). Unterrichtliche Anforderungen, wie die Beteiligung an Gesprächen oder das aufmerksame Zuhören, werden für die involvierten Schüler häufig zu einer Nebensache (vgl. ebd., S. 123). Das Geschehen bleibt zunächst unbemerkt und findet auf der Hinterbühne statt. Inoffizielle Peeraktivitäten bilden eine Antistruktur zu der Vorderbühne Unterricht, da die Erwartungen an die Schülerrolle im Kontrast du denen der Peergroup stehen (vgl. Wagner-Willi 2018, S. 61f.). Es besteht außerdem durchgehend die Gefahr entdeckt zu werden, was das Zetteln jedoch für viele Schüler noch interessanter und aufregender macht (vgl. Bennewitz 2009, S. 123). Sina nutzt die bei den Kindern weit verbreitete unterrichtliche Praktik des Briefchenschreibens. In der Beobachtung stellt sich heraus, dass der Zettel an ihre Freundin Nina adressiert ist. Das Zettelschreiben über die räumliche Distanz kann auch als Beziehungszeichen gesehen werden, welches vor der Klasse öffentlich gezeigt wird (vgl. ebd., S. 124f.). Das Zetteln stellt eine intime Kommunikation zwischen den Schreibenden dar, es schließt Dritte bewusst aus und hierarchisiert das Beziehungsgepflecht (vgl. ebd., S. 126).

Sina verhindert mit ihrer Hand, dass Adrian den von ihr verfassten Zettel lesen kann. Eine mögliche Begründung dafür wäre, dass es sich um ein privates Anliegen handelt, welches Sina nicht mit Adrian teilen möchte. Es könnte allerdings auch sein, dass Sina dadurch lediglich noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte oder sie einfach einen geheimnisvollen Akt vollziehen möchte. Adrian richtet seinen Blick weiterhin auf den Zettel. Es könnte sein, dass dies bei ihm zu einer Ablenkung von dem Unterrichtsgeschehen führt, wodurch seine Schülerrolle in den Hintergrund geraten würde. Auch wenn das Zetteln bereits bekannt ist in der beobachteten Klasse, liegt in dieser Praktik immer wieder etwas Geheimnisvolles, das für das Publikum attraktiv ist. Es weckt den Anreiz erkennen zu wollen, was dort niedergeschrieben wurde (vgl. ebd., S. 126). Sina schreibt und verschickt häufiger Zettelchen während des Unterrichts, was vermuten lässt, dass ihr die erzeugte Aufmerksamkeit bei den Mitschülern durchaus bewusst ist. Sina nutzt die Momente aus, in denen die Lehrkraft der Klasse den Rücken zukehrt, was darauf hindeuten könnte, dass sie nicht von ihr entdeckt werden möchte (vgl. ebd., S. 127). Als sie bemerkt, dass Adrian erneut einen Blick auf den Zettel werfen möchte, verbalisiert sie ihm klar, dass der Zettel nicht an ihn adressiert ist und sie ihm keine Einsicht gewähren möchte. Möglicherweise liegt es daran, dass die beiden Kinder unterschiedlichen Freundeskreisen angehören, die auch in Pausenzeiten häufig den Kontakt meiden. Es besteht kein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Sina und Adrian. Eine weitere mögliche Erklärung für Sinas Verhalten wäre, dass sie weiterhin das Interesse von Adrian auf sich und den Zettel richten möchte, welches eventuell verloren gehen würde, wenn er den Inhalt des Zettels kennen würde.

Dass sich das Geschehen auf der Hinterbühne abspielt wird erneut deutlich, als sich die Lehrkraft der Klasse zuwendet und Sina den Zettel in ihrer Hand versteckt. Die Tarnung, Verhüllung und das Verstecken sind feste Bestandteile der Zettelpraktik. Dadurch wird dem Verfasser sowie auch dem Publikum ein Beleg für die geheimnisvolle Bedeutung geliefert (vgl. ebd., S. 127).

Luca dreht sich neugierig wirkend zu den Akteuren um, was darauf hindeuten könnte, dass er inzwischen auf das Briefchenschreiben aufmerksam geworden ist. Zettelaktivitäten geben den Kindern häufig Hinweise über aktuelle Beziehungskonstellationen, wodurch auch das Interesse von Außenstehenden schnell geweckt wird (vgl. ebd., S. 125). Das nicht-involvierte Publikum erfüllt die Aufgabe, überhaupt erst Gemeinschaft inszenieren zu können (vgl. ebd., S. 127).

Neue Situationen entstehen dann, wenn Zuschauer zu Akteuren werden. Zu der Praktik des Zettelns gehört neben dem Schreiben bei längeren Wegen auch die Weitergabe durch die Mitschüler, die dadurch zu Boten werden (vgl. ebd., S. 125). Sie erhalten damit eine verantwortungsvolle Aufgabe, die für das Gelingen entscheidend ist. Die Weitergabe der Zettelchen ist für viele Kinder ein Zeichen dafür, dass sie Teil der Klassengemeinschaft sind. Durch die wiederholte Ausführung der gemeinsamen Handlungsgepflogenheiten bilden sich soziale Praktiken (vgl. ebd., S. 120).

Jasmins Reaktion lässt vermuten, dass sie sich nicht gerne an der Praktik des Zettelns beteiligen möchte (siehe Beobachtung: „Diese lässt die Schultern hängen und fragt auf mich genervt wirkend: „Was ist?“). Ihre Stimmlage lässt mutmaßen, dass sie genervt ist, dennoch gibt sie den Zettel weiter. Die Peers können sich der Aufforderung, einen Brief weiterzugeben, nicht entziehen. Kinder, die auf dem Postweg sitzen, müssen die Aufgabe annehmen und sich dem Risiko, entdeckt zu werden aussetzen. Dafür müssen eigene Aktivitäten möglicherweise unterbrochen werden. Postboten sind zwar durch die Weiterleitung aktiv eingebunden, gehören aber dennoch nicht der Gemeinschaft der Zettelnden an. Eine Verweigerung der Weitergabe könnte einen Imageschaden zur Folge haben (vgl. ebd., S. 127). Jasmins Verhalten deutet darauf hin, dass sie nicht aus der Klassengemeinschaft ausgeschlossen werden möchte (vgl. ebd., S. 127). Sie passt sich an die Verhaltenserwartungen ihrer Mitschülerin an, wodurch die Schülerrolle kurzzeitig in den Hintergrund gerät. Jasmin hält sich an die Spielregel, den Brief entweder während einer unruhigen Phase oder wenn die Lehrkraft abgelenkt ist, weiterzugeben (vgl. ebd., S. 130). Olaf, der das Zetteln von hinten zu verfolgen scheint, fordert sie dazu auf, den Zettel weiterzureichen. Olaf tritt als pflichtbewusster Bote auf, dem die peerkulturelle Praktik vermutlich wichtig erscheint. Er leitet den Zettel direkt weiter, ohne die Lehrkraft dabei im Blick zu halten. Es wird deutlich, dass für ihn die Zugehörigkeit zu der Klassengemeinschaft eine große Rolle spielen könnte und dem Unterrichtsgeschehen in dem Moment vorangestellt wird. Alternative Erklärungen für Olafs Verhalten könnten sein, dass er lediglich daran interessiert ist, den Empfänger ausfindig zu machen oder dass er Eindruck schinden möchte bei Sina. Weiterhin wäre es möglich, dass er das Unterrichtsgeschehen langweilig findet und er eine alternative Beschäftigung sucht.

Die aufkeimende Unruhe in der Klasse bleibt von der Lehrkraft nicht unbemerkt. Es wird deutlich, dass das Peergeschehen der Hinterbühne auf die Vorderbühne tritt und zu einer Umgestaltung des eigentlichen Unterrichts führt (vgl. Wagner-Willi 2018, S. 61). Die Lehrkraft verbalisiert ihre Verärgerung vor der Klasse. Sie gibt der peerkulturellen Rahmung jedoch zunächst nicht zu viel Aufmerksamkeit. So verliert sie die Anknüpfung an den Unterricht nicht. Sina sichert mit ihrem umschweifenden Blick möglicherweise ab, dass ihr Zettel nicht sichtbar für die Lehrkraft auf einem Tisch liegt. Außerdem könnte es sein, dass Sina verhindern möchte, dass ein Kind außerhalb ihrer Peergroup die Inhalte des Zettels liest und der Zettel bei der von ihr bestimmten Person ankommt. Jasmin scheint weiterhin auf die Zettelpraktik fokussiert zu sein. Sie wendet sich Sinas suchenden Blicken mit einem Schulterzucken zu. Die Geste soll womöglich zeigen, dass sich auch Jasmin nicht sicher ist, wer den Zettel in dem Moment aufbewahrt. Die von Sina hervorgebrachte Praktik des Zettelns tritt erneut auf die Vorderbühne, als die Lehrkraft Sina direkt auf ihr Verhalten anspricht. Sina zuckt zusammen, was darauf hindeuten könnte, dass sie sich ertappt fühlt. Dass sich Sina auf ihre Hände setzt und auf ihrem Stuhl zurücklehnt, soll der Lehrkraft möglicherweise zeigen, dass sie keiner außerunterrichtlichen Tätigkeit nachgeht und sie aufnahmebereit für die Unterrichtsinhalte ist.

Auch Mona wird in die Weitergabe des Zettels eingebunden. Ihre Reaktion lässt vermuten, dass für sie die Schülerrolle während des Unterrichts oberste Priorität hat und sie sich regelkonform verhalten möchte (siehe Beobachtung: „Diese schenkt dem Zettel zunächst keine Beachtung und streckt ihren Arm in die Höhe.“). Mona stellt eine Frage zu unterrichtlichen Themen, was verdeutlicht, dass sie dem Unterrichtsgeschehen folgt. „Olaf stößt Mona mit dem Ellenbogen in die Seite. Diese wendet sich ihm zu, verdreht die Augen und legt den kleinen Zettel auf den Tisch von Nina und Lennox.“ Die Beobachtung legt die Vermutung nahe, dass sie den Ausschluss aus der Gemeinschaft verhindern möchte. Lennox wird durch seinen Platz hinten in der Ecke selten in die soziale Praktik des Zettelns eingebunden. Er schaut zunächst ratlos wirkend auf den Zettel. Nina, die als Empfängerin des Briefes auftritt, hält sich an das Gebot, den Zettel beim Öffnen und Lesen vor dem Lehrer zu verstecken (vgl. Bennewitz 2009, S. 130). Sie hält ihn in der verschlossenen Hand. Als der Zettel dennoch von der Lehrkraft in ihrer Hand bemerkt wird, wird die Interaktion auf Peerebene abgebrochen. Nina kommt der Aufforderung und den Erwartungen der Lehrkraft vermutlich mit dem Blick auf ihre Verpflichtungen als Schülerin nach und packt den Zettel weg. Alle zuvor beteiligten Schüler richten ihren Blick nach vorne zu der Lehrkraft, sodass ein Bruch in der Peerinteraktion entsteht. Es wird der Eindruck erweckt, dass sich alle Akteure fortan auf ihre Schülerrolle zu fokussieren versuchen.

