Wie vollziehen Grundschülerinnen und Grundschüler die Freiarbeitsphase im Hinblick auf das Verhältnis zwischen sachbezogener Tätigkeit, Nebentätigkeit und Untätigkeit? (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht. Auch etwaige Hinweise (wie z.B. der Standort der Schule) wurden daher nachträglich anonymisiert.

Inhalt

  • Einleitung
  • Forschungsgegenstand
    • Definition
    • Ethnographische Studien
  • Das Feld
    • Die Lernkultur
    • Die Ethnographie als Forschungsmethode
    • Die Rolle und Reaktionen im Feld
  • Dichte Beschreibung und Analytische Dimensionierung
    • Erhebung 1
      • Die Situation
      • Die Beobachtung
      • Die Analyse
    • Erhebung 2
      • Die Situation
      • Die Beobachtung
      • Die Analyse
  • Zusammenfassung, Diskussion und Fazit
  • Literaturverzeichnis

1.   Einleitung

Die vorliegende Arbeit fokussiert die Handlungspraktiken der Schülerinnen und Schüler innerhalb derFreiarbeitsphase. Dabei wird insbesondere das Verhältnis zwischen sachbezogener Tätigkeit, Nebentätigkeit und Untätigkeit untersucht, welches innerhalb der Wissenschaften noch sehr unerforscht ist (vgl. Breidenstein et al. 2017b, S. 206).

Die Freiarbeit wird als eine von mehreren Unterrichtsformen offenen Unterrichts verstanden (vgl. Lähnemann 2009, S. 35). Dabei richtet sich die Öffnung des Unterrichts vor allem gegen die starre Geschlossenheit des lehrerzentrierten Frontalunterrichts (vgl. Breidenstein et al. 2017a, S. 19). Mit den reformpädagogischen Bewegungen der Jahrhundertwende in den 1970er-Jahren gewannen die Ansätze offenen Unterrichts und damit auch der Freiarbeit zunehmend an Bedeutung. Als Pionierin gilt Maria Montessori mit der Freien Wahl der Arbeit, deren Publikationen auch heute noch für die Forschung relevant sind (vgl. Bohl und Kucharz 2013, S. 28).

Doch auch aufgrund der soziologischen, ökonomischen und arbeitsweltlichen Veränderungen der modernen Gesellschaft werden Kompetenzen wie Selbstständigkeit, Teamfähigkeit, Sozialkompetenz und Entscheidungskompetenz notwendige Voraussetzungen, um den Lebenserfolg der Kinder zu erhöhen (vgl. Heinzel 2006, S. 80). Wallrabenstein und Drews (2002, S. 12) sehen vor allem in der Freiarbeit eine angemessene Möglichkeit, um auf den sozialen Wandel und der damit verbundenen Vielfalt und Heterogenität innerhalb der Gesellschaft reagieren zu können.

Mit dem Paradigmenwechsel von einem lehrerzentrierten Unterricht hin zu einem offenen Unterricht gehen jedoch auch diverse Veränderungen einher. Während der lehrerzentrierte Unterricht die Aufmerksamkeit und dieTätigkeiten der Schülerinnen und Schüler auf einen geteilten Inhalt hin ausrichtet, wird bei offenen Unterrichtsformen, wie der Freiarbeit, auf eine Zentrierung der Aufmerksamkeit aller Teilnehmenden auf einen gemeinsamen Unterrichtsgegenstand explizit verzichtet (vgl. Rademacher 2017, S. 32). Mit der Freiarbeit gewinnen die Schülerinnen und Schüler somit neue Freiheiten, die sie nutzen können. Charakteristische Merkmale sind Bewegungsfreiheit, Wahlfreiheit in Bezug auf Arbeitsthema und Arbeitsmaterial und Entscheidungsfreiheit über Reihenfolge, Lernort, Zeit und Sozialform (vgl. Krieger 1998, S. 201). Wallrabenstein und Drews (2002, S. 12) sprechen im Kontext der Freiarbeit von einem veränderten pädagogischen Konzept, welches sich durch ein „verändertes Menschenbild (Selbstverantwortung), durch eine veränderte Kindorientierung (Selbsttätigkeit), einen veränderten Unterrichtsanspruch (Leistung und Differenzierung), einen veränderten Lernbegriff (aktiver Umgang mit Wissen) und eine veränderte Berufsrolle der Lehrenden (Diagnose, Beratung, Förderung)“ kennzeichnet.

Die Veränderungen, die sich mit der Dezentrierung der Schülertätigkeiten und der damit einhergehenden Selbsttätigkeit ergeben, stellen jedoch vor allem im Hinblick auf den Grundschulunterricht eine große Herausforderung für die Lernenden dar. Dabei wird auch innerhalb der Wissenschaften durchaus kontrovers diskutiert, ob Grundschülerinnen und Grundschüler überhaupt in der Lage sind, mit dieser Freiheit adäquat umzugehen (vgl. Hess und Lipowsky 2017, S. 28). Eine solche Art der Fragestellung fokussiert jedoch sehr starkdie Wirksamkeit von Freiarbeit. Die Untersuchung der Wirksamkeit von Freiarbeit ist jedoch nicht das Ziel der vorliegenden ethnographischen Arbeit. Vielmehr geht es um die Fragen, wie die Akteurinnen und Akteure die Freiarbeitsphase vollziehen, welche Praktiken dabei zum Vorschein kommen und wie das Verhältnis zwischensachbezogener Tätigkeit, Nebentätigkeit sowie Untätigkeit innerhalb der Stichprobe beschrieben werden kann.

Um zunächst eine theoretische Grundlage zu legen, beschäftigt sich der erste Teil der vorliegenden Arbeit mit dem Forschungsstand zum Thema Freiarbeit. Dabei wird zunächst dargelegt, was innerhalb der Wissenschaften unter Freiarbeit verstanden wird. Anschließend wird der ethnographische Forschungsstand zusammenfassend dargestellt. Im zweiten empirischen Teil erfolgt dann die ethnographische Erhebung in Formvon zwei dichten Beschreibungen und jeweils einer analytischen Dimensionierung. Zum Schluss werden die Ergebnisse dieser Analyse detailliert berichtet, interpretiert sowie diskutiert.

2.   Forschungsstand

  • Definition

„Ich werde mich an der Diskussion, was denn rechte Freiarbeit sei, nicht beteiligen“ (Sennlaub 1990, S. 11). Der Autor macht auf die fehlende einheitliche Begriffsklärung aufmerksam. Aus der heutigen Perspektive ist jedoch klar, dass die Freiarbeit als einer von mehreren Bestandteilen offenen Unterrichts verstanden werden kann (vgl. Bohl und Kucharz 2013, S. 13). Doch wann kann im Kontext des offenen Unterrichts von Freiarbeit gesprochen werden und wann nicht? Kann das Spielen auch der Freiarbeit zugeordnet werden? Da eine Nichtberücksichtigung dieser Fragen eine Vergleichbarkeit der Studien erschwert, fordern Bohl und Kucharz (2013, S. 12) trotz der Schwierigkeiten und Unterschiede auf, das Begriffsverständnis zu klären.

Nach Wallrabenstein und Drews (2002, S. 10) wird die Freiarbeit „als eine Unterrichtsform bezeichnet, in der Kinder frei von direkter Steuerung durch die Lehrperson aus einem vielfältigen Lernangebot in freier Sozialform Lerntätigkeiten entwickeln.“ Die Definition fokussiert einen Lernenden, der aus einem vielfältigen Angebot eigenständig lernt und tätig ist. Auch Lähnemann (2009) macht aufden Begriff des Tätigseins aufmerksam. Die Schülerinnen und Schüler „müssen tätig sein und ihre Zeit nutzen“ (ebd., S. 37). Dabei geht es jedoch nach Gervé (2003, S. 274) nicht darum, „dass Kinder in der Schule machen was sie wollen, sie im Sinne des Freispiels irgendwie beschäftigen, sondern es geht darum, dass sie einen Rahmen bekommen, der es ihnen erlaubt, selbstbestimmter und individueller Lernziele zu verfolgen.“ Der Autor macht auf den Unterschied zwischen „Freiarbeit“ und „Freispiel“ aufmerksam. Auch Breidenstein et al. (2017b, S. 203) betonen: „Die Freizeit mag davon gekennzeichnet sein, dass man spielt, sich zerstreut oder sich entspannt – all dies kann nicht Bestandteil von ‚Freiarbeit‘ sein.“ Potthoff (1995, S. 54) hingegen ist der Auffassung, dass es keine Grenzen zwischen Spiel und Arbeit gibt. Der Autor bemerkt, dass inniges Spielen oftmals Arbeit ist, sofern dabei in der Freiarbeitsphase nicht gerannt, getobt und gelärmt werde.

Zusammenfassend lässt sich aufgrund der kontroversen Perspektiven festhalten: Die

„Freiarbeit enthält die beiden Pole ‚Freiheit‘ und ‚Arbeit‘, die zu einem ausgewogenen Verhältnis kommen müssen“ (Lähnemann 2009, S. 37).