Situation 2

Ich befinde mich vorne im Klassenraum der dritten Klasse (alle 23 Kinder anwesend) an einem Einzeltisch, der unmittelbar neben dem Lehrerpult steht. Die Tische sind weiterhin wie in der ersten Beobachtung angeordnet. Ich habe meinen Notizblock sowie mein Mäppchen mit Stiften vor mir auf dem Tisch liegen. Es ist der Beginn der vierten Unterrichtsstunde. Zuvor fand eine Religionsstunde bei einer anderen Lehrkraft in dem gleichen Klassenraum statt. In der Übergangssituation tauschten sich die beiden Lehrkräfte für ca. zwei Minuten über einen anstehenden Gottesdienst aus. In dieser Zeit verließen einige Schüler ihren Sitzplatz, um mit anderen Mitschülern ins Gespräch zu kommen. Zwei Kinder suchten die Toilette auf und betreten nun kichernd den Raum. Es ist 10:32 Uhr als die Religionslehrkraft den Klassenraum verlässt.

Dichte Beschreibung

Die Lehrkraft schließt die Tür, was nur von wenigen Kindern gesehen wird. Sie stellt sich vor die Tafel und schaut sich in der Klasse um. Einige Kinder laufen noch durch den Raum und unterhalten sich mit ihren Mitschülern. Tobias sitzt bereits sehr ruhig mit aufrechter Körperhaltung auf seinem Platz. Lisa holt Süßigkeiten aus ihrer Tasche und legt sie in ihre Mappe. Leander und Ina stellen ihre Unterhaltung ein. Leander legt seine Hände auf dem Tisch ab. Ina hebt den rechten Arm und macht mit ihren Fingern das „Leisefuchszeichen“, wobei der kleine Finger und der Zeigefinger in die Höhe zeigen, die anderen drei Finger werden leicht gegeneinandergedrückt. Tobias schaut in Inas Richtung und hebt ebenfalls seinen rechten Arm und macht das Zeichen. Daraufhin folgen auch Elias, Julia und Nina. Olaf und Mona hören auf zu flüstern, Anton und Susanne nehmen ihre Plätze ein. Die Lehrkraft schaut in Inas Richtung und sagt kopfnickend: „Danke Ina und Tobias.“ Mika und Leander drehen sich in Inas Richtung und machen ebenfalls das Zeichen. In der gesamten Klasse stellen sich die Gespräche ein. Es ist inzwischen 10:34 Uhr. Die Lehrkraft sagt mit erhobener Stimme: „So, das hat jetzt aber lange gedauert.“ Tobias nimmt seinen Arm herunter, die anderen Kinder ziehen damit nach. Ina nimmt erst etwa fünf Sekunden später den Arm herunter. Sie blickt dabei die Lehrkraft an.

Die Lehrkraft leitet zu dem Englischspiel „lebendiges Memory“ über. Julia wackelt mit ihrem Arm in der Luft und fragt, ob sie das Spiel erklären darf. Martin und Maja drehen sich zu ihr um während sie das Spiel erklärt. Julia erklärt die Spielregeln mit lauter Stimme, gestikuliert dabei unterstützend mit ihren Händen und schaut dabei abwechselnd zu Lina und der Lehrkraft. Im Anschluss wählt die Lehrkraft zwei Kinder aus (Lina und Julius), die in der ersten Runde gegeneinander lebendiges Memory spielen dürfen. Die Auswahl wird von einigen Kindern mit einem Stöhnen kommentiert. Julius stemmt seine Hände in die Hüften und ruft zu Mika gewandt: „Ich gewinne bestimmt.“ Lina und Julius verlassen für etwa sieben Minuten den Klassenraum. Die Lehrkraft fordert dazu auf, dass sich immer zwei Partner zusammen einen englischen Satz zum Thema „Körper“ überlegen sollen. Manche Kinder bleiben auf ihren Plätzen sitzen und schauen sich zu ihren Mitschülern um. Mona ruft Nina zu, ob sie sich einen Satz zusammen ausdenken wollen. Andere Kinder springen direkt von ihrem Stuhl und gehen gezielt auf ein bestimmtes Kind zu. Melina geht auf Susanne zu, tippt dieser auf die Schulter und fragt, ob sie zusammen ein Paar bilden wollen. Susanne dreht sich zu Maja um und nickt ihr zu. Danach sagt sie zu Melina gewandt, dass sie schon mit Maja zusammenarbeiten möchte. Es wird unruhiger in der Klasse, viele Kinder laufen durcheinander. Manche Kinder finden keinen Partner und wenden sich an die Lehrkraft.

Lisa sitzt immer noch auf ihrem Platz. Ich vermute, dass sie nicht weiß, welches Kind sie ansprechen soll. Die Lehrkraft kündigt mit lauter Stimme an, dass sich die Kinder, die keinen Partner gefunden haben, vorne vor der Tafel versammeln sollen. Lisa erhebt sich und geht mit langsamen Schritten zu der Tafel, auch Melina, Luca und Lennox finden sich vorne ein. Die Lehrkraft teilt die letzten vier Kinder in zwei Zweierteams ein. Es ist 10:40 Uhr und alle Kinder sind dabei, sich mit ihren Partnern einen Satz zu überlegen. Manche Kinder fordern Hilfestellung von der Lehrkraft ein, andere schreiben ihren Satz auf ein Blatt Papier. Möglicherweise wollen sie sich damit vergewissern, dass sie ihren Satz während des Spiels nicht vergessen. Um 10:43 Uhr finden sich alle Schüler auf ihren Plätzen ein.

Lina und Julius betreten schnellen Schrittes den Raum und platzieren sich vorne vor der Tafel. Julius tritt im Stehen abwechselnd mit dem linken und rechten Fuß auf den Boden, er verlagert dabei sein Gleichgewicht hin und her. Außerdem verschränkt er seine Arme vor dem Oberkörper. Die Lehrkraft legt eine Strichliste an, mit der der Punktestand für beide Kinder dokumentiert wird. Die Lehrkraft sagt: „Julius darf beginnen.“ Dieser fragt leise mit dem Kopf schiefgelegt: „Was muss ich denn noch mal machen?“ Benedikt ruft laut: „Oh Julius, das haben wir doch schon einmal gespielt!“ Die Lehrkraft schaut kurz zu Benedikt, danach erinnert sie Julius in Kurzform an die normalen Memoryspielregeln. Julius sagt: „Achja, jetzt weiß ich es wieder!“ Er schaut sich in der Klasse um. Mika wackelt unter dem Tisch mit den Füßen. Anton schaut nach hinten zu seinem Spielpartner und nickt diesem zu. Julius folgt dem Blick und wählt Anton aus, welcher dann seinen Satz vor der Klasse vorträgt. Anton beißt sich auf die Unterlippe. Er muss seinen Satz zweimal von vorne beginnen, um ihn vollständig richtig aufzusagen. Im Anschluss wählt Julius Martin aus, der ebenfalls seinen Satz vorträgt. Es handelt sich dabei um den gleichen Satz. Die beiden Spielpartner müssen sich nun auf ihren Stuhl setzen und können nicht mehr am Spiel teilnehmen. Julius ruft: „Wusste ich es doch, dass ihr zusammen macht!“ Die Lehrkraft fügt den Punkt in der Liste hinzu, was von einigen Kindern in der Klasse mit einem Jubelruf kommentiert wird. Julius setzt ein lächelndes Gesicht auf, nimmt eine aufrechte Körperhaltung ein und stemmt seine Arme dabei seitlich gegen seine Hüfte. Die Lehrkraft gibt den Schülern den Tipp, nicht immer nur Freunde als Spielpartner auszuwählen, da diese Paare sonst zu schnell von den Spielern vorne aufgedeckt werden. Im Anschluss ist Lina an der Reihe. Sie wählt Benedikt und Sina aus. Benedikt schaut in die Luft und sagt: „Oh, jetzt habe ich den Satz wieder vergessen.“ Julius haut sich leicht mit der Handfläche seiner linken Hand vor die Stirn und sagt im Flüsterton kaum hörbar: „Ist der dumm.“ Benedikt greift nach einem Zettel in seiner Hosentasche, holt ihn hervor und liest langsam und leise seinen Satz vor. Lina wählt außerdem Sina aus. Sina trägt ihren Satz laut und deutlich vor. Da sich der Satz von dem vorherigen unterscheidet, erhält Lina keinen Punkt. Mika ruft: „Die Jungs sind eh besser!“ Sein Zwischenruf bleibt von der Lehrkraft und den Mitschülern unkommentiert. Lina nimmt keinen Blickkontakt zu Mika auf. Sie dreht sich ein kleines Stück und wendet sich dabei verstärkt der rechten Klassenhälfte zu. Julius erhält erneut die Wortführung.

Analytische Dimensionierung

Die Beobachtung lässt vermuten, dass Ina die Unruhe im Klassenzimmer sowie die Erwartungshaltung der Lehrkraft sieht. Ina macht das Leisefuchszeichen, was in der Klasse häufig eingesetzt wird, damit Ruhe im Raum einkehrt. Es handelt sich hierbei um ein non- verbales Signal, welches normalerweise von der Lehrkraft ausgehend bei Störungen oder um Aufmerksamkeit zu erzeugen genutzt wird (vgl. Niermann 2017, S. 137). Es könnte sein, dass Ina, die immer wieder als engagierte Schülerin auftritt, die Aufmerksamkeit und Wertschätzung der Lehrkraft sucht. Julia und Nina blicken in Inas Richtung und nehmen dann ebenfalls wortlos die Leisefuchshaltung ein. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Reaktion ihrer Peers durch Ina hervorgerufen wird. Die beiden Mädchen stellen ihre Gespräche dabei ein. Die Nachahmung durch die Peers könnte Ina zeigen, dass sie sie unterstützen. Die Reaktion könnte außerdem als eine indirekte Wertschätzung und Akzeptanz ihrer Position innerhalb der Gruppe gedeutet werden.

Auch Tobias, der ein sehr ruhiger und zurückhaltender Schüler ist, welcher sich selten am unterrichtlichen Geschehen beteiligt, greift die von Ina gezeigte Fingerhaltung auf. Er steht in keinem freundschaftlichen Verhältnis zu Ina. Daher liegt die Vermutung nahe, dass er damit mehr auf Anerkennung durch die Lehrkraft abzielt. Es könnte allerdings auch sein, dass Tobias Ina als Person schätzt und er deshalb die gleiche Haltung einnimmt. Tobias löst eine Reaktion innerhalb seiner eigenen Peergruppe aus. Elias, sein enger Freund und Sitznachbar, betrachtet Tobias Fingerhaltung und nimmt diese ebenfalls ein. Andere Peers stellen ihre Unterhaltung ein. Das von Ina ausgehende Leisefuchszeichen verdeutlicht zum einen Macht und Einfluss der eigenen Peergruppe während des Unterrichts, zum anderen wird die große Bedeutung von bereits eingeführten Ritualen und Zeichen deutlich. In dieser Situation findet die Peerinteraktion deutlich sichtbar auf der Vorderbühne statt (vgl. Willi- Wagner 2018, S. 62f.). Inas durchgeführte Handlung erzeugt bei einigen Mitschülern sowie der Lehrkraft Aufsehen, das durch Blicke und einen kurzen Dank durch die Lehrkraft zum Ausdruck gebracht wird.

Für das anschließende Spiel wählt die Lehrkraft zwei Kinder aus, die den Klassenraum für kurze Zeit verlassen müssen. In der Zeit sollen sich Kinder zu Paaren zusammenfinden. Es ist deutlich erkennbar, dass sich viele Kinder direkt in die Richtung ihres guten Freundes bewegen. Auch hier spiegelt sich Peerverhalten deutlich wider. Besonders Mona sticht dabei durch ihren verbalen Zuruf an Nina gerichtet heraus. Melina, die keiner Peergroup innerhalb der Klasse angehörig ist, wird sichtbar von Susanne zurückgewiesen. Diese entscheidet sich dafür, mit einer Freundin zusammenarbeiten (siehe Beobachtung: „Susanne dreht sich zu Maja um und nickt ihr zu. Danach sagt sie zu Melina gewandt, dass sie schon mit Maja zusammenarbeiten möchte“). Thiel (vgl. 2016, S. 45) hebt hervor, dass Ab- und Ausgrenzungsprozesse im Unterricht nicht nur Einfluss auf das Klassenklima nehmen, sondern Folgen für die kognitiven und affektiven Lernerträge sowie für das Verhalten schlecht integrierter Schüler entstehen. Durch die unzureichende Integration, die häufig als mangelnde Akzeptanz verspürt wird, können Lern- und Verhaltensprobleme für die ausgegrenzten Schüler entstehen (vgl. ebd., S. 45f.). Auch Lisa bleibt zunächst auf ihrem Platz sitzen und umgeht die Partnersuche. Für die beiden Mädchen wäre es wahrscheinlich einfacher gewesen, wenn die Paarbildung von der Lehrkraft zugewiesen worden wäre. In Zweiergruppen herrscht eine intimere Arbeitsbeziehung als in einer größeren Gruppe, welche wiederum eine gewisse Öffentlichkeit repräsentiert. Die Aufnahme in eine größere Arbeitsgruppe ist selten an eine Zustimmung durch alle Mitglieder gebunden, wohingegen die Bildung einer Partnerschaft die beiderseitige Zustimmung voraussetzt (vgl. Breidenstein 2006, S. 160f.).

Julius macht durch sein abwechselndes Auftreten mit dem rechten und linken Fuß einen nervösen Eindruck als er sich vorne vor der Klasse platziert. Er erfragt leise die Spielregeln, obwohl lebendiges Memory bereits mehrmals in unterschiedlichen Fächern und Kontexten zum Einsatz kam. Den Bereich der Tafel vorne einzunehmen kostet viele Schüler Überwindung, da man den „öffentlichen Raum“ betritt, an dem man von allen Schülern fokussiert wird. Eine Besonderheit besteht darin, dass es vorne keine Sitzplätze gibt, sondern dass man im Stehen den Blicken der Mitschüler ungeschützt ausgesetzt ist. Es wird dort für kurze Zeit die Lehrerrolle übernommen (vgl. Breidenstein 2006, S. 108). Wer vorne vor der Klasse steht „[…] wird potentiell zum Gegenstand von Kommentierung und zur Quelle von Amüsement“ (ebd., S. 109). Dies zeigt sich auch in der Beobachtung, als die Unwissenheit von Julius durch Benedikt kommentiert wird. Mit seiner Aussage beschädigt Benedikt für kurze Zeit das öffentliche Image von Julius (vgl. ebd., S. 110). Die vorne stehenden Kinder werden besonders durch die eigenen Freunde mit Blicken fokussiert. Den Platz der Lehrkraft vorne einzunehmen kann Chancen mit sich bringen, da die Kinder die Möglichkeit erhalten, ihr Können und Wissen vor der Klasse unter Beweis zu stellen. Möglicherweise wird den entsprechenden Kindern Anerkennung und Wertschätzung für ihre Leistung entgegengebracht (vgl. Thiel 2016, S. 45f.).

Vor Beginn des Spiels legt die Lehrkraft für alle sichtbar an der Tafel eine Strichliste an, in der die Punkte der beiden Kinder festgehalten werden. Möglicherweise werden dadurch der Konkurrenzkampf der Freundeskreise sowie der Anreiz, als für alle Kinder sichtbarer Gewinner vor der Gruppe auftreten zu können, verstärkt. Auch wenn offiziell nur die beiden vorne im Fokus stehenden Kinder gegeneinander antreten, kristallisiert sich schnell ein Wettkampf der beiden Peergruppen der Klasse heraus. Dies macht sich dadurch bemerkbar, dass die engsten Freunde den jeweiligen Freund anfeuern und jubeln, sobald der eigene Freund einen Punkt erzielt hat. Auch Thiel betont, dass nicht nur die Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Ingroup) für die Kinder bedeutsam ist, sondern dass gleichzeitig auch immer eine Abgrenzung von anderen Gruppen (Outgroups) stattfindet. Diese sei ebenfalls wichtig für die Entwicklung und Stabilisierung der sozialen Identität. Durch die Jubelrufe erfährt Julius Anerkennung von seinen Peers (vgl. Thiel 2016, S. 45f.). Vermutlich wird ein Gefühl des Stolzes hervorgerufen, was dadurch sichtbar wird, dass Julius ein lächelndes Gesicht aufsetzt sowie eine aufrechte Körperhaltung einnimmt (siehe Beobachtung).

Es liegt die Vermutung nahe, dass der vor Spielbeginn geäußerte herabsetzende Kommentar von Benedikt an Julius gerichtet dazu führt, dass Julius die Vergesslichkeit von Benedikt ebenfalls für alle Kinder sichtbar mit einer Gestik unterstreicht (s.o. […] „Julius haut sich leicht mit der Handfläche seiner linken Hand vor die Stirn […]“). Möglicherweise erhofft sich Julius, dass seine eigene Beschämung vor der Klasse so in Vergessenheit gerät und sein eigenes Image wieder aufgewertet wird.

Die Zwischenrufe von Mika an Lina gerichtet stellen eine Zurückweisung dar, wodurch sich Mika gleichzeitig von der anderen Peergruppe abgrenzt (Outgroups). Thiel führt an, dass eine ausbleibende Anerkennung oder Zurückweisung beschämend wirken kann (vgl. ebd., S. 45f.). Es ist möglich, dass Lina deshalb eine von Mika wegweisende Position einnimmt. Es könnte gleichzeitig ein nonverbales Zeichen für die Inakzeptanz der Aussage „Die Jungs sind eh besser“ sein.

Fazit

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich Peerverhalten während des Unterrichts sowohl auf der Vorder- als auch auf der Hinterbühne zeigt. Der Einfluss der eigenen Peergroup ist nicht nur in Pausenzeiten besonders ausgeprägt, sondern wird die Rolle als Peer auch in den Unterrichtsstunden häufig der Schülerrolle vorangestellt. Dabei bleiben einige Verhaltensweisen und Interaktionen der Kommunikation von Lehrkräften unentdeckt. Dennoch können diese den Unterricht maßgeblich beeinflussen und verändern, da sich Schüler schnell durch die verschiedenen Nebenshowplätze ablenken lassen und häufig auch eine Mitwirkung von Außenstehenden für das Gelingen der Interaktion erforderlich ist (vgl. Bennewitz 2009, S. 123ff.). Aus Sicht des Unterrichts handelt es sich bei den Peertätigkeiten um Hinterbühnen oder Nebentätigkeiten, für Schüler hingegen „[…] geht es um die hohe Kunst der Gleichzeitigkeit und eine ausgefeilte Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Breidenstein 2006, S. 121). Die divergierenden Erwartungen an die Schüler- und die Peerrolle verlangen einen ständigen Balanceakt, dessen Austarierung individuell stattfindet. Die Schwerpunkte der Aufmerksamkeit verlagern sich permanent. Es erfolgt eine Suche nach interessant erscheinenden Ereignissen, sodass das frontale Unterrichtsgeschehen nur einen möglichen Punkt der Fokussierung darstellt (vgl. ebd., S. 121f.). Dem laufenden Unterricht wird häufig ein Minimum an Aufmerksamkeit gewidmet, um den Faden nicht zu verlieren und anschlussfähig zu bleiben. Die Verweildauer der Aufmerksamkeit hängt zum einen von der Attraktivität des aktuellen Unterrichtsgeschehens ab. Zum anderen ist die Anziehungskraft der konkurrierenden Nebentätigkeit entscheidet. Auch die Unterhaltung mit dem Sitznachbarn oder das Zetteln können von Leerlauf und Langeweile geprägt sein und sind nicht immer per se spannend. Nebentätigkeiten sind oftmals so geschickt in den Ablauf integriert, dass sie von der Lehrkraft nicht als Störung wahrgenommen werden (vgl. ebd., S. 121f.).

Die in der ethnographischen Beobachtung vernommene Praktik des Zettelns läuft vermutlich mit zunehmender Klassenstufe immer ritualisierter ab, sodass sie dann von vielen Lehrkräften nicht mehr bemerkt wird. Die Schüler wachsen in ihre Rolle als Boten hinein und verhalten sich deshalb wahrscheinlich immer weniger auffällig. In der Beobachtung wurde deutlich, dass einzelne Schüler die Botenrolle noch nicht richtig verinnerlicht hatten, sodass Störungen im Ablauf aufkamen (siehe beispielsweise die Reaktionen von Lennox und Jasmin). Ich vermute, dass sich auch in dieser Klasse die Praktik des Zettelns immer weiter festigen wird, sodass es auch für viele Schüler zunehmend leichter werden könnte, die Aufmerksamkeit gleichzeitig auf die verschiedenen Showplätze zu richten.

Die Interaktion auf Peerebene kann positive Auswirkungen auf die einzelnen Schüler haben, wenn diese Anerkennung und Wertschätzung durch die eigenen Peers erfahren. Dadurch wird gleichzeitig das Gemeinschaftsgefühl der Gruppe gestärkt. Dennoch kann die Peerinteraktion auch negative Folgen für das Selbstwertgefühl einzelner Schüler haben, sobald Ausgrenzungserfahrungen gemacht werden oder eine Bloßstellung vor der Klasse stattfindet (siehe beispielsweise Beschämung von Lina in der Beobachtung: Mika ruft: „Die Jungs sind eh besser!“ ) (vgl. Thiel 2016, S. 45f.).

Insgesamt ist erkennbar, dass sich Peerverhalten an ganz unterschiedlichen Stellen im Unterricht widerspiegeln kann. Lehrkräften sollte dieser Fakt stets bewusst sein. Sie sollten Peerverhalten nicht grundsätzlich zu unterbinden versuchen, da der Lernort Schule ein grundlegender Ort für Peerkontakte ist und viele Schüler nur deshalb ein positives Bild von Schule entwickeln können (vgl. Zschach 2010, S. 105f.). Es ist wichtig, Zeiträume für gemeinschaftsstärkende Aktivitäten in die Unterrichtsplanung einzubauen, damit sich auch Einzelgänger dem Klassengefüge zugehörig fühlen und Ausgrenzung entgegengewirkt werden kann.