  • Ethnographische Studien

Bei der Auseinandersetzung des Forschungstandes zum Thema Freiarbeit kann aus der gegenwärtigen Perspektive konstatiert werden, dass derzeit noch wenige ethnographische Studien vorliegen. Es gibt zwar bereits Studien im Feld, diese fokussieren jedoch andere Formen des offenen Unterrichts wie beispielsweise die Wochenplanarbeit oder Kreisgespräche. Dabei werden vorwiegend quantitative Methoden, die auf die Wirksamkeit des offenen Unterrichts abzielen, genutzt. Doch auch hinsichtlich des Forschungstandes des offenen Unterrichts stellt Lipowsky (2002, S. 126) fest, dass dieser sehr defizitär ist, da sowohl positive als auch negative Effekte innerhalb der Literatur herausgestellt werden. Für diese Arbeit sind jedoch ausschließlich qualitative Studien zum Thema Freiarbeit relevant, die im Feld durchgeführt wurden. Diese werden im Folgenden zusammengefasst.

Röbe (1986) beobachtet ein Jahr lang Schülerinnen und Schüler einer Grundschulklasse innerhalb der Freiarbeitsphase, welche immer zu Beginn des Schultages stattfand. Dabei hat er neben quantitativen Beobachtungen auch qualitative Beobachtungen in Form von Beobachtungsprotokollen erhoben. Der Autor stellt fest, dass anfangs spielerische Aktivitäten im Vordergrund standen, diese jedoch im Verlaufe des Schuljahres zunehmend durch anspruchsvollere Lernmaterialien ersetzt wurden (vgl. ebd., S. 624). Zudem zeigen seine Beobachtungen, dass die Schülerinnen und Schüler am Anfang des Schuljahres noch Probleme dabei hatten, sich eine Arbeit zu suchen und diese auch konsequent durchzuführen (vgl. ebd., S. 629). Später konstatiert der Autor, dass die Probandinnen und Probanden zunehmend lernten, fokussierter und konzentrierter zu arbeiten. Insgesamt zieht Röbe vor allem im Hinblick auf die Förderung der Zielgerichtetheit der Aktivitäten und dersozialen Kompetenz ein positives Fazit.

Auch Fähmel (1981) beobachtet Grundschülerinnen und Grundschüler innerhalb der Freiarbeitsphase und stelltden sozialen Aspekt in ihren Erhebungen heraus. Die Autorin beobachtet, dass die Probandinnen und Probanden sich trotz der doch unterschiedlichen individuellen Lerngegenstände austauschen und somit soziale Verhaltensweisen entwickeln (vgl. ebd., S. 227).

Wagner und Schöll (1992) untersuchten das selbstständige Lernen von Kindern einer vierten Grundschulklasse in der Freiarbeit, wobei fünf leistungsstarke und fünf leistungsschwache Schülerinnen und Schüler an zehn Erhebungstagen jeweils 30 Minuten teilnehmend beobachtet wurden. Sie beobachteten, dass die Lernenden bei einer einmal begonnenen Arbeit konsequent blieben. Ein sprunghaftes Verhalten konnte somit nicht beobachtet werden. Die Autorinnen und Autoren stellen jedoch auch fest, dass nur eine begrenzte Zahl an Materialien aus dem Lernmittelkontingent gewählt wurde und bestimmte Lernangebote bevorzugt bearbeitet wurden. Zudem beobachten sie, dass vor allem die leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler vorwiegend die Einzelarbeit als Sozialform wählten, während leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler vermehrt mit anderen zusammenarbeiteten und mit diesen in Interaktionen traten (vgl. ebd., S. 46). Die Autorinnen und Autoren betonen jedoch, dass sowohl die leistungsstarken als auch die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler sich mit selbstgewählten Aufgaben arbeitsbezogen beschäftigten (vgl. ebd., S. 48).

Henry (2001) hat über mehrere Wochen eine jahrgangsübergreifende Klasse während der Freiarbeit teilnehmendbeobachtet. Die Autorin konstatiert im Gegensatz zu Wagner und Schöll (1992), dass Schülerinnen und Schüler mit geringen Selbststeuerungsfähigkeiten in der Freiarbeit überfordert sind (vgl. ebd., S. 213). Zudem bemerkt sie, dass die Kinder zwar kooperieren, sich aber weniger mit sachlichen Problemstellungen auseinandersetzen (vgl. ebd., S. 214).

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Lipowsky (1999) in seinen qualitativen Beobachtungen. Der Autor beobachtet neun Grundschulklassen. Dabei wählt er den Beobachtungsfokus, wie Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlicher Konzentrationsfähigkeit in offenen Lernsituationen ihre Lernzeit nutzen (vgl. ebd., S. 118). Seine Ergebnisse zeigen, dass die manuellen Tätigkeiten der Schülerinnen und Schüler dominieren und kognitiv anspruchsvollere Tätigkeiten nur selten beobachtet werden konnten (vgl. ebd., S. 203). Zudem stellt Lipowsky fest, dass nicht alle Kinder in der Lage sind, die Lernangebote effektiv zu nutzen. Viele Schülerinnen und Schüler agierten passiv, sodass die Schülertätigkeiten den Eindruck der Zufälligkeit und Beliebigkeit hinterließen (vgl. ebd., S. 205). Auch Garlichs (1990, S. 42) beobachtet Kinder in der Freiarbeit, die antriebslos sind oder sich inNebensächlichkeiten verzetteln.

Grindel (2007) untersucht vier hochbegabte Schülerinnen und Schüler in der Freiarbeit, die eine Montessori-Schule besuchen. Die Ergebnisse zeigen zwar, dass alle vier Probandinnen und Probanden selbsttätig agieren, jedoch kaum anspruchsvollere Materialien ausgewählt werden, die das problemorientierte, forschende und entdeckende Lernen ansprechen (vgl. ebd., S. 266). Somit bestätigen Grindels Ergebnisse auch die Einschätzungen Lipowskys (1999).

Breidenstein und Rademacher (2017b) haben im Rahmen eines ethnographischen Forschungsprojektes vier Grundschulen 23 Wochen lang teilnehmend beobachtet. Die Autorinnen und Autoren identifizieren vor allem Praktiken des flexiblen Wechsels des Arbeitsortes, welche mit einer Bewegung der Körper innerhalb des Klassenzimmers einhergehen. Dabei „entstehen immer wieder neue und […] wechselnde Zentren des Geschehens, die sich situativ auch sehr schnell wieder auflösen können“ (ebd., S. 9). Diese Flexibilität und Bewegungen stellen nach Breidenstein und Rademacher den entscheidenden Unterschied zwischen offenen und lehrerzentrierten Unterrichtsformen dar. Zudem zeigen ihre Beobachtungen, dass einige Arbeitsplätze beliebter als andere Arbeitsplätze sind. Dadurch entstehen Praktiken des Behauptens (vgl. ebd., S. 36) und der Eroberung bestimmter Terrains (vgl. edb., S. 215). Die Autorinnen und Autoren ermitteln zudem Praktiken des Simulierens. Sie beobachteten Schülerinnen und Schüler, die das Lesen oftmals nur simuliert haben, um sichstattdessen anderen Nebenbeschäftigungen, wie dem Sprechen mit anderen Kindern oder Praktiken des passiven Zuschauens widmen zu können (vgl. ebd., S. 201).

Der bisherige Forschungsstand zum Thema Freiarbeit zeigt, dass es Graubereiche zwischen der aktiven Teilnahme am Unterricht und verdeckter Nebenbeschäftigungen gibt. Für diese nicht-unterrichtlichen Praktiken interessiert sich die ethnographische Forschung schon lange. Zinnecker (1978, S. 34) beschreibt Orte, an denen Schülerinnen und Schüler unbeobachtet agieren können als „Hinterbühnen“. Vor allem auf den Hinterbühnen können sich Subkulturen entfalten. Auch Wagner-Willi (2005) untersuchte die Hinterbühnen der Peeraktivtäten bei dem Übergang von Pause zum Unterricht. Doch vor allem hinsichtlich der Freiarbeit ist das Feld der Nebentätigkeiten von Schülerinnen und Schülern innerhalb der Grundschule noch wenig erforscht (vgl. Breidenstein und Rademacher 2017b, S. 206), sodass die vorliegende Arbeit sich diesem Desiderat genauer widmen soll.

 

3.   Das Feld

Im folgenden empirischen Teil der Arbeit wird zunächst das Feld, in welchem die Erhebung stattfand, beschrieben. Anschließend wird der methodische Zugang der Ethnographie und die damit verbundenen Reaktionen des Feldes auf meine Rolle als Forscher dargelegt.

  • Die Lernkultur

Die Erhebungen erfolgten in einer ersten Klasse einer Regelgrundschule, die ich im Rahmen meines Praxissemesters von dem 22.02.2021 bis zum 02.07.2021 begleitete. Die Klasse befand sich zum Erhebungszeitraum im zweiten Halbjahr des ersten Schuljahres, welches signifikant von der Corona-Pandemie und dessen Begleiterscheinungen geprägt war. Gesamtbetrachtet fand aufgrund des Distanz- und Wechselunterrichts sehr wenig Präsenz- und damit auch Freiarbeitsunterricht statt, sodass die Vorerfahrungen in Bezug auf das selbsttätige Lernen sehr begrenzt sind.