Für die weitere Forschung wäre es aus meiner Sicht interessant, Peerverhalten nicht nur während des Unterrichts, sondern auch während der Pausenzeiten zu beobachten. So würde ein eher auf der Hinterbühne stattfindendes Peergeschehen sichtbar und es könnten Vergleiche angestellt werden. Ein weiterer aufschlussreicher Forschungsansatz könnte sich ergeben, wenn Peerverhalten während des Unterrichts in verschiedenen Klassenstufen betrachtet würde. Da viele Peerinteraktionen mit zunehmendem Alter ritualisierter ablaufen und sich die einzelnen Peergruppen in ihren Konstellationen immer mehr festigen, wäre es spannend, Vergleiche zwischen den einzelnen Altersgruppen anzustellen. Außerdem verändert sich bei vielen Schülern vermutlich je nach Alter die Verlagerung der Aufmerksamkeit mehr auf die Peer- oder die Schülerrolle, weshalb der Vergleich zwischen den Altersgruppen sicherlich aufschlussreiche Ergebnisse liefern würde.

Literatur

  • Bennewitz, H. (2009): Zeit zu Zetteln! – Eine Praxis zwischen Peer- und Schülerkultur. In H. de Boer & H. Deckert-Peaceman (Hrsg.): Kinder in der Schule: Zwischen Gleichaltrigenkultur und schulischer Ordnung (1. Aufl., S. 119-136). Wiesbaden: VS Verlag.
  • Breidenstein, G. (2012): Ethnografisches Beobachten. In H. de Boer & S. Reh (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen (S. 27-44). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Breidenstein, G. (2006): Teilnahme am Unterricht – Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Lindner, D. & Rosenberger, K. (2019): Ethnografisches Beobachten und Schreiben im Lehramtsstudium. Journal für LehrerInnenbildung, 19(4), S. 62-70. Klinkhardt.
  • Niermann, A. (2017): Professionswissen von Lehrerinnen und Lehrern des Mathematik- und Sachunterrichts. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Otto, A. (2015): Positive Peerkultur aus Schülersicht – Herausforderungen (sonder-) pädagogischer Praxis. Wiesbaden: Springer VS.
  • Thiel, F. (2016): Interaktion im Unterricht – Ordnungsmechanismen und Störungsdynamiken. Opladen & Toronto: Budrich.
  • Wiesemann, J. (2011): Ethnographische Forschung im Kontext der Schule. In H.-U. Grunder; K. Kansteiner-Schänzlin & H. Moser (Hrsg.): Professionswissen für Lehrerinnen und Lehrer (S. 167-185). Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren.
  • Wagner-Willi, M. (2018): Rituelle Praktiken auf den schulischen Vorder- und Hinterbühnen. In J. Brühlmann & D. Conversano (Hrsg.): Rituale an Schulen: wirksam und unterschätzt (S. 58-62). Zürich: LCH.
  • Zschach, M.; Zitzke, C. & Schirner, M. (2010): Schule als Kontext und Thema von Freundschaftsgruppen in einer Längsschnittperspektive. In H.-H. Krüger; S.-M. Köhler; M. Zschach (Hrsg.): Teenies und ihre Peers – Freundschaftsgruppen, Bildungsverläufe und soziale Ungleichheit. Opladen & Farmington Hills: Budrich.

Soziale Ordnung im Chaos – Wie wählen Kinder ihren Sitzplatz in offenen Lernsettings? (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Inhalt

Einleitung

Die Formulierung „Soziale Ordnung im Chaos“ soll überspitzt die Situation der freien Sitzplatzauswahl im Klassenraum beschreiben. Sie ist geprägt durch eine unordentlich scheinende Atmosphäre und eine kurze Phase mit einer hohen Dichte an Handlungen. Folgende Erfahrungen stammen aus meinem Praxissemester an einer jahrgangsgemischten Grundschule in Siegen, die angelehnt an das Maria Montessori Konzept arbeitet. Die Auswahl eines Sitzplatzes wird im beobachteten Fall von den Schülern[1] im Sitzkreis, der für den Unterrichtseinstieg und -abschluss rituell erfolgt und an den Arbeitsplätzen, die für die Arbeitsphasen genutzt werden können, selbstbestimmt gewählt. Die von den Schülern eingenommene Sitzordnung basiert daher auf Eigenständigkeit in Bezug auf die Auswahl sowie zeitliche Nutzung und nicht, wie in den meisten Schulen durch die Lehrperson bedingte frontale und festgelegte Form (vgl. Breidenstein 2006, S. 61). Das offene Schulkonzept und ebenfalls die freie Sitzplatzwahl waren für mich neue Phänomene, welche daher mein Interesse geweckt haben und folgende ethnografische Beobachtungen entstanden sind.

Bestandteile eines Raumes wie z.B. Sitzplätze können nicht ohne den Klassenraum an sich analysiert werden. Daher folgt zunächst eine Beschreibung des Begriffs Raum. Löw (2007, S. 96) beschreibt „Räume als relational (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“. Damit ist zum einen eine gesellschaftlich bedingte Ordnung und zum anderen eine Anordnung im Sinne von Platzierungen gemeint. Beide Aspekte werden im Folgenden kurz näher erläutert. Gesellschaftliche Ordnungen werden in Handlungen von Individuen bemerkbar, sind aber ebenfalls Folge dieser. Räumliche Strukturen bilden in Kombination mit anderen zum Beispiel zeitlichen oder politischen Aspekten gesellschaftliche Strukturen. Demzufolge werden räumliche Strukturen im Handeln geschaffen und sichtbar. Jene bestimmte räumliche Struktur wird wiederum in der Konstitution von Räumen abgebildet, in Institutionen eingelagert und steuert Handeln. Menschliches Handeln lässt sich als repetitiv beschreiben, das heißt, dass der Alltag nach entwickelten Gewohnheiten gestaltet wird. Dies hat zur Folge, dass sie sich ohne langes Nachdenken im Alltag bewegen können und ebenfalls nicht darüber austauschen müssen (vgl. ebd.). Des Weiteren sind „Räume […], da sie im Handeln entstehen und auf Konstruktionsleistungen basieren, stehts sozial. Materiell sind platzierte Objekte, welche zu Räumen verknüpft werden.“ (ebd., S. 97) Der Aspekt der Materialität kann ebenso nicht ohne gesellschaftliche Strukturen gesehen werden. Menschen verfügen über die Fähigkeit sich selbst zu platzieren und diese Verortung wieder zu verlassen. Darüber hinaus können sie ihre Raumkonstitutionen mittels körperlicher Merkmale beeinflussen. Inwiefern Räume relevant für Menschen sind, ist durch ihren Habitus, d.h. durch Gruppenzugehörigkeiten, bedingt und nicht rein individuell noch homogen (vgl. Löw 2007, S. 97f.). Auch im Bereich der Sitzordnung sind solche beschriebenen gesellschaftliche Strukturen und Platzierungen insbesondere in diesem Fall durch eine freie Platzwahl erkennbar. Willms (2007, S. 1) beschreibt die Sitzordnung als „Ort im Raum und die Verortung im sozialen Arrangement der Klasse. Beide regulieren die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Lehrkörper und […] Schülern sowie zwischen den […] Schülern.“ Sitzplätze können somit als Ort verstanden werden, die nicht der Raum selbst sind, aber zu seinen Bestandteilen gehören (vgl. Breidenstein 2006, S. 43). So beschreibt Breidenstein in Bezugnahme auf Löw, dass jeder einzelne Sitzplatz einen Ort darstellt, der die Konstitution von Raum abbildet, generiert und den Raum als solchen erst denkbar macht (vgl. ebd., S. 62f.; Löw 2001, S. 198). Zudem gibt die soziale Verortung Aufschlüsse über Interaktionen zueinander und somit generierte Informationen über die Eigenlogik sollen in dieser Arbeit beschrieben und analysiert werden. Breidenstein (vgl. 2006, S. 43ff.) geht ebenfalls in seiner ethnografischen Studie auf die Thematik der Klassenräume ein und zeigt verschiedene Erkenntnisse zu visuellen, akustischen und haptischen Räumen und wie sich diese im Klassenverbund zeigen. Im Unterschied zu seiner Forschung zeigt diese Arbeit ein offenes, statt frontales Lernsetting und fokussiert stärker die Sitzplatzwahl der Kinder. Im Allgemeinen lässt sich die Analyse der räumlichen Dimension von Unterricht als jünger Forschungszweig beschreiben, die die sozialwissenschaftliche Forschung vor Herausforderungen stellt (vgl. ebd., S. 61).

 

Ethnografie als methodische Vorgehensweise

Die Ethnografie gilt als historisch gewachsene Erkenntnisstrategie. Ihre Ursprünge gehen auf die Erkundung fremder Kulturen im Zuge der Kolonialisierung sowie auf die Erforschung von Großstädten in Folge von Einwanderungswellen der Chicago School zurück (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 13ff.). „Zunehmend entsteht das Interesse gesellschaftliche Phänomene der Normalität und Mehrheitskultur, Interesse an normaler sozialer Ordnung und Praxis in der eigenen Gesellschaft zu erforschen.“ (Lange & Wiesemann 2012, S. 263). Gemeinsam ist diesen Traditionslinien der Erkenntnisstil des Entdeckens (vgl. Breidenstein et al. 2015, S.13). Dabei wird Vertrautes als Fremd betrachtet und methodisch befremdet (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 12).

Die Ethnografie arbeitet mit einem starken Empiriebegriff, d.h. es wird davon ausgegangen, dass Wissen über die Gesellschaft den Sozialwissenschaften nicht schon immer und in Gänze vertraut, verstanden und verfügbar ist (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 7) und dass es somit kulturelle Phänomene noch zu entdecken gilt (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 13). Demgegenüber verfügt die Ethnografie über einen weichen Methodenbegriff, dessen Entscheidungsgewalt vom Feld aus bedingt ist und nie der Forschung willen (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 9, 19). Primär für eine ethnografische Forschung ist die Teilnehmende Beobachtung (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 7).

Dabei besteht die Besonderheit, dass der Forscher eine Art „parasitäres“ (Amann & Hirschauer 1997, S. 27) Verhalten zum Feld zeigt. Durch eine längerfristige Kopräsenz des Beobachters kann hier empirisches Wissen sozusagen aus erster Hand über einen konkreten Fall generiert werden. Diese Beobachtung in Form der Teilnahme legt die Grundannahme der Ethnografie, dass jedes Feld über eine individuelle Sozio-Logik bzw. kulturelle Ordentlichkeit verfügt sowie sich kontinuierlich selbst methodisch generiert und strukturiert, zugrunde (vgl. ebd., S. 19ff.). „Kulturelle Felder verfügen über eine Eigenlogik, […] die auch einen Beobachter, der sich treiben lässt, an die Hand nimmt und führt.“ (Breidenstein et al. 2015, S. 38).

Eine Kopräsenz des Beobachters ist immer durch eine Spannung zwischen Teilnahme und Distanzierung bestimmt (vgl. ebd., S. 7). Auf der einen Seite versucht der Ethnograf durch Teilnahme eine solche Feldlogik zu verstehen, auf der anderen Seite muss er auch sein strategisches Privatspiel im Blick behalten um empirisches Wissen zu schaffen (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 27). Eine Handlungspraxis als solche zu erkennen, kann nur erfolgen, wenn die Beobachterrolle frei von Handlungszwängen ist (vgl. ebd., S. 24). Dies zeigt auch der Unterschied zu den Akteuren im Feld, deren Lebenswelt durch die Lösung handlungspraktischer Anforderungen bestimmt ist (vgl. Lüders 2012, S. 390). Ein befremdeter Beobachter kann daher lokales Wissen explizieren, welches Teilnehmern reflexiv nicht zur Verfügung steht (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 24). Der Ethnograf muss sich der Situation befremden um Phänomene klarer erkennen zu können (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 8). Der Prozess der Befremdung bzw. des immer wieder neuen Wunderns, besitzt somit fortlaufenden Charakter (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 29).

Um die Logik dieses spezifischen Falls in Bezug auf die Platzwahl herauszuarbeiten, erfolgt neben einem längeren Aufenthalt durch das Praktikum eine explizite Phase der Beobachtung. Infolge der Erstellung von „Fieldnotes“ wird so eine erste Versprachlichung von sozialen Phänomenen (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 35) vorgenommen sowie die Möglichkeit einer erneuten Fokussierung und Befremdung durch die Erstellung Dichter Beschreibungen. Diese sollen zum Weiterleben der Erfahrungen anregen (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 30) und werden als Basis zur Analyse genutzt.

Die Ethnografie eignet sich für die Erschließung der Platzwahl, da ein selbstverständlich scheinendes Phänomen vorliegt, welches auf ein Wissen anspielt, das Akteuren nur bedingt reflexiv verfügbar ist. Daher ist eine ausschließlich auf Interviews angelegte Forschungsmethode in diesem Fall nicht sinnvoll, um die Eigenlogik der Gruppe zu erschließen. Wie beispielsweise Aushandlungen von Plätzen erfolgen, ist durch einen großes inkorperiertes Wissen, d.h. Mimik und Gestik geprägt. Dieses kann somit durch Beobachtungen erschlossen werden.

Reflexion

Im Folgenden setze ich ein verschärftes Augenmerk auf meine Rolle als Forscherin und die daraus resultierenden Reaktionen des Feldes. Solch eine Reflexion an dieser Stelle hat eine wichtige Bedeutung für die Dichte Beschreibung sowie die Analyse, da ein wichtiges Kennzeichen der Ethnografie nicht nur die Beobachtung des Feldes, sondern auch die Selbstbeobachtung ist.

 Rolle als Forscherin

Die Rolle als ethnografische Forscherin ist geprägt durch eine extensive Teilhabe am Geschehen, jedoch auch durch einen bewussten Rückzug am Handlungsverlauf. So musste auch ich eine klare Grenze zwischen meinen Rollen ziehen, zum einen als agierende Person in der Rolle einer Praktikantin, die auch durch einige Verantwortung und Eigeninitiative geprägt war und zum anderen als ethnografische Forscherin. Der Alltag dieser beiden Rollen ist von Grund auf verschieden, aber bietet auch positive Synergieeffekte. Durch den längeren Praktikumszeitraum kann ein Grundvertrauen aufgebaut werden, welches für die Forschung positive Auswirkungen hat. Für meine Forschungsanfänge musste ich mir Nischen suchen, die mich von einem Handlungsdruck entlasten, z.B. geht das gleichzeitige Kontrollieren von Hausaufgaben und der Teilnehmenden Beobachtung auf die Qualität der Dokumentation. Solche Nischen und das Interesse an der Platzwahl führten zu meiner jetzigen Fragestellung. Dass Kinder sich in der Schule Plätze aussuchen dürfen, war für mich eine ganz neue Beobachtungsgrundlage, die mich auch an meine eigene Auswahl eines Platzes erinnerte. Ich selbst hatte im Rahmen des Praktikums im Klassenraum ebenfalls keinen festen Platz und war dadurch von der Eigenlogik des Feldes nicht befreit, sondern agierte in irgendeinem Modus mit. Als mir dies bewusst wurde, empfand ich die Wahl eines Platzes tatsächlich als „kurios“ und war gefangen in einer Art Unverständnis. Eine lange Zeit empfand ich diese Planlosigkeit als konstant, als würde diese nie weggehen, aber dann fielen immer mehr Erkenntnisse, von denen ich im Folgenden berichte. Im Rahmen der Teilnehmenden Beobachtung habe ich mich der Methodenfreiheit bedient. Erstmals habe ich auf Beobachtung gesetzt, dem Dokumentieren von Atmosphäre und Anzeichen von Erkenntnissen oder Regelmäßigkeiten. Dabei musste ich mich aktiv von der Dominanz des Wortes frei machen, um nicht wie ein Diktiergerät stimmungslos Aussagen der Akteure niederzuschreiben. Im weiteren Verlauf habe ich informelle Gespräche genutzt sowie versucht durch meine Platzwahl Reaktionen der Eigenlogik des Feldes zu erzwingen, um weiteres Wissen zu generieren.

 Reaktion des Feldes

Die Reaktion des Feldes ist nicht zuletzt durch meine Rolle geprägt. Durch meinen ersten frühen Unterrichtsbesuch und die Bereitschaft mir ein großes Maß an Eigeninitiative zu überschreiben, habe ich schon einen frühen Zugang zur Rolle als „Lehrerin“ gewonnen, die sich meiner Meinung nach zu der der Praktikantin in vorhandenen Studienpraktika unterscheidet. Die Rolle als Forscherin entwickelte sich langsamer sowie auch mein Interesse an dem Phänomen der Platzauswahl. Dass ich mich für etwas „Neues“ in den Augen der Akteure, vor allem der Schüler, interessiere, ist immer mehr in Erscheinung getreten. Gerade im anfänglichen Forschungsprozess habe ich die Reaktion des Feldes erfahren und gerade mein Zurückziehen wurde von den Kindern kritisch hinterfragt. Beispielsweise, warum ich heute keine Hausaufgaben korrigiere und was ich in meinen Notizblock schreibe, schien viele Kinder zu interessieren. Demzufolge habe ich erklärt, was und warum ich dies tue sowie mich mit den Fragen der Kinder beschäftigt. Dieses Interesse habe ich letztendlich zu meinem Vorteil genutzt und Gespräche in meine Forschung integriert. Die Kinder haben gefallen daran gefunden mir ihre Sicht der Lebenswelt näher zu bringen, haben mir meine Fragen beantwortet und kamen zu mir, wenn ihnen etwas Neues rund um das Thema Sitzplätze eingefallen ist. Ein Mädchen wollte unbedingt ihre Aussagen des Gespräches in meinen Block schreiben und half mir mit Erklärungen. Das lässt mich vermuten und durch meine späteren Beobachtungen auch stützen, dass das Thema Platzwahl eine gewisse Dichte auch bei den Kindern enthält, da es auch ihre lebensweltlichen Handlungsprobleme beschreibt. Nachdem die meisten Kinder sich intensiv mit meinem Erkenntnisinteresse beschäftigt haben, ist die Aufmerksamkeit auf meine Beobachtungen abgeflacht.

Beschreibung der Lernkultur

Die folgenden ethnographischen Ergebnisse wurden im Rahmen des Praxissemesters gesammelt und stammen aus einer mittelgroßen Grundschule in der Stadt Siegen. Die Lernkultur lässt sich als offen beschreiben, da die Klassen jahrgangsgemischt von der ersten bis vierten Klasse unterrichtet werden. Das Unterrichtskonzept ist an Maria Montessori angelehnt. Insgesamt befinden sich acht Klassen in der Schule, wobei immer zwei stärker miteinander kooperieren. Dies kann man zum einen an dem räumlichen Aufbau erkennen, da diese Klassen oft mit einer Verbindungstür zusammen liegen. Zum anderen finden einmal die Woche in heterogenen Gruppen Einführungsunterricht in den Fächer Deutsch, Mathematik und Sachunterricht mit der Nebenklasse zusammen statt. Dominierende Unterrichtsform ist die Freiarbeit, die durch einen Wochenplan strukturiert wird. In dieser sollen die Schüler selbstständig Aufgaben wählen, zum Teil sind diese bereits auf dem Wochenplan festgehalten und zum anderen Teil dürfen die Kinder sich auch an weiteren Aufgaben bedienen. Das Material für die Freiarbeit ist für die Kinder zugänglich in Regalen positioniert und ebenfalls an dem Maria Montessori Konzept angelehnt. Die Kinder sollen in der Freiarbeit möglichst Deutsch- und Mathematikaufgaben zu gleichen Teilen erledigen, dies wird durch ein akustisches Signal unterstützt. Der Beginn und Abschluss einer Unterrichtsstunde oder -sequenz wird mit einem gemeinsamen Sitzkreis strukturiert. Der Klassenraum ist nicht typisch gestaltet, sondern enthält mehrere Gruppentische im Klassenraum sowie einen Sitzkreis. Die Tafel und der Lehrerhochtisch sind nicht so zentral gelegen, wie oft in Schulklassen. Die Schüler dürfen während des kompletten Unterrichtstages ihren Sitzplatz frei wählen und ebenfalls, ob sie die ausgesuchte Aufgabe eigenständig oder mit einem Partner erledigen. Außerdem wird oft geschaut, dass Verbindungen zwischen den fachlichen Inhalten der Fächer sowie Niveaustufen geschaffen werden. In den Klassen herrscht eine Vielfalt von Kindern mit unterschiedlicher Herkunft sowie Kindern mit verschiedenen Förderbereichen. Auch kooperiert die Schule mit verschiedenen außerschulischen Institutionen, wie zum Beispiel einem Kinder- und Jugendtreff. Des Weiteren bietet die Schule vielerlei AG´s und eine Betreuung an.

Dichte Beschreibung

Es ist Montag 7:55 Uhr und die meisten Schüler befinden sich bereits im Klassenraum. Die Hausaufgabenkontrolle neigt sich langsam dem Ende zu.