Der Klassenraum der untersuchten Klasse besteht aus einer tafelzentrierten Anordnung der Tische, wobei immer zwei Schülerinnen und Schüler zusammensitzen. Das Lehrerpult befindet sich unmittelbar neben der Tafel und ist frontal auf die Blickrichtung der Schülerschaft hin ausgerichtet. Auf dem rechten Tafelflügel hängt eine laminierte Transparenzübersicht mit vier untereinander geordneten Din-A4-Kärtchen, welche die Kinder daran erinnern soll, wie der Schultag richtig anfängt. Zunächst soll sich die Hände gewaschen, dann die Postmappe kontrolliert und anschließend das Mäppchen auf den Tisch gelegt werden. Das letzte Kärtchen beinhaltet die Aufschrift „Ich hole mir eine Aufgabe und arbeite im offenen Anfang“. An der linken Längswand des Klassenraumes ist das Lernregal verortet, in welchem sich das Freiarbeitsmaterial befindet. Dieses ist in vier abgetrennte Bereiche aufgeteilt. An dem Regal des ersten Bereiches befindet sich ein Aufkleber, auf welchem ein Buch abgebildet ist. Dieser soll das Fach Deutsch darstellen. Ein Aufkleber mit roten und blauen Plättchenkennzeichnet den zweiten Bereich, welcher dem Fach Mathematik zugeordnet wird. Den dritten Bereich symbolisiert ein Aufkleber, auf welchem eine Hand zu sehen ist. Dieser repräsentiert Materialien, welche die Feinmotorik fördern sollen. An dem Regal des letzten Bereiches klebt schließlich ein Aufkleber, auf welchem ein Springseil, ein Würfel und Bauklötze abgebildet sind. In diesem Bereich befinden sich Spiele.

Der Klassenraum enthält zusätzlich im hinteren Bereich des Raumes eine Leseecke, die durch ein Regal, welches der Ablage von Unterrichtsmaterialien dient, räumlich abgetrennt ist. In der Leseecke befinden sich ein Lesesofa, zwei Computer, ein Bücherregal ein Tisch sowie vier Stühle.

Die Klasse besteht insgesamt aus 25 Schülerinnen und Schülern, wovon 14 Jungen und 11 Mädchen sind. Die Schülerschaft weist im Allgemeinen eine sehr große Heterogenität auf. Mehr als die Hälfte der Klasse besitzt eine nicht-deutsche Muttersprache. Insgesamt gibt es vor allem sehr große Leistungsunterschiede hinsichtlich der sprachlichen Kompetenzen in den Bereichen Lesen und Schreiben.

Im Hinblick auf das allgemeine Arbeitsverhalten der Klasse ist anzumerken, dass die Schülerinnen und Schüler sehr motiviert und konzentriert zusammenarbeiten. Auch das Sozialverhalten innerhalb der Klasse ist sehr positiv. In den Arbeitsphasen besteht nach Beendigung einer Aufgabe die Möglichkeit, in der Rolle des Helferkindes andere Kinder zu unterstützen. Die Klasse versteht sich als Einheit und es wird gegenseitig aufeinander Achtgegeben, sodass das Lernkultur als sehr positiv beschrieben werden kann.

  • Die Ethnographie als Forschungsmethode

In der vorliegenden Studie soll vorwiegend die Perspektive der Kinder und deren Praktiken innerhalb der Freiarbeitsphase untersucht werden. Vor allem die gegenwärtige Forschung fordert Beobachtungsstudien, die geöffneten Unterricht in seiner Wirklichkeit in den Blick nehmen und dabei auf qualitative Methoden zurückgreifen (vgl. Breidenstein und Rademacher 2017a, S. 6). Ein wesentlicher qualitativer Zugang zur Erforschung der Perspektive der Kinder ist die Ethnographie (vgl. Huf 2008, S. 113).

Ethnographische Beobachtungen sind „davon gekennzeichnet, schulischen Unterricht als eine ‚fremde Kultur‘ zubetrachten, um in diesem scheinbar so vertrauten Geschehen Neues zu entdecken“ (Breidenstein 2012, S. 30). Es geht vor allem darum, Interaktionsprozesse zwischen den Akteurinnen und Akteuren im Feld des Unterrichts zu erforschen und dabei die Mikrostrukturen eines sozialen Geschehens in den Blick zu nehmen (vgl. Wiesemann 2011, S. 167). Diese Mikrostrukturen offenbaren nicht nur, was die Schülerinnen und Schüler im Unterricht sagen und tun, sondern vor allem auch, wie sie es sagen und tun (vgl. ebd., S. 168).

Die Ethnographie nutzt die Methode der teilnehmenden Beobachtung innerhalb eines Forschungsfeldes. Dabei soll das Geschehen nicht nur beobachtet, sondern das Beobachtete vor allem auch verschriftlicht werden (vgl. Breidenstein 2012, S. 32). Das Resultat bilden schließlich „dichte Beschreibungen“, die als „vertextete, niedergeschriebene Beschreibungen“ (Wiesemann 2011, S. 177) das Beobachte in Sprache überführen.

  • Die Rolle und Reaktionen im Feld

Der Zugang zu der Klasse ergab sich vor allem dadurch, dass ich zur gleichen Zeit mein Praxissemester an der Grundschule absolvierte und dabei die im Feld untersuchte Klasse als Lehrer seit mehreren Wochen begleitete.

Als ich der Klassenlehrerin von meinem Forschungsvorhaben berichtete, begegnete sie diesem sehr offen und positiv. Vor allem in den letzten acht Wochen des Schuljahres 2020/2021 konnte ich die Schülerinnen und Schüler täglich während den Freiarbeitsphasen, die zeitlich vor der Zusammenkunft im Morgenkreis stattfand, teilnehmend beobachten und dabei Feldnotizen anfertigen. Ich habe mich bewusst für die teilnehmende Beobachtung und gegen die Videographie entschieden, da eine festpositionierte Kamera die unterschiedlichen Schüleraktivitäten und Interaktionen nicht detailliert hätte abbilden können.

Zunächst habe ich meine Erhebungen auf einer Sitzbank vor der Tafel durchgeführt. Der Ort wurde gewählt, da ich alle Schülerinnen und Schüler gut überblicken konnte. Doch schnell wurde mir bewusst, dass ich zu weit von demeigentlichen Geschehen, also den Schülerpraktiken und den Schülerinteraktionen, entfernt war. Deshalb habe ich gleich nach der ersten Erhebungswoche den Beobachtungsort gewechselt. Da mir bereits in der ersten Erhebungstagen aufgefallen ist, dass sich sehr viele Schülerinnen und Schüler in der Leseecke befanden, wollte ich diesen territorial abgegrenzten Bereich und die damit einhergehenden Handlungspraktiken näher untersuchen. Ich habe mir einen Stuhl genommen und mich mit Stift und Papierblock in die Leseecke gesetzt, wobei ich dennoch auch die anderen Bereiche der Klasse noch gut überblicken konnte.

Für die Schülerinnen und Schüler war meine Positionierung innerhalb der Leseecke zunächst eher befremdlich, da sie mich als Lehrer im Verlaufe meines Praxissemesters wahrgenommen haben, der auch in der Freiarbeitsphase als Interaktionspartner begleitend agierte. Somit war meine neue Rolle als teilnehmender aber auch passiver Forscher zunächst sehr polarisierend. Die Schülerinnen und Schüler in der Leseecke fragten mich vor allem am Anfang noch des Öfteren, was ich denn auf dem Block aufschreibe und warum ich das mache. Ich antwortete, dass ich mich dafür interessiere, wie in der Leseecke alles ablaufe und welche Regeln es dabei gebe. Außerdem wurde ich anfänglich noch häufig gefragt, ob ich bei bestimmten Aktivitäten in der Freiarbeit mitmachen wolle.

Doch im Verlaufe der Beobachtungsprozesses wurde meine Anwesenheit im Feld der Leseecke zunehmend ignoriert und die Rolle des Forschers folglich von den Probandinnen und Probanden positiv angenommen.

4.   Dichte Beschreibungen und Analytische Dimensionierung

  • Erhebung 1

Im Folgenden wird die Situation, die Beobachtung sowie die Analyse der ersten Erhebung dargelegt. Aufgrund des Anonymisierungsanspruchs handelt es sich bei den Namen der Kinder und der Lehrerin jeweils um Pseudonyme.

  • Die Situation

Die folgende Szene ereignet sich in der Freiarbeitsphase im Rahmen des offenen Anfangs. Dabei wurde auf die ethnographische Methode der teilnehmenden Beobachtung zurückgegriffen (vgl. Wagner-Willi 2005, S. 264). Da kein Kind am Tag der Erhebung fehlt und der Wechselunterricht seit einer Woche beendet ist, sind 25 Schülerinnen und Schüler sowie die Klassenlehrerin Frau Müller und die Förderpädagogin im Verlauf des Beobachtungsprozesses vertreten. Ich sitze mit Stift und Papier auf einem Stuhl innerhalb der Leseecke, wobei auch die anderen räumlichen Bereiche des Klassenzimmers in meinem Beobachtungssichtfeld liegen.