Es herrscht eine chaotische Stimmung, viele Kinder reden miteinander und die Lehrerin hört man ab und zu im Hintergrund reden. Sie sitzt noch an einem aus mehreren Tischen zusammengestellten „Gruppentisch“[2] und bespricht mit einem Jungen seine Hausaufgaben. Währenddessen sind bereits viele fertig mit der Hausaufgabenkontrolle, räumen ihre Sachen wieder in die Schultaschen, die alle nebeneinander an einer Wand und einem Regal nah der Klassentür zum Flur hängen und stehen. Die Schülerin Julia hat ihre Sachen bereits weggeräumt und geht schnellen Schrittes auf den Sitzkreis zu. Dieser ist aus vier Holzbrettern auf Getränkekisten zusammengebaut und steht in der hinteren Ecke des Raumes. Julia setzt sich auf die letzte Bank aus ihrer Richtung, die sich mit dem Rücken zum Whiteboard richtet. Sie setzt sich mit dem Rücken etwas gebeugt auf die Bank und stützt sich mit einem Arm ab. Dann klopft sie mit der flachen Hand auf die Bank und ruft: „Aylin, hier, setz dich hier hin.“ Aylin steht noch an ihrer Schultasche, dreht sich um und schaut zu Julia. Dreht sich wieder zu ihrer Schultasche um, faltet ihre Hefte schneller als zuvor und legt diese in die Schultasche. Sie macht ihre Schultasche zu und läuft zu dem Platz neben Julia. Zwei weitere Schüler, David und Simon setzten sich auf eine andere Bank und raufen sich, indem sie die Hände fest an die Arme des anderen drücken und mit ihrem Körpergewicht nach links und rechts schwenken. Dilan und Fynn setzen sich ebenfalls auf die gleiche Bank, jedoch mit etwas Abstand und direkt an das anliegende Regal. Dort liegen viele verschiedene Sachen, die für den Sitzkreis, das Whiteboard oder für den CD-Player im Unterricht gebraucht werden. Dilan sitzt direkt dort neben und wählt sich eines der darauf liegenden Kuscheltiere mit fokussiertem Blick und bewegenden Mundwinkeln aus. Dieses hält er nach erneutem Sitzen in den Händen und dreht es immer wieder mit seinen Fingern hin und her. Auch Fynn steht jetzt auf, stellt sich kurz vor das Regal und nimmt sich eines der noch übrigen Kuscheltiere. Er setzt sich wieder auf die Bank und wirft seines immer ein kleines bisschen in die Luft und fängt es auf, dabei folgt sein Blick dem Kuscheltier. In dieser Zeit sind bereits einige Kinder langsamen Schrittes eingetrudelt und haben Plätze im Sitzkreis eingenommen. Alle vier Bänke sind bereits gut gefüllt. Der Platz zentral vor dem Whiteboard ist jedoch bis jetzt konstant frei geblieben. Auch die Lehrerin kommt nun in den Sitzkreis und setzt sich ohne Zögern direkt auf diesen frei gebliebenen Platz. Noch drei weitere Kinder, diese müssten die Letzten sein, stehen nun am „Eingang“ des Sitzkreises, d.h. zwischen den beiden Bänken, durch die man gewöhnlich geht, um einen Platz im Sitzkreis zu wählen. Die drei stehen in einer Art Schlange hintereinander. Theo ist vorne, dreht seinen Kopf immer wieder und scheint zu überlegen, dabei verzeiht er seinen Mund zur Seite. Die anderen beiden Abdul und Leonardo sind dagegen noch mit einer Unterhaltung beschäftigt und zappeln mit den Beinen und Armen herum, zudem lachen sie. Abdul steht dabei in der Schlange mit Blick zu Leonardo, d.h. nicht Richtung Sitzkreis. Die Lehrerin schaut Theo an, zeigt mit ausgestreckter Hand auf einen der Plätze an der Fensterseite und nickt schräg zur Seite. Sie schaut auf den Platz und sagt: „Tarik rutsch etwas, damit der Theo da noch zwischen passt.“. Dabei wischt sie mit ihrem ausgestreckten Arm zur Seite. Tarik wirkt nicht begeistert und verzieht sein Gesicht, legt seine Beine enger zusammen und rutscht zu Fynn rüber. Theo setzt sich in die Lücke. Tarik legt seine Hände aneinander auf den Schoß und zieht seine Schultern zu sich. Während die Lehrerin bereits Plätze für die anderen sucht, ruft Tarik in die Klasse und sagt: „Hier ist viel zu wenig Platz, ich bin total gequetscht“. In diesem Moment sagt die Lehrerin mit ernster Stimme zu Abdul, der sich einen Stuhl zum Sitzkreis geschoben hat, dass er sich bitte, wie alle anderen auch in den Sitzkreis setzten soll. Abdul steht von seinem Stuhl auf, bleibt kurz stehen und schnauft vor sich hin. Dann nimmt er den Stuhl und schiebt diesen über den Boden wieder zu dem Tisch zurück und setzt sich direkt an den Sitzkreiseingang mit seinem halben Gewicht auf die Bank. Die Integrationskraft und ich setzen uns mit Stuhlen etwas hinter den Sitzkreis, sodass wir jedoch noch einen guten Blick dorthin haben und nicht zu außerhalb sitzen. Die Integrationskraft setzt sich mit ihrem Stuhl nah zu Ilyas, tippt ihn an. Als er sie anschaut, flüstert sie: „Rutsch mal ein bisschen, dass der Abdul sich noch richtig auf die Bank setzen kann.“ Währenddessen hat die Lehrerin mit organisatorischen Dingen zum heutigen Schultag angefangen. Die Lautstärke sinkt und die Atmosphäre wirkt auf mich ruhiger. Auf der Bank neben der Lehrerin, sowie auf der rechten sitzen die Mädchen der Klasse, bis auf Elif, die sich auf die Bank gegenüberliegend zur Lehrerin gesetzt hat. Neben ihr auf der Bank zur rechten und linken sitzen Jungen sowie ebenfalls auf der links danebenliegenden Bank.

Nach dem Sitzkreis findet die Freiarbeit statt. Dazu wird eine Box mit Lernplanern auf den Tisch in Mitten des Sitzkreises gelegt. Die Lehrerin nennt die Bänke mit den Kindern, die aufstehen dürfen. Die Kinder gehen zu ihren Schubladen, nehmen sich ihr Arbeitsmaterial, welches sie für ihre ausgesuchte Freiarbeitsaufgabe brauchen und wählen nun einen Sitzplatz für die Arbeitsphase.

Das Aufstehen von den Plätzen zu den Schubladen, in denen das Arbeitsmaterial liegt wirkt auf mich langsam, ruhig und etwas träge. Die Stimmung verändert sich jedoch als erste Kinder ihre Arbeitssachen in der Hand haben. Nun geht es schnell, aber doch überlegt zu. Devin stürmt als erster zu einem blauen Scheibtischstuhl, der an einem der Lernplätze steht und als einziger im Raum über diese Ausstattung verfügt. Setzt sich drauf, wippt mit der Lehne nach hinter und lehnt sich mit Rücken und Kopf nach hinten, als würde er kurz eine Auszeit nehmen. Dann steht er jedoch wieder flink auf, wirkt als würde er lächeln und setzt sich auf einen anderen Platz. Dazu tauscht er zwei Stühle, die an einem Zweiertisch stehen, sodass auf der rechten Seite, wo er seine Schulmaterialien abgelegt hat, ein Stuhl mit Polsterung ist.

Einige Zeit später kommt Leonie zu dem blauen Stuhl, legt ihre Sachen auf den Tisch davor ab und setzt sich hin. Emir kommt mit schweifendem und genervtem Blick und sagt zu Leonie, dass er dort sitzen wollte. Leonie steht auf, hält jedoch eine Hand fest am Stuhl und zuckt mit dem Schultern. Es scheint, als würde Emir noch versuchen wollen sie umzustimmen, aber seine Aussichtslosigkeit bereits schon ahnt. Er schmeißt seine Sachen mit einem Ruck auf den Tisch gegenüber, stampft seine Arme überkreuzt vor seine Brust und geht schleppend einmal um den Tisch herum zu seinem Platz und lässt sich dort auf seinen Stuhl fallen. Leonie hält sich mit einem Arm an dem Stuhl mit dem anderen auf dem Tisch fest und hoppst mit einem Sprung wieder zurück auf den Stuhl. Emir, der nun gegenüber sitzt schaut sie immer noch mit heruntergezogenen Mundwinkeln an und Leonie sitzt in gerader Haltung auf dem ergatterten Stuhl und schlägt ihr Arbeitsmaterial entschieden auf.

Kurz danach kommt Devin zum Stuhl gerast und tippt Leonie an. Sie dreht sich zu ihm um und er sagt: „Heute darf doch keiner auf den Stuhl.“ [In einem Klassenrat wurde verabredet, dass der blaue Schreibtischstuhl an manchen Tagen für die Integrationskraft bestimmt ist.] Dabei klingt er sehr direkt. Leonie scheint direkt zu wissen, was los ist, denn sie schnauft etwas und verzeiht ihr Gesicht. Dann schiebt sie ihre Sachen zusammen und hopst vom Stuhl runter und setzt sich zum nächstgelegenen Gruppentisch. Devin nimmt nachdem Leonie aufgestanden ist den Stuhl in die Hand und schiebt diesen Mitten in den Raum, weg von jeglichem Tisch. Er scheint mich entdeckt zu haben, denn er kommt schnellen Schrittes zu mir und sagt mit ernster Stimme: „Du musst den Stuhl freihalten.“

Nach circa einer Minute kommt Tarik zum Stuhl und will diesen an seinen alten Platz schieben. Devin, der sich einen Platz mit Blick auf das Stuhlgeschehen gesucht hat, steht blitzschnell auf und hält mit seiner Hand den Stuhl fest. Tarik dreht sich mit einem „Hä“ um und guckt ihn entgeistert an. Devin sagt mit leicht genervter Stimme: „Der Stuhl muss doch frei blieben.“ Tarik antwortet mit „Oh man!“, schüttelt den Kopf und geht gemütlich zu einem anderen Gruppentisch, wo er seine Sachen mit einem kleinen Ruck fallen lässt. Als die Integrationskraft zu dem Vierertisch geht und den Stuhl zum Tisch zieht, steht auch Devin auf und erklärt der Integrationskraft, dass er diesen Stuhl extra für sie freigehalten hat. Er wirkt dabei stolz und die Integrationskraft bedankt sich dafür.

Theo nimmt sich einen Wackelhocker, der an einem Vierertisch steht und läuft mit diesem an seinen Arbeitsplatz, der nicht als Gruppentisch, sondern Reihe konzipiert ist. Er verlässt diesen jedoch nach kurzer Zeit und trägt seinen Hocker mit durch die Klasse, um etwas aus seinem Schulranzen zu holen. Danach kehrt er mit Hocker wieder zu seinem Arbeitsplatz zurück.

Langsam befinden sich alle der Schüler an Plätzen. Alle vier Gruppentische sind besetzt, zum größten Teil sitzen Jungen neben Jungen und Mädchen neben Mädchen an einem Doppeltisch. Lina und Emilia liegen mit ihren Heften aufgeschlagen auf einem Teppich vor der Tafel. Ich verlasse langsam die Rolle der reinen Beobachterin und beginne mit Gesprächen. Ich frage den Vierertisch, an dem auch Devinl und Leonie sitzen, nach ihren Begründungen zur Platzwahl.

Elyas antwortet, dass das hier der einzig gute Vierertisch ist, da er gut gelegen ist, nah bei der Materialbeschaffung zur Stationenarbeit. Der andere Vierertisch sei zum Arbeiten viel zu laut. Seine Stationsnachbarin, Leonie bestätigt dies und ergänzt, dass die Kinder dort immer viel reden. Elyas ergänzt, dass er jedoch lieber an dem anderen Vierertisch direkt am Fenster gesessen hätte, weil man dort rausgucken kann. Aber die Integrationskraft wollte dort sitzen und die ist manchmal streng. Leonie ergänzt zusätzlich, dass sie böse guckt, aber bittet mich schmunzelnd das nicht in meine Notizen aufzunehmen. Die Kinder des Vierertisches fragen mich ebenfalls interessiert und schauen fokussiert auf meine Notizen, warum ich diese notiere. Ich erkläre ihnen, dass ich dies für die Uni mache und mich interessiert, an welchen Plätzen sie gerne sitzen. Ich frage Dilan, warum er diesen Platz gewählt hat. Er antwortet mir, dass er bei seinem Freund sitzen möchte und zeigt auf Devin. Leonie fragt mich, ob sie diese Beobachtung in meinen Collegeblock schreiben darf. Ich erlaube ihr dies und gebe ihr meinen Stift. Sie schaut mich noch einmal kurz an und fragt nach kurzer Wartezeit dann, ob sie doch lieber mit Bleistift schreiben darf, so kann sie noch radieren, wenn sie sich verschreibt. Dies bestätige ich ihr ebenfalls. Elyas erklärt, dass er hier sitzt, weil seine Freunde hier sitzen. Ich frage ihn, warum er auf dem Wackelhocker sitzt. Daraufhin antwortet er mir, dass er es mag, wenn er wackeln kann. Leonie ergänzt: „Schau mal, ich sitze auf so einem Kissen, dass wackelt auch. Darf ich das auch aufschreiben?“ Ich gebe ihr wieder den Collegeblock. Während sie schreibt, fragt sie mich, wie das Kissen denn heißt. Ich antworte ihr, dass ich es Sitzkissen nennen würde. Sie schreibt auf, dass sie es mag auf dem Sitzkissen zu sitzen, aber noch lieber auf dem blauen Schreibtischstuhl sitzt. Das Sitzkissen mag sie, da sie dann wackeln und tanzen kann und der blaue Schreibtischstuhl ist besonders kuschelig. Sie gibt mir den Block zurück und lächelt stolz.

 

Analytische Dimensionierung

Aus der vorliegenden Dichten Beschreibung sind mehrere Kriterien herauszufiltern, die eine besondere Bedeutung im vorliegenden Setting bei der Platzwahl haben. Folgende Punkte sind mir bei meiner Analyse besonders aufgefallen, was aber andere wichtige Punkte nicht ausschließt. Daher möchte ich in meiner Analytischen Dimensionierung insbesondere auf die Aspekte Raum, Materialität, Freundschaft und Geschlechter ein Augenmerk legen.

 Raum

Schulisches Lernen und soziales Miteinander findet zu einem großen Teil im Klassenraum statt. Daher ist die Beschaffenheit des Raumes zentral für die folgende Analyse. Wie wird der Raum genutzt, insbesondere in der Hinsicht auf die Platzwahl? Welcher Raum wird für sich selbst bzw. für andere beansprucht und wie wird dieser im schulischen Handeln konstituiert?

Insgesamt lässt sich der Klassenraum in verschiedene Handlungsräume unterteilen. Diese wären zum Beispiel der Sitzkreis, der etwas vom Unterrichtsgeschehen abgetrennt ist durch Tische, Regale und Sitzreihen. Der Sitzkreis bietet ein fest ritualisiertes Beisammensein, was in einer gemeinschaftlichen Form stattfindet und durch die quadratische Anordnung ein erhöhter visueller Raum ermöglicht wird. Dieser Raum ist besonders durch seine Nähe und Gemeinschaftlichkeit geprägt, während Sitzreihen und Gruppentische für die Einzel-, Partner- oder Kleingruppenarbeit vorgesehen sind. Der eigene beanspruchte haptische Raum ist im Sitzkreis ebenfalls kleiner und enger als an den Arbeitstischen. Zum Teil machten Kinder, wie in den Beschreibungen erkenntlich, Bemerkungen, dass ihnen dieser Raum zu eng ist und gerne weniger Körperkontakt hätten. Dies wird indirekt auch an der zur Hilfenahme eines Stuhls von Abdul sichtbar, der dadurch den Vorteil von mehr und gesicherterem Platz besitzt. Zwar wissen die Schüler, dass dies von der Lehrperson nicht gewollt ist, versuchen dies jedoch oft. Das Arbeiten an den Arbeitsplätzen scheint fest definiert zu sein. Jedes Kind nutzt in etwa die Hälfte eines Doppeltisches sowie einen Stuhl. Dies kann auch als festes Territorium zum Arbeiten im Regelfall beschrieben werden. Aber nicht nur „übliche Plätze“ können für das Arbeiten genutzt werden. Zwei Schülerinnen arbeiten beispielsweise oft auf dem Teppich zwischen Tafel und Lehrerhochtisch. Dieser Ort wurde von ihnen als spezifischer Handlungsort in Bezug auf schulisches Arbeiten konstituiert. Die Gruppentische im Klassenraum verfügen über verschiedene akustische Räume. Bei der Befragung nennen Kinder, dass sie lieber an dem leiseren Gruppentisch sitzen oder auch weitere Kriterien, wie ein Tisch mit Blick nach draußen. Auch Devin wählt einen Ort, an dem er das Geschehen des blauen Schreibtischstuhl genau mitverfolgen kann. Sichtbar wird, dass den Kindern unterschiedliche Kriterien in Bezug auf den Raum wichtig sind, diese können z.B. visueller, akustischer oder auch haptischer Natur sein.

 Materialität

Insbesondere die Materialität im Raum scheint zentral für die Platzwahl. Dies wird sowohl im Sitzkreis als auch an den Arbeitstischen deutlich. Zentrales Beispiel ist hier der blaue Schreibtischstuhl, der eine gewissen Komfort im Gegensatz zu den üblichen Stühlen hat. Schüler scheinen diesen Platz regelrecht zu genießen und sich durch Schnelligkeit erkämpfen zu müssen. Da er jedoch an bestimmten Tagen für die Integrationskraft reserviert ist, bleibt dieser Stuhl für längere Zeit frei. Daher ist gut sichtbar, wie beliebt dieser ist und auch, dass er anderen Mitschülern nicht „einfach so“ überlassen werden kann. Devin hat es sich im Prinzip zur Aufgabe gemacht, den Stuhl freizuhalten und ihn rechtmäßig der Integrationskraft zu übermitteln, dafür sucht er auch meine Hilfe, höchstwahrscheinlich in der Rolle der aufpassenden Praktikantin. So rückt er den Stuhl auch in die Mitte des Raumes, sozusagen als Zeichen der nicht Verfügbarkeit. Dadurch kann er Kinder darauf aufmerksam machen, dass dieser Platz heute nicht zur freien Verfügung steht, was jedoch nicht ganz funktioniert. Aber auch andere Stühle haben eine erhöhte Bequemlichkeit oder Attraktivität, sind aber bei den meisten Schülern in einer Skala mit weniger Wert bemessen als der blaue Schreibtischstuhl. Beispielsweise bietet der Klassenraum auch Stühle mit Polsterung, die scheinbar für Devin eine Alternative bieten. Des Weiteren gibt es Hocker, die geeignet sind zum „Wackeln“ und „Tanzen“. Diese sind scheinbar ebenfalls favorisiert, da diese zum Teil mitgeschleppt werden, um Gegenstände aus den persönlichen Ablagefächern zu holen. Dies bietet ein Indiz dafür, dass Stühle auch mal gerne von Tischen getauscht werden. Die Stühle sind daher alle in ihren Plätzen genauso wie die Schüler platzierbar mit Ausnahme des blauen Stuhls, dieser darf nur an einem vorgegebenen Platz genutzt werden und ist dadurch mit klasseninternen Strukturen belegt. Aber auch der Sitzkreis hat Plätze, die zu einem kleinen Schrank Zugriff haben. In diesem befinden sich beispielsweise Kuscheltiere, die zum Spielen genutzt werden können (Als ich mich einmal an den Platz gesetzt habe, wurde ich gefragt, ob ich den Platz tauschen kann.) und ebenfalls eine bestimmte Beschäftigung insbesondere vor dem Unterrichtsbeginn bieten. Zum Teil sind es jedoch immer ähnliche Schülergruppen, die sich für einen solchen Komfort interessieren bzw. ein höheres Interesse aufbringen, was sie veranlasst schnell und mit mehr Aufwand an solche Plätze zu gelangen. Andere Kinder scheinen bestimmte Dinge nicht zu interessieren. Beispielsweise nutzen Lina und Emilia den Teppich als Arbeitsgelegenheit, aber nicht den blauen Schreibtischstuhl. Dies ist ebenfalls ein Indiz für unterschiedliche Habitusgruppen und damit verbundenen verschiedenen Interessen. Ebenfalls entscheidet die Lehrerin oder gemeinsam erschlossene Regeln, dass bestimmtes Mobiliar oder Dinge zu manchen Zeiten nicht gestattet sind. Beispielswiese durch den Klassenratsbeschluss, der der Integrationskraft Tage für den blauen Stuhl reserviert hat oder, dass mit den Kuscheltieren nicht während der Unterrichtszeit gespielt werden darf. Allgemein zeigt insbesondere die Materialität des Raumes, die diesem zu einem solchen konstituiert, eine hohe Dichte an Interaktionen. Materialität scheint einen großen Einfluss auf die Wahl des Platzes zu haben sowie auf die Interessen der Schüler.

 Freundschaft

Jedoch auch die Interaktionen zueinander sind ausschlaggebend für die Wahl des Platzes. Die Sitznachbarn der Kinder deuten darauf hin, dass Freundschaften ebenfalls eine Bedeutung spielen. Sowohl der Sitzkreis als auch die Arbeitsplätze sind von immer gleichen Konstellationen geprägt. Durch ein häufiges Beisammensein und das Spielen in der Pause bewerte ich diese Beziehung als Freundschaft. Insbesondere im Sitzkreis zeigt sich die Besonderheit, dass Kinder sich gegenseitig Sitzplätze freihalten. Dies tun einige durch Rufen oder Klopfen auf der Bank. Dadurch wird der Person und ihrem Umfeld symbolisiert, dass dieser bestimmte Platz reserviert bleiben soll. Ebenfalls deutlich wird, dass diejenigen die auf der Bank sitzen eine Art Vorrecht darüber haben, wer neben ihnen sitzen soll, sie können sozusagen auf die Platzwahl anderer Einfluss nehmen. Meistens, insbesondere vor Unterrichtsbeginn, dient der Sitznachbar der Unterhaltung. Darunter sind nicht nur übliche Konversationen zu verstehen, sondern auch das Spielen mit Kuscheltieren oder ein Raufen auf der Bank. Diese Tendenz bildet sich auch bei den Freiarbeitsplätzen ab. Die Tische sind im Prinzip bereits gemeinschaftlich konzipiert, so können in der Regel immer mindestens zwei Schüler an einem Tisch sitzen. Diese Konstellationen werden ebenfalls aufgrund von freundschaftlichen Komponenten gewählt und dadurch ähnlich wie im Sitzkreis. Dies erleichtert für die Kinder ebenfalls die Partnerarbeit, die sie am liebsten mit ihren Freunden machen. Auch in dem Gespräch mit Elyas wird deutlich, dass er den Platz gewählt hat, da er neben seinem Freund Devin sitzen möchte. An den Arbeitsplätzen befinden sich an den Gruppentischen zum Teil auch Peergroups, das heißt, dass bis zu vier Kindern ähnlichen Alters an einem Gruppentisch sitzen. Dies geschieht jedoch eher bei den Viertklässlern. Die Erstklässler befinden sich oft in einer zweier Konstellation, wahrscheinlich da sie sich in diesem kleineren Rahmen geschützter Fühlen und durch ihren kürzeren Aufenthalt im Klassenverbund noch über weniger soziale Kontakte verfügen. Insbesondere bei der Anordnung der Schüler sind direkte Nachbarn von Bedeutung, diese werden oft in der gleichen oder zumindest ähnlichen Konstellation gewählt. Dies kann mit dem repetitiven Verhalten von Menschen erklärt werden, da sie nicht immer wieder neu entschieden, da Freundschaftsmerkmale nicht immer wieder neu überprüft und miteinander kommuniziert werden.