Bedingt durch die Coronapandemie herrschte zum Erhebungszeitpunkt eine Maskenpflicht, sodass die Beobachtung der Mimik nicht in vollem Umfang möglich war.

  • Die Beobachtung

Es ist 7:52 Uhr. Frau Müller und die Förderpädagogin sitzen auf einer Sitzbank des Bänkekreises und unterhalten sich. In der Leseecke befinden sich bereits fünf Kinder. Lisa und Lea stehen nebeneinander vor zwei Plastikkisten, die mit Sand gefüllt sind. Lea schöpft mit beiden Händen den Sand aus der einen Kiste in die andere Kiste. Lisa schaut ihr dabei zu und fragt Lea, ob sie am morgigen Ausflug im Bus neben ihr sitzen möchte. Lea antwortet zögernd: „Meine Mama hat gesagt, dass wir mit dem Zug fahren.“ Nils, der mit Ali und Jannis mit Bauklötzen am Boden einen Turm baut, unterbricht seine Tätigkeit. Er wendet seinen Blick nach oben zu den beiden Mädchen und teilt ihnen mit, dass seine Mama ihm auch gesagt habe, dass die Klasse morgen mit dem Zug fahren würde. Lea hüpft mit strahlend wirkenden Augen auf der Stelle und fragt anschließend Lisa: „Bist du schon einmal mit dem Zug gefahren?“ Lisa schaut kurz an die Decke und antwortet: „Ich glaube nicht.“ Lea teilt ihr mit, dass man im Zug auch zu viert sitzen könne. Anschließend fragt sie Lisa: „Wollen wir noch Anna und Ina fragen?“ Lea nickt mit dem Kopf und antwortet: „Ja. Lass die mal fragen.“ Lisa geht mit schnellen Schritten aus der Leseecke in Richtung Annas Tisch. Lea folgt ihr dicht dahinter.

Anna sitzt nach vorne gelehnt auf ihrem Sitzplatz, der sich direkt vor dem Lehrerpult befindet. Auf ihrem Tisch liegt ein Mäppchen. Sie hat die Arme verschränkt auf ihrem Mäppchen liegen und stützt ihr Kinn auf ihre verschränkten Unterarme. Als Lisa sie am Rücken antippt und sie anschließend anspricht, richtet Anna sich sitzend auf und dreht sich zu Lisa und Lea um. Wenige Sekunden später steht Anna auf und geht hinter Lea und Lisa her, die in Richtung Inas Tisch laufen. Auch Ina, welche gerade mit Mia das Spiel „Blinde Kuh“ spielt, wird von Lisa angesprochen. Kurze Zeit später reißt Lisa an Inas Arm. Ina versucht, sich zunächst mit ihrer anderen Hand loszulösen. Doch Lisa gelingt es, sie zum Aufstehen zu bringen. Lisa lässt Ina anschließend los und geht mit schnellen Schritten in Richtung Leseecke. Lea, Anna und Ina folgen ihr.

Mia räumt das Spiel „Blinde Kuh“ alleine auf und bringt es zurück an den entsprechenden Ort im Lernregal. Anschließend geht sie zurück auf ihren Sitzplatz und schaut Mark und Timo an, welche das Spiel „4-gewinnt“ spielen.

Anna und Ina sitzen inzwischen auf dem Lesesofa. Lisa steht vor dem Bücherregal und nimmt ein Hundebuch heraus. Sie setzt sich anschließend zwischen Lisa und Ina, die ihr einen Platz neben sich freigehalten haben, und schlägt eine Seite des Buchs auf. Ina, Anna und Lea schauen dicht an Lea sitzend auf die Buchseiten. Lisa blättert die Seite um, zeigt mit ihrem Finger auf eine Stelle und sagt: „Oh. Guck mal. Wie süß. So einen schwarzen Labrador habe ich auch.“ Lea teilt mit: „Ich habe eine kleine Katze zuhause.“ Anna ruft: „Ich auch, eine Braune.“

Wenige Sekunden später betritt Nadja die Leseecke. Sie geht auf das Lesesofa zu und setzt sich auf die rechte Lehne des Sofas neben Lea. Lisa schaut Nadja an und ruft lautstark: „Maske auf.“ Nadja, deren Maske sich unterhalb des Kinns befindet, zieht anschließend die Maske schnell über Mund und Nase. Lisa gibt anschließend Nadja zu verstehen, dass auf dem Lesesofa nur vier Kinder sitzen dürfen. Nadja steht sofort auf und geht auf das Bücherregal zu, welches sich innerhalb der Leseecke befindet. Sie starrt es wenige Sekunden an, dreht sich um und verlässt anschließend mit langsamen Schritten die Leseecke. Sie setzt sich auf ihren Sitzplatz und holt aus ihrem Schulranzen das Mäppchen heraus. Nadja öffnet dieses und schließt es danach wieder. Danach steht sie auf und geht an das Lernregal. Sie kniet sich vor das Lernregal und nimmt eine kleine Holzkiste heraus, in welcher sich Mikado-Stäbe befinden. Danach geht sie mit der Holzkiste in die Leseecke und setzt sich an den Tisch, der direkt vor einem Fenster platziert ist. Sie schaut zu den vier Mädchen auf dem Lesesofa und ruft lautstark: „Wer will mit mir Mikado spielen?“ Die Mädchen auf dem Lesesofa, welche sich immernoch das Hundebuch gemeinsam anschauen, blicken sofort zu Nadja. Lisa ruft zurück: „Niemand.“

Anschließend werfen alle vier Mädchen wieder den Blick in das Buch zurück. Nadja steht auf und verlässt mitlangsamen Schritten die Leseecke. Sie räumt das Mikado-Spiel wieder in das Lernregal zurück und geht auf ihren Sitzplatz zu. Sie setzt sich und öffnet ihr Mäppchen. Anschließend schaut sie die beiden Jungen Leon und Tim an, welche am Nachbartisch ein Puzzle zusammenlegen. Im gleichen Moment ertönt die Aufräummusik. Alle Kinder räumen sehr zügig die Freiarbeitsmaterialen in das Lernregal zurück und begeben sich danach in denMorgenkreis. Es ist inzwischen 8:00 Uhr.

  • Die Analyse

Zunächst handelt es sich um eine charakteristische Situation innerhalb der Freiarbeitsphase. Die Schülerinnen und Schüler sind im Gegensatz zum lehrerzentrierten Unterricht mit unterschiedlichen Tätigkeiten beschäftigt. Lea hantiert mit Sand und die drei Jungen Nils, Ali und Jannis bauen Türme aus Bauklötzen. Diese Aktivitäten vollziehen die Schülerinnen und Schüler innerhalb der Leseecke, sodass auch der Lernort flexibel gewählt wird. Während im lehrerzentrierten Unterricht der Stuhl und der Tisch als zugewiesene Arbeitsorte festgelegt sind (vgl. Göhlich und Wagner-Willi 2001, S. 156), so werden diese innerhalb der vorliegenden Freiarbeitsphase auch verlassen. Die beobachtete Sequenz kann somit als „dezentriert“ (Rademacher 2017, S. 39) beschrieben werden. Auch die Lehrerin Frau Müller tritt in der beobachteten Szene nicht in den Vordergrund, sodass die Schülerinnen und Schüler vor allem in der durch die Regale räumlich abgegrenzten Leseecke weitgehend unbeobachtet agieren können.

Wie bereits oben beschrieben hantiert Lea mit Sand, welcher sich in den beiden durchsichtigen Plastikkisten befindet. Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, dass sie das Material, welches eigentlich dazu dient, Buchstaben und Zahlen in den Sand zu schreiben, zweckentfremdet verwendet. Sie schöpft mit beiden Händen den Sand aus einer Kiste in die andere. Lisa, die unmittelbar neben Laura steht, bleibt in der Situation passiv und schaut ihr dabei zu. Anschließend leitet sie mit der Frage, ob Lea am nächsten Tag auf dem Weg zum Ausflug neben ihr im Bus sitzen möchte, eine Diskussion ein, denn Lea ist eigentlich davon überzeugt, dass sie mit dem Zug fahren würden. Die Diskussion bindet auch andere Schülerinnen und Schüler in der Leseecke ein. Nils beendet seine aktuelle Tätigkeit (Turm bauen) und mischt sich in der Diskussion der beiden Mädchen ein, denn auch er ist der Auffassung, dass sie am nächsten Tag mit dem Zug fahren. Es entsteht somit ein Diskurs unter den Peers, der sich nicht auf das eigentliche Lernmaterial bezieht, sondern stattdessen Praktiken der Nebentätigkeiten (vgl. Breidenstein et al. 2017b, S. 206) hervorruft.

Die Thematik des Ausflugs bestimmt auch den weiteren Verlauf der Szene und verlässt sogar den Ort der Leseecke, denn die beiden Mädchen planen, Anna und auch Ina anzusprechen, die sich auf den ihnen zugewiesenen Sitzplätzen befinden. Anna sitzt mit verschränkten Armen vorgebeugt an ihrem Einzeltisch. Ihre Körperhaltung erzeugt eine eher untätige passive Wirkung. Auf ihrem Tisch befindet sich kein Freiarbeitsmaterial aus dem Lernregal, sondern lediglich ihr Mäppchen. Erst als Lisa sie am Rücken antippt und anschließend anspricht, verändert sie ihre Körperhaltung und verlässt anschließend ihren zugewiesenen Sitzplatz, indem sie den beiden Mädchen folgt.

Im weiteren Handlungsverlauf wird auch Ina angesprochen, die gerade dabei ist, mit Mia „Blinde Kuh“ zu spielen. Ina stoppt ihre Tätigkeit. Im Anschluss wird Ina von Lisa aus dem Stuhl gerissen, wobei sie sich anfänglich noch versucht, mit ihrer anderen Hand zu wehren und sich loszureißen. Die Tatsache, dass Ina jedoch anschließend den drei Mädchen ohne Resistenz in die Leseecke folgt, zeigt, dass sie sich von der Gruppendynamik offensichtlich beeinflusst lassen hat. Mia hingegen hat nun keinen Spielpartner mehr. Sie räumt das Material alleine auf und bringt es an den entsprechenden Ort im Lernregal. Anschließend setzt sie sich wieder auf ihren Sitzplatz und beobachtet passiv die beiden Jungen neben ihr, die das Spiel „4-gewinnt“ spielen.

Die vier Mädchen begeben sich auf das Lesesofa, wobei nur Lisa sich ein Buch aus dem Bücherregal in der Leseecke holt und in diesem blättert. Lea, Anna und Ina schauen ihr dabei zu. Sie wirken zunächst eher passiv. Als jedoch Lisa auf den Labrador zeigt, der ihrem eigenen von zuhause sehr ähnelt, betteiligen sich auch Ina und Lena an dem Gespräch bezüglich der Haustierthematik, indem sie davon berichten, dass sie hingegen eine Katze zuhause haben. Dieses Gespräch wird jedoch unterbrochen, als Nadja in die Leseecke kommt und sich aufdie Lehne des Sofas setzt, um vermutlich Peerkontakt zu den vier Mädchen aufzunehmen. Lisa geht jedoch sofort Nadja lautstark an, da sie ihre Maske nicht richtig trägt. Lisa verweist somit auf das verbindliche Regelwerk der Institution Schule. Als Nadja Lisas Anweisungen schließlich folgt und die Maske aufzieht, spielt Lisa eine weitere Regel der Freiarbeitsphase aus. Dabei handelt es sich um die Regel, dass nur vier Kinder auf dem Lesesofa sitzen dürfen. Lisa versucht, mittels der vereinbarten Regeln ihr Terrain zu verteidigen. Es entstehen somit Praktiken des Behauptens von bestimmten Terrains (vgl. Breidenstein et al. 2017a, S. 36). Nadja folgt erneut ihren Anweisungen, geht zum Bücherregal, starrt es für wenige Sekunden und verlässt anschließend die Leseecke. Ihr Handeln erzeugt eine eher unsichere Wirkung. Dies wird auch im weiteren Verlauf deutlich. Sie setzt sich auf ihren Sitzplatz, holt ihr Mäppchen aus dem Schulranzen heraus und öffnet dieses. Die Tatsache, dass sie jedoch das Mäppchen sofort danach wieder schließt, lässt vermuten, dass sie nicht wirklich weiß, was sie alleine machen kann. Im weiteren Handlungsverlauf startet sie erneut einen Versuch, um Peerkontakt zu den vier Mädchen auf dem Lesesofa herzustellen. Sie kehrt mit Mikado-Stäben in die Leseecke zurück und ruft lautstark: „Wer will mit mir Mikado spielen.“ Als Lisa jedoch „Niemand“ zurückruft und somit die Partizipationssuche verweigert, verlässt Nadja erneut die Leseecke, räumt das Material an den entsprechenden Ort des Lernregals und setzt sich auf ihren eigenen Sitzplatz, wo sie passiv die beiden Jungen an ihrem Nebentisch beobachtet, welche ein Puzzle zusammenlegen.

Es fällt auf, dass der eigene Sitzplatz zwar in der Freiarbeitsphase oft verlassen wird, doch immer wieder als Ausgangspunkt aufgesucht wird.

  • Erhebung 2

Im Folgenden wird die Situation, die Beobachtung sowie die Analyse der zweiten Erhebung dargestellt. Bei den Namen der Kinder und der Lehrerin handelt es sich wieder um Pseudonyme.

  • Die Situation

Die folgende Szene ereignet sich erneut in der Freiarbeitsphase im Rahmen des offenen Anfangs. Da zwei Kinder am Tag der Erhebung fehlen, sind 23 Schülerinnen und Schüler, die Klassenlehrerin Frau Müller und die Schulbegleitung im Verlauf des Beobachtungsprozesses vertreten. Ich sitze, wie bereits in Erhebung 1 beschrieben, mit Stift und Papier auf einem Stuhl innerhalb der Leseecke.

Auch an diesem Erhebungstag galt die Maskenpflicht, wodurch erneut die Beobachtung der Mimik erschwertwurde.

  • Die Beobachtung

Es ist 7:53 Uhr. Es befinden sich sechs Kinder in der Leseecke. Jonas und Ali bauen am Boden sitzend Türme aus Bauklötzen. Jannis und Nils sitzen an dem Tisch in der Leseecke und spielen mit Mikado-Stäben. Lea und Ina liegen ohne Buch in der Hand nebeneinander auf dem Lesesofa. Die Beine der beiden Mädchen liegen ebenfalls auf dem Sofa auf, wobei sie jeweils ihre Schuhe ausgezogen haben. Lea liegt mit ihrem Kopf auf der einen Lehne des Sofas und starrt mit geöffneten Augen an die Decke. Ina liegt mit ihrem Kopf spiegelverkehrt auf der anderen Lehne des Sofas und hat ihre Augen geschlossen. Es findet kein Gespräch zwischen den beiden Mädchenstatt.

Theo betritt die Leseecke und stellt sich hinter Jannis und Nils. Er beobachtet sie einige Sekunden und fragtanschließend, ob er mitspielen könne. Jannis verneint mit den Worten: „Das Spiel geht nur zu zweit.“ Theo dreht sich anschließend um und schaut zu Ali und Jonas, die am Boden mit Bauklötzen spielen. Er kniet sich zwischenAli und Jonas und fragt diese: „Kann ich mitspielen?“ Ali antwortet mit dem Kopf nickend mit „Ja“ und teilt Theo mit, dass sie Türme bauen und diese anschließend wieder zerstören würden.

Ali schiebt die Kiste, in der sich viele bunte Bauklötze befinden, in Theos Nähe. Theo greift mit beiden Händen einige Bauklötze heraus und lagert sie rechts neben sich auf den Boden. Anschließend legt er die ersten Bauklötze aufeinander. Nachdem er diese gestapelt hat, greift er mit beiden Händen weitere Bauklötze aus der Kiste und legt sie erneut rechts neben sich auf den Boden. Unmittelbar danach ruft Jonas mit einem starren Blick und einem bestimmenden Ton Theo zu: „Nein Theo. Wir brauchen auch noch Steine.“ Theo schaut Jonas kurz in die Augen und wendet danach seinen Blick auf den Boden. Er antwortet leise: „Okay“ und legt anschließend einen Anteil seiner Bauklötze wieder in die Kiste zurück. Die zurückgelegten Bauklötze nimmt Jonas sofort aus der Kiste heraus und legt diese auf die oberste Ebene seines Turmes auf. Es befinden sich nunkeine Bauklötze mehr in der Kiste. Jonas Turm ist deutlich größer als die Türme der anderen drei Jungen.

Ali schaut zu Theo und teilt ihm mit, dass er anfangen solle, seinen Turm zu zerstören. Theo holt sofort mit seinem Arm aus und wirft mit seiner Handfläche den Turm um. Danach steht Ali auf und ruft: „Guck mal, wie ich jetzt meinen Turm umbringe.“ Er nimmt ein paar Schritte Anlauf und tritt mit seinem rechten Fuß den Turm um. Dabei fliegen die einzelnen Bauklötze durch die gesamte Leseecke. Theo und Jonas fangen lautstark an zu lachen. Ali schaut nun Jonas an und fordert ihn auf, seinen Turm zu zerstören. Doch Jonas sagt: „Ich will meinen Turm nicht zerstören.“ Ali antwortet: „Du musst das machen.“ Jonas erwidert: „Ich will das nicht.“ Ali entgegnet sofort: „Dann zerstöre ich den.“ Er rutscht mit den Knien in Richtung Jonas Turm, doch Jonas legt sich davor. Vermutlich möchte er seinen Turm dadurch schützen. Doch Ali schubst Jonas mit beiden Händen, sodass Jonas gegen seinen eigenen Turm stößt und dieser umfällt. Jonas stellt sich sofort aufrecht hin, schaut Ali tief in die Augen und ruft zornig: „Das sage ich Frau Müller!“ Er verlässt sofort die Leseecke und spricht Frau Müller an, die sich am Lehrerpult sitzend mit der Schulbegleitung unterhält.

Kurze Zeit später kommt Frau Müller in die Leseecke und teilt Theo und Ali mit, dass die Bauklötze zum Bauen und nicht zum „Quatsch-machen“ da seien. Sie fordert Theo und Ali auf, dass sie jetzt die Bauklötze sofort in die Kiste zurückräumen und sich etwas anderes „zum Arbeiten“ suchen sollen. Theo und Ali schauen Frau Müller mit aufgerissenen Augen an und antworten leise: „Okay.“ Anschließend verlässt Frau Müller die Leseecke und setzt sich zurück an das Lehrerpult.

Theo und Ali sammeln die am Boden verteilten Bauklötze nach und nach auf und legen sie in die Kiste zurück. Als alle Bauklötze sich wieder in der Kiste befinden, hebt Ali diese hoch und räumt sie in das Lernregal zurück. Theo setzt sich auf das Lesesofa, auf welchem sich inzwischen keine Kinder mehr befinden. Kurze Zeit später kehrt Ali zurück in die Leseecke und setzt sich neben Theo auf das Lesesofa. Noch während die beiden Jungen auf dem Lesesofa ohne Buch in der Hand Jannis und Nils beobachten, welche immer noch das Spiel „Mikado“ spielen, ertönt die Aufräummusik. Ali und Theo verlassen die Leseecke und setzen sich in den Morgenkreis. Alle anderen Kinder räumen zügig die Freiarbeitsmaterialien in das Lernregal zurück und begeben sich danach ebenfalls in den Morgenkreis. Es ist inzwischen 8:01 Uhr.

  • Die Analyse

Zunächst kann wie bereits in Erhebung 1 festgestellt werden, dass die Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Tätigkeiten beschäftigt sind und dass auch die Lernorte innerhalb der Leseecke sich grundlegend unterscheiden. Lea und Ina liegen auf dem Lesesofa, Jannis und Nils sitzen an einem Tisch in der Leseecke und spielen das Spiel „Mikado“ und Ali und Jonas bauen am Boden mit Bauklötzen Türme. Die Situation kann demnach als „dezentriert“ (Rademacher 2017, S. 39) bezeichnet werden. Die Lehrerin Frau Müller führt in der beobachteten Szene am Lehrerpult ein Gespräch mit der Schulbegleitung, sodass die Schülerinnen und Schüler erneut unbeobachtet agieren können.

Werden die Tätigkeiten der Schülerinnen und Schüler jedoch genauer unter die Lupe genommen, so kannkonstatiert werden, dass Lea und Ina das Lesesofa als Ort nutzen, an welchem sich entspannt werden kann. Sie liegen ohne Buch in der Hand auf dem Sofa, wobei sie sogar ihre Schuhe ausgezogen haben. Das Lesesofa, das eigentlich dem Lesen dienen soll, wird somit zweckentfremdet genutzt und zwar als Erholungsort.

Im weiteren Handlungsverlauf betritt Theo die Leseecke, stellt sich hinter Jannis und Nils und fragt diese, ob er mitspielen kann. Die Wortwahl des Mitspielens macht deutlich, dass er förmlich den Peerkontakt sucht und bereitist, auch nach diesem zu fragen. Doch Jannis verneint mit den Worten „Das Spiel geht nur zu zweit“. Bei näherer Analyse des Spiels „Mikado“ fällt jedoch auf, dass das Spiel nicht nur zu zweit gespielt werden kann. Es deutet also darauf hin, dass die Regel „Das Spiel geht nur zu zweit“ in der Situation selbst von Jannis aufgestellt wurde,um Theos Partizipation bewusst abzulehnen.

Theo wendet sich schließlich von den beiden Jungen ab und beobachtet Ali und Jonas, die am Boden mit Bauklötzen spielen. Anschließend startet Theo einen neuen Versuch, bei einer Peertätigkeit mitzuwirken. Er kniet sich zwischen die beiden Jungen und wählt wie bereits bei dem ersten Versuch die Worte „Kann ich mitspielen“. Diesmal hat sich sein Bemühen ausgezahlt, denn Ali bejaht seine Frage. Ali involviert Theo sogar sehr schnell, indem er ihm die Spielregeln des selbstkonzipierten Spiels erläutert. Dabei handelt es sich um die Regel, dass die gebauten Türme anschließend wieder zerstört werden müssen. Dies ist zunächst eine charakteristische Handhabung des Materials. Denn um die Bauklötze wieder später in die Kiste einräumen zu können, müssen die gebauten Türmezerstört werden. Doch der weitere Verlauf der Szene zeigt, dass Ali mit dem Wort „Zerstörung“ tatsächlich eine Zerstörung assoziiert hat. Er nimmt Anlauf und tritt mit seinem Fuß den Turm um, sodass die Bausteine in der gesamten Leseecke verteilt werden. Die anschließende Reaktion des Kicherns von Theo und Jonas zeigt, dass sie seine Handlung offensichtlich sehr amüsant finden.

Als Theo die letzten Steine für seinen eigenen Turm sich sichern wollte, greift Jonas mit den Worten „Nein Theo. Wir brauchen auch noch Steine“ direktiv ein. Die Szene zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler Aushandlungsprozesse tätigen müssen, die konstitutiv für die Freiarbeitsphase sind. Aufgrund des begrenzten Materials werden Fähigkeiten wie Kommunizieren und Teilen gelernt (vgl. Potthoff 1995, S. 68). Denn es gibt nur eine bestimmte Anzahl von Bauklötzen. Warum jedoch Jonas das Personalpronomen „Wir“ benutzt, wird nicht ganz deutlich. Denn als Theo auf seine Anweisung eingeht und die Steine zurück in die Kiste legt, nimmt sich Jonas alle zurückgelegten Steine für seinen eigenen Turm.

Die Situation spitzt sich weiter zu als Jonas verweigert, seinen eigenen Turm zu zerstören. Ali besteht jedoch auf die selbstkonzipierte Spielregel und fordert Jonas auf, seinen Turm zerstören zu müssen. Als dieser jedoch erneut die Forderung verweigert und sogar körperlich seinen Turm verteidigt, schubst ihn Theo, sodass der Turm umfällt. Es entstehen somit „Machtverhältnisse“ (Wagner-Willi 2005, S. 193) und körperliche Auseinandersetzungen zwischen den Peers, wobei die Machtverhältnisse sich auf die Macht über das Freiarbeitsmaterial beziehen. Die anschließende zornige Reaktion Jonas‘ und der zielstrebige Gang zu Frau Müller macht die eigentlich unentdeckte und illegitime Handlungspraktik der drei Jungen nun öffentlich. Denn Frau Müller geht in die Leseecke und teilt Theo und Ali mit, dass sie die Bauklötze sofort wegräumen und sich etwas anderes zum „Arbeiten“ suchen sollen. Die Lehrerin wählt in der Situation den Begriff des „Arbeitens“. Dieser Begriff wird somit von der Lehrerin funktional genutzt, um eine sachbezogene Tätigkeit (Bauen mit Bauklötzen) von einer Nebentätigkeit („Quatsch-machen“) auch verbal abzugrenzen. Doch die anschließende Tätigkeit von Ali und Theo lässt vermuten, dass diese nicht wissen, was die Lehrerin mit der Wortwahl des Arbeitens meint. Die beiden Jungen sitzen anschließend ohne Buch in der Hand auf dem Lesesofa und beobachten passiv die beiden Jungen Jannis und Nils, welche immer noch das Spiel „Mikado“ spielen. Da das Beobachten anderer Kinder innerhalb der Freiarbeitsphase je- doch keine sachbezogene Tätigkeit darstellt, wird in dieser Situation die Ambivalenz zwischen den realen Schülertätigkeiten und den von der Lehrkraft geforderten Schülertätigkeiten in der Freiarbeitsphase deutlich.

Auch bei der Gesamtbetrachtung der Tätigkeiten innerhalb der Leseecke fällt auf, dass die Tätigkeiten nicht unbedingt mit Arbeiten in Verbindung gebracht werden können, denn die Schülerinnen und Schüler nutzen ihreArbeitszeit für „nicht-sachbezogene oder sonstige Tätigkeiten“ (Lipowsky 1999, S. 149).

5.   Zusammenfassung, Diskussion und Fazit

Das Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die Tätigkeiten der Schülerinnen und Schüler in der Freiarbeitsphasegenauer zu untersuchen und dabei insbesondere den Fokus auf das Verhältnis zwischen sachbezogener Tätigkeit, Nebentätigkeit und Untätigkeit zu richten. Da das Feld der Nebenbeschäftigungen auf der Grundlage der aktuellen Forschungsliteratur noch sehr unerforscht ist (vgl. Breidenstein et al. 2017b, S. 206), sollten die dargestellten Beobachtungsanalysen einen Beitrag dazu leisten, sich diesem Desiderat genauer zu widmen. Esging dabei vorwiegend um die qualitative Analyse, wie die Freiräume, welche sich durch die Freiarbeit ergeben, von den Teilnehmenden im Feld der Leseecke genutzt werden.

Bei dem Vergleich der oben dargelegten Beobachtungsanalysen lassen sich folgende Handlungspraktikenableiten.

Zunächst einmal gilt festzuhalten, dass das Arbeiten innerhalb der Leseecke einen Arbeitsort darstellt, der im Kontrast zum lehrerzentrierten Unterricht steht und von den Schülerinnen und Schülern auch bevorzugt genutzt wird. Es gibt keinen anderen Ort innerhalb des Klassenraums, an welchem so viele Schülerinnen und Schüler auf einer kleinen Fläche agieren und interagieren. Die Beobachtungen zeigen, dass die Anzahl der Kinder, die sich in der Leseecke aufhalten dürfen, nicht limitiert ist, sodass der Ort der Leseecke flexibel aufgesucht, aber auch wieder verlassen werden kann. Lediglich in Bezug auf das Lesesofa gibt es eine maximale Begrenzung von vier Personen. Diese Regel wurde von Lisa bewusst ausgenutzt, um das Terrain des Lesesofas zu behaupten und die Partizipation einer Schülerin zu verweigern. Die Praktiken des Behauptens bestimmter Terrains konnten auch Breidenstein und Rademacher (2017b) in ihren ethnographischen Beobachtungen feststellen.

Wenn die Leseecke verlassen wird, so suchen die Probandinnen und Probanden in beiden Erhebungen jeweils ihren zugewiesenen Sitzplatz auf. Der Sitzplatz dient somit auch innerhalb der Freiarbeitsphase als Ausgangspunkt, der zwar verlassen, aber nach Beendigung einer Arbeit immer wieder aufgesucht wird.

Bei den beobachteten Tätigkeiten innerhalb der Leseecke handelt es sich vorwiegend um Spielaktivitäten und manuelle Tätigkeiten, wie beispielsweise das Bauen mit Bausteinen, Puzzlen oder auch das Hantieren mit Sand. Die Beobachtungen bestätigen somit die Ergebnisse Lipowskys (1999). Kognitiv anspruchsvollereTätigkeiten, welche das Problemlösen oder auch das entdeckende Lernen fördern, fehlen in den beobachteten Sequenzen gänzlich, sodass die Praktiken innerhalb der Leseecke eher dem „Freispiel“ (ebd., S. 21) als der Freiarbeit zugeordnet werden können. Da jedoch das Spielen in der Freiarbeit in der Klasse auch vonseiten der Lehrerin legitimiert wird und es sogar einen eigenen Bereich im Lernregal gibt, der explizit für Spiele eingerichtet ist, sollte das Spielen dennoch als sachbezogene Tätigkeit und weniger als Nebentätigkeit beschrieben werden. Denn im Spiel können Kompetenzen, wie beispielsweise das Warten, das Verlieren und die Einhaltung von Regeln erworben werden, die auch für das Arbeiten in der Freiarbeitsphase wichtig sind (vgl. Petillon 2002, S. 7).

Eine weitere Handlungspraktik, die in beiden Beobachtungsanalysen vermehrt auftrat, ist die zweckentfremdete Verwendung der Lernmaterialien und Gegenstände. Sandkisten wurden genutzt, um den Sand von einem Behälter in den anderen zu transportieren. Bauklötze wurden genutzt, um sie mit dem Fuß durch die Leseecke zu schießen. Das Lesesofa diente mehr der Entspannung und Peerkommunikation als dem Lesen, und auch das Buch taugte eher dem Blättern als dem Lesen. Die zweckentfremdete Verwendung von Requisiten stellte bereits Wagner-Willi (2005) während der Übergangsphase von der Pause zum Unterricht fest. Diese Praktiken „werden situativ ihrer institutionellen Funktion beraubt, zweckentfremdet und in einem antistrukturellen Rahmen von Fun und Action gestellt“ (ebd., S. 289). Die Autorin ordnet die zweckentfremdete Verwendung der Materialien den „konjunktiven Ritualen“ (ebd., S. 289) zu, welche der Differenzmarkierung gegenüber der sozialen Identität einerSchülerin oder eines Schülers dienen. Inwiefern die Ergebnisse Wagner-Willis auf die Probandinnen und Probanden innerhalb der Freiarbeitsphase übertragen werden können, ist aufgrund des bisher begrenzten Forschungsstandes noch nicht abschätzbar. Doch die oben aufgeführten Beobachtungsanalysen zeigen, dass eine zweckentfremdete Verwendung der Lernmaterialien auch in der Freiarbeit vorzufinden ist. Festgehalten werdenkann jedenfalls, dass es sich bei den zweckentfremdeten Praktiken weniger um sachbezogene Tätigkeiten handelt, sodass diese den Nebentätigkeiten zugeordnet werden können.

Außerdem konnten nicht-sachbezogene Peergespräche beobachtet werden. Vor allem in der ersten Beobachtungsbeschreibung bestimmt ein Thema den gesamten Handlungsvorgang der Schülerinnen und Schüler innerhalb der Leseecke, nämlich die Diskussion, ob der anstehende Ausflug mit dem Zug oder dem Bus erfolgt. Zunächst findet die Diskussion nur zwischen den beiden Mädchen statt. Doch aufgrund der räumlich kleinen Fläche der Leseecke erreicht die Diskussion auch andere Peers, die eigentlich mit anderen Tätigkeiten beschäftigt sind und diese anschließend stoppen, um an der Diskussion teilzunehmen. Lähnemann (2009, S.219) verweist im Kontext der Peerkommunikation auf den Begriff des „Quatschens“, „der gegenüber der Schule die Assoziation des Verbotenen hat; denn im konventionellen Unterricht ist ‚Quatschen‘ ein Regelverstoß.“ Die Autorin macht darauf aufmerksam, dass das Quatschen im Freiarbeitsunterricht notwendig ist, um sach- und inhaltsbezogen über die Lernmaterialien sich austauschen und unterstützen zu können (vgl. ebd., S. 219). Die oben dargelegten Beobachtungsanalysen zeigen jedoch, dass die Peerkommunikation zumindest innerhalb der Leseecke meist eher nicht-sachbezogene Gespräche hervorbrachte und somit den Praktiken der Nebentätigkeiten zugeordnet werden sollten.

Des Weiteren konnten passive Praktiken des Zuschauens aber auch Praktiken des Nicht-Tuns beobachtet werden. Die Beobachtungen bestätigen somit die Ergebnisse Garlichs (1990) und Lipowskys (1999). Auch in den oben dargelegten Beobachtungsanalysen gibt es Schülerinnen und Schüler, die aufgrund ihrer Körperhaltung antrieblos wirkten und kein Material aus dem Lernregal wählten. Es lässt sich festhalten, dass zwar passives Verhalten und Untätigkeit in den oben dargelegten Beschreibungen zu beobachten sind, jedoch sollte der Blick vor allem dahin ausgerichtet werden, warum die Schülerinnen und Schüler untätig sind. Aus den Beobachtungenkann geschlossen werden, dass einige Schülerinnen und Schüler tätig sein wollten und Peerkontakt und Partizipation gesucht haben, jedoch durch Zurückweisungen anderer Peers nicht teilnehmen konnten und erst danach ein passives untätiges Verhalten zeigten. Für einen lernförderlichen Unterricht bedeutet dies, dass die Lehrerinnen und Lehrer genau hinschauen müssen, um auch die Gründe für untätiges Verhalten in der Freiarbeitsphase verstehen zu können. Kritikerinnen und Kritiker der Freiarbeit schließen aus der Untätigkeit der Teilnehmenden, dass Grundschülerinnen und Grundschüler mit der Freiheit überfordert sind (vgl. Gervé 1997, S. 47f.). Allerdings wird bei dieser Kritik vergessen, dass auch im lehrerzentrierten Unterricht Schülerinnen und Schüler innerlich eine Arbeitspause einlegen (vgl. Bartnitzky 1989, S. 2). Jedoch fällt der Untätige in der Freiarbeitsphase eher auf als im traditionellen Unterricht (vgl. Potthoff 1995, S. 106f.).

In den Beobachtungen konnten zudem Praktiken der Zusammenarbeit unter den Peers festgestellt werden. Vor allem die freie Wahl der Sozialform eröffnet den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, in Partnerarbeit oder sogar in Gruppenarbeit zu interagieren, wodurch in Anlehnung an Lähnemann (2009, S. 10) die Kooperationsfähigkeit gefördert wird. Doch die erhobenen Beobachtungen zeigen, dass die Partnersuche auch Ausgrenzungspraktiken hervorrufen kann. Vermehrt konnte in den dichten Beschreibungen festgestellt werden, dass die Frage nach der „Mitspielmöglichkeit“ von bestimmten Schülerinnen und Schülern explizit abgelehnt wurde. Diese Praktiken gilt es, ernst zu nehmen. Der Fall von Nadja zeigt, dass eine Ablehnung und Ausgrenzung anderer Peers die Motivation des Tätigseins und Kooperierens so beeinflussen kann, dass ein Kind aufgibt und in eine Passivität hineingelangt.

Auch wenn die Untersuchung der Praktiken der Lehrkraft nicht das vorrangige Ziel der vorliegenden Arbeit ist, so zeigen die Beobachtungen dennoch, dass die Lehrkraft oft mit anderen Tätigkeiten beschäftigt war und die Schülerinnen und Schüler vor allem in der Leseecke weitgehend unbeobachtet agierten. Zudem wurde die Lehrkraft auch von den Schülerinnen und Schülern nicht in Anspruch genommen. Die Schülerinnen und Schüleragierten selbsttätig, in Gruppenarbeit oder blieben passiv, wobei jede Hilfe- leistungen vonseiten der Lehrkraft ausblieben. Auch verbindliche Regeln wurden von den Schülerinnen und Schülern selbst zur Lösung von Problemen herangezogen, sodass die sachbezogenen Tätigkeiten, Nebentätigkeiten sowie Untätigkeiten innerhalb der Leseecke von der Lehrerin unbemerkt blieben. Lediglich in Erhebung 2 wurde die Lehrerin von einem Schüler involviert, da dieser geschubst wurde und anschließend sein selbstgebauter Turm umfiel. Erst jetztwurden die eigentlich unentdeckten und illegitimen Handlungspraktiken der Schülerinnen und Schüler innerhalb der Leseecke öffentlich. Der anschließende Verweis der Lehrkraft auf den Begriff der „Arbeit“ und die darauffolgende passive Schülerpraktik des Zuschauens macht das ambivalente Verhältnis zwischen sachbezogener Tätigkeit, Nebentätigkeit und Untätigkeit deutlich, welches von den Teilnehmenden zumeist different verstanden wird. Die Lehrerin fordert zwar sachbezogene Tätigkeiten auf, doch die realen Praktiken der Schülerinnen und Schüler weisen im Feld der Leseecke in der Regel Nebentätigkeiten und Untätigkeit auf.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass innerhalb der beobachteten Stichprobe und insbesondere in der Leseecke vermehrt untätiges, nebentätiges und zweckentfremdetes Verhalten beobachtet werden konnte, welches ohne die ethnographische Untersuchung vermutlich unentdeckt geblieben wäre. Bei den sachbezogenen Tätigkeiten handelte es sich vorwiegend um Spielhandlungen, die zwar vor allem soziale Fähigkeiten fördern, jedoch weniger entdeckende und problemlösende Prozesse ansprechen. Für die zukünftige Schulpraxis bedeutet dies, dass die Lehrkräfte gezielt darauf achten sollten, dass die Lernenden nicht nur Spielaktivitäten wählen, sondern sich auch zumuten, kognitiv anspruchsvollere Materialen zu bearbeiten. Es wichtig, dass die Lehrkraft auch innerhalb der Freiarbeitsphase als Lernbegleitung agiert und die Schülerinnen und Schüler bei ihren Tätigkeiten unterstützt. Dabei sollten die Erwartungen der Lehrkraft an die Schülerinnen und Schüler in Bezug auf die Freiarbeitsphase klar kommuniziert werden. Dies könnte auch dazu beitragen, dass untätiges bzw. nebentätiges Verhalten in der Leseecke minimiert werden kann.

Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, dass es sich bei der beobachteten Klasse um eine vergleichsweisekleine Stichprobe handelt, wodurch die Ergebnisse nicht sofort generalisiert werden dürfen. Dafür bräuchte es eine umfassendere Studie mit umfangreicheren Beobachtungserhebungen. Die Ergebnisse dürfen demnach nicht als allgemeingültig betrachtet werden. Jedoch zeigen die Gemeinsamkeiten der beiden Beobachtungsanalysen, dass die Ergebnisse auch keinen Einzelfall darstellen. Es wird demnach der Bedarf künftiger Langzeitstudien deutlich, die das Feld der Handlungspraktiken in der Freiarbeitsphase und speziell innerhalb der Leseecke weiter untersuchen und dabei die Mikroprozesse fokussieren. Denn es geht darum, die realen Tätigkeiten, Nebentätigkeiten aber auch die Untätigkeit der Schülerinnen und Schüler zu beobachten und zu verstehen, um auf dieser Grundlage didaktische Konsequenzen abzuleiten und den Freiarbeitsunterrichtlernförderlich weiterzuentwickeln.

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Soziale Ordnung im Chaos – Wie wählen Kinder ihren Sitzplatz in offenen Lernsettings? (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Inhalt

Einleitung

Die Formulierung „Soziale Ordnung im Chaos“ soll überspitzt die Situation der freien Sitzplatzauswahl im Klassenraum beschreiben. Sie ist geprägt durch eine unordentlich scheinende Atmosphäre und eine kurze Phase mit einer hohen Dichte an Handlungen. Folgende Erfahrungen stammen aus meinem Praxissemester an einer jahrgangsgemischten Grundschule in Siegen, die angelehnt an das Maria Montessori Konzept arbeitet. Die Auswahl eines Sitzplatzes wird im beobachteten Fall von den Schülern[1] im Sitzkreis, der für den Unterrichtseinstieg und -abschluss rituell erfolgt und an den Arbeitsplätzen, die für die Arbeitsphasen genutzt werden können, selbstbestimmt gewählt. Die von den Schülern eingenommene Sitzordnung basiert daher auf Eigenständigkeit in Bezug auf die Auswahl sowie zeitliche Nutzung und nicht, wie in den meisten Schulen durch die Lehrperson bedingte frontale und festgelegte Form (vgl. Breidenstein 2006, S. 61). Das offene Schulkonzept und ebenfalls die freie Sitzplatzwahl waren für mich neue Phänomene, welche daher mein Interesse geweckt haben und folgende ethnografische Beobachtungen entstanden sind.

Bestandteile eines Raumes wie z.B. Sitzplätze können nicht ohne den Klassenraum an sich analysiert werden. Daher folgt zunächst eine Beschreibung des Begriffs Raum. Löw (2007, S. 96) beschreibt „Räume als relational (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“. Damit ist zum einen eine gesellschaftlich bedingte Ordnung und zum anderen eine Anordnung im Sinne von Platzierungen gemeint. Beide Aspekte werden im Folgenden kurz näher erläutert. Gesellschaftliche Ordnungen werden in Handlungen von Individuen bemerkbar, sind aber ebenfalls Folge dieser. Räumliche Strukturen bilden in Kombination mit anderen zum Beispiel zeitlichen oder politischen Aspekten gesellschaftliche Strukturen. Demzufolge werden räumliche Strukturen im Handeln geschaffen und sichtbar. Jene bestimmte räumliche Struktur wird wiederum in der Konstitution von Räumen abgebildet, in Institutionen eingelagert und steuert Handeln. Menschliches Handeln lässt sich als repetitiv beschreiben, das heißt, dass der Alltag nach entwickelten Gewohnheiten gestaltet wird. Dies hat zur Folge, dass sie sich ohne langes Nachdenken im Alltag bewegen können und ebenfalls nicht darüber austauschen müssen (vgl. ebd.). Des Weiteren sind „Räume […], da sie im Handeln entstehen und auf Konstruktionsleistungen basieren, stehts sozial. Materiell sind platzierte Objekte, welche zu Räumen verknüpft werden.“ (ebd., S. 97) Der Aspekt der Materialität kann ebenso nicht ohne gesellschaftliche Strukturen gesehen werden. Menschen verfügen über die Fähigkeit sich selbst zu platzieren und diese Verortung wieder zu verlassen. Darüber hinaus können sie ihre Raumkonstitutionen mittels körperlicher Merkmale beeinflussen. Inwiefern Räume relevant für Menschen sind, ist durch ihren Habitus, d.h. durch Gruppenzugehörigkeiten, bedingt und nicht rein individuell noch homogen (vgl. Löw 2007, S. 97f.). Auch im Bereich der Sitzordnung sind solche beschriebenen gesellschaftliche Strukturen und Platzierungen insbesondere in diesem Fall durch eine freie Platzwahl erkennbar. Willms (2007, S. 1) beschreibt die Sitzordnung als „Ort im Raum und die Verortung im sozialen Arrangement der Klasse. Beide regulieren die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Lehrkörper und […] Schülern sowie zwischen den […] Schülern.“ Sitzplätze können somit als Ort verstanden werden, die nicht der Raum selbst sind, aber zu seinen Bestandteilen gehören (vgl. Breidenstein 2006, S. 43). So beschreibt Breidenstein in Bezugnahme auf Löw, dass jeder einzelne Sitzplatz einen Ort darstellt, der die Konstitution von Raum abbildet, generiert und den Raum als solchen erst denkbar macht (vgl. ebd., S. 62f.; Löw 2001, S. 198). Zudem gibt die soziale Verortung Aufschlüsse über Interaktionen zueinander und somit generierte Informationen über die Eigenlogik sollen in dieser Arbeit beschrieben und analysiert werden. Breidenstein (vgl. 2006, S. 43ff.) geht ebenfalls in seiner ethnografischen Studie auf die Thematik der Klassenräume ein und zeigt verschiedene Erkenntnisse zu visuellen, akustischen und haptischen Räumen und wie sich diese im Klassenverbund zeigen. Im Unterschied zu seiner Forschung zeigt diese Arbeit ein offenes, statt frontales Lernsetting und fokussiert stärker die Sitzplatzwahl der Kinder. Im Allgemeinen lässt sich die Analyse der räumlichen Dimension von Unterricht als jünger Forschungszweig beschreiben, die die sozialwissenschaftliche Forschung vor Herausforderungen stellt (vgl. ebd., S. 61).

 

Ethnografie als methodische Vorgehensweise

Die