 Geschlechterordnung

Auch geschlechterspezifische Merkmale prägen die Sitzplatzwahl. Dies ist besonders im Sitzkreis ersichtlich, durch den im Prinzip eine Diagonale zwischen Jungen und Mädchen gezogen werden könnte. Die Mädchen der Klasse besetzen mit einer Ausnahme die Bank hinter dem Whiteboard, welche auch einen Platz für die Lehrerin enthält sowie die rechte Bank. Die Jungen beanspruchen die linke und der Lehrerin gegenüberliegende Bank. Elif sitzt in meiner Beobachtung gegenüber von der Lehrerin zwischen den Jungen, in anderen Beobachtungen sitzt sie jedoch auch bei ihren Freundinnen neben der Lehrerin, wobei nicht in direkter Nachbarschaft. Das liegt womöglich an ihren unterschiedlichen Freundesgruppen. Zum Teil spielt sie in der Pause mit den Jungen Fußball, wohingegen sie auch oft mit ihren Freundinnen im oder zwischen dem Unterricht Zeit verbringen. Die Reihenfolge der Personen wird zum Teil getauscht, doch der Wechsel der Bank bzw. einer Gruppe ist in meinen Beobachtungen bis auf diese Ausnahme nicht ersichtlich. Im Prinzip besitzen sie eine „Stammbank“ und eine Platzspanne von maximal drei bis vier Plätzen. Auch ist der Schrank, der zum Spielen mit Kuscheltieren und Anlehnen genutzt wird, zwischen Jungen und Mädchen aufgeteilt, beide haben Zugang zu diesem. Diesen Platz besetzen jedoch unterschiedliche Personen. Die Arbeitsplätze sind ebenfalls geschlechterhomogen gestaltet, wobei diese Homogenität des Öfteren durch zum Beispiel der Losung von Partnern beim Stationenlernen aufgebrochen wird. So ist in dieser Beobachtung ein Gruppentisch mit drei Jungen und einem Mädchen besetzt. Zum Teil werden auch Gruppentische mit der Hälfte an Jungen und Mädchen besetzt. Dass die Klasse sich oft geschlechterhomogen bei der Platzwahl anordnet, scheint im Klassenkontext eher als Normalität zu gelten und wird selten explizit benannt. Geschlechter scheinen in diesem Kontext ebenfalls zu einer Art interessengeleiteten Gruppe zu gehören, die eine bestimmte Auswahl von Sitzgelegenheiten präferiert. Dennoch befinden sich die Schüler in mehreren Gruppen, welches zum Beispiel die Wahl von Elif erklärt. Sie kann sich mit ihren weiblichen gleichaltrigen Mitschülern identifizieren sowie auch mit männlichen, da sie mit ihnen zum Beispiel das Hobby Fußball teilt. Eine geschlechterhomogene Anordnung ist jedoch auch durch Freundschaften geprägt, da diese in den meisten Fällen gleichgeschlechtlich sind.

Fazit

Zusammenfassend können hier einige Eigenlogiken des Feldes in Bezug auf die Platzwahl herauskristallisiert werden. Sowohl im Sitzkreis als auch an den Arbeitsplätzen spielen ähnliche Kriterien eine wichtige Rolle, die das Handeln der einzelnen Akteure steuern. Diese Auswahl der Kriterien hat, wie in der ethnografischen Forschung nur möglich, einen erheblichen Teil mit meiner Rolle als Forscherin zu tun. Daher sind natürlich weitere Auffälligkeiten nicht auszuschließen, sondern nur durch meinen individuellen Blick hier erst einmal unberücksichtigt.

Der Klassenraum verfügt über unterschiedliche Handlungsräume, diese können beispielsweise visueller, akustischer und haptischer Natur sein (vgl. Breidenstein 2006, S. 43ff.) und durch sie verorten sich Kinder an unterschiedlichen Stellen des Raumes. Diese sind zum Teil freiwillig gewählt oder auch durch die Rituale des Unterrichts vorgegeben. Der Sitzkreis verfügt beispielsweise über einen visuell offenen und haptisch engen Raum. Bei akustisch ruhigen Räumen handelt es sich um bestimmte Gruppentische, die dieses Kriterium bieten. Sitznachbarschaften verfügen über die meisten Interaktionsmöglichkeiten, beispielsweise einem visuell, akustisch oder haptisch angeregtem Raum. Der Rolle der Materialität bietet ebenfalls eine große Bedeutung bei der Wahl des Ortes im Raum. Wobei einiges Mobiliar umplatziert werden kann. Dadurch kann ein eigener konstruierter Ort geschaffen werden, der den momentanen Bedürfnissen entspricht. Dies geschieht zum Beispiel beim Zusammenstellen von einem „besonderen“ Stuhl zum gewünschten Tisch oder bei der Wahl des Teppichs als Arbeitsplatz. Insbesondere lässt sich beim blauen Schreibtischstuhl eine große Handlungsdichte feststellen, da er über einen gewissen Komfort verfügt. Während der Raum und die Materialität Auskunft über die Verortung geben, lassen sich aus freundschaftlichen und geschlechterspezifischen Aspekten grundlegende Informationen für die Anordnung der Kinder ableiten. Direkte Nachbarn bzw. das unmittelbare Umfeld sind auffällig stark durch die Anordnung nach Freundschaften geordnet. Zudem lässt sich die geschlechterhomogene Anordnung der Schüler vor allem im Sitzkreis nicht übersehen. Hierzu sind auch Überschneidungen mit den Ergebnissen zur Sitzordnung bei Willems (vgl. 2007, S. 2f.) zu finden, die ebenfalls eine strikte Geschlechtertrennung identifiziert, die ebenfalls durch die Körperhaltung abgegrenzt sichtbar wird. In diesem Fall ist es nicht die Körperhaltung, sondern die Einteilung in Sitzbänke, die als Trennung gesehen werden kann. Diese Anordnung ist natürlich nicht zuletzt auch durch freundschaftliche Aspekte bedingt, da diese in der Regel ebenfalls gleichgeschlechtlich sind. Die Klasse ist durch ihre eigenen Logiken sowie gesellschaftliche Strukturen geprägt, die ebenfalls eine starke räumliche Komponente aufweist, wie zuvor gezeigt. Die Akteure der Klasse konstruieren ihren Raum und handeln nach diesem, welches eine Beobachtbarkeit zur Folge hat. Auch bei Materialität, Orten und Anordnungen wird dieses Prinzip sichtbar. Das Handeln ist dabei durch gewisse repetitive Muster, die zur Folge haben, dass Schüler immer wieder nach gleichen oder ähnlichen Mustern handeln, über Gewohnheitsplätze und -anordnungen verfügen, bestimmt. Daher ist insbesondere eine genaue und befremdete Betrachtung notwendig, um die Ebene des Selbstverständlichen zu durchbrechen, was in der ethnografischen Forschung eine unerlässliche Bedingung darstellt. Nicht zuletzt sind Handlungen habituell geprägt, d. h. durch Zugehörigkeiten verschiedener Gruppen. Dies erklärt vor allem, warum z.B. manches Mobiliar, Sitzkreisanordnungen oder bestimmte soziale Interaktionen für einige Kinder interessant waren und für andere wiederum nicht.

Insbesondere ist es von Bedeutung, dass die Ethnografie immer mehr die Kindheit als eigenes Forschungsfeld erkennt und die Perspektiven von kindlichen Akteuren mehr Einklang in die Schul- und Unterrichtsforschung finden (vgl. Lange & Wiesemann 2012, S. 264). Der Klassenraum sollte für oder auch von Kindern passend auf ihre Lebenswelt und Bedürfnisse gestaltet werden. Daher ist es wichtig, solche selbstverständlich scheinenden Bereiche weiter in der Forschung zu vertiefen sowie auch als Lehrperson einen befremdeten Blick für das eigene Umfeld zu gewinnen, um dadurch professionell handeln zu können.

Literaturverzeichnis

Amann, K. & Hirschauer, S. (1997). Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In S. Hirschauer & K. Amann (Hg.), Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnografischen Herausforderung soziologischer Empirie (S. 7-52). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Breidenstein, G. (2006). Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob (Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 24). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Breidenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H. & Nieswand, B. (2015). Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung (2. Aufl.). Konstanz/München: UKV Vertragsgesellschaft mbH.

Lange, J. & Wiesemann, J. (2012). Ethnografie (2. Aufl.). In F. Heinzel (Hg.), Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive (S. 262-277). Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Löw, M. (2001). Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Löw, M. (2007). Zwischen Handeln und Struktur. Grundlage einer Soziologie des Raums. In F. Kessl & H.-U. Otto (Hg.), Territorialisierung des Sozialen. Regieren über soziale Nahräume (S. 81-100). Opladen/Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich.

Lüders, C. (2012). Beobachten im Feld und Ethnografie. In U. Flick, E. von Kardorff & I. Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S. 384-401). Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Willems, K. (2007). Fach und Geschlecht – Sitzordnung Klasse A – Geschlechtertrennung. Abgerufen von http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/backup/wpcontent/plugins.old/lbg_chameleon_videoplayer/lbg_vp2/videos//willems_sitza_ofas.pdf, 16.12.2013.

[1]   In dieser Arbeit wird im Folgenden, aus Gründen der Übersichtlichkeit, nicht zwischen dem weiblichen und männlichen Geschlecht unterschieden. Selbstverständlich inkludiert die männliche Form in dieser Arbeit auch die weibliche.

[2] Im Folgenden werde ich die Begriffe „Gruppentisch“ und „Zweiertisch“ bzw. „Doppeltische“ verwenden. Letzteres beschreibt einen länglichen Tisch, an den zwei Stühle gestellt werden können. Ein Gruppentisch ist die Zusammenstellung dieser Zweiertische.

Geschützt: Kommunikation und soziale Ordnung im Übergangsritual zwischen Arbeitsplatz und Sitzkreis (Nils Wienand)

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Geschützt: Gestik und Mimik in der Kommunikation / Interaktion im Unterricht (Janika Heinzerling)

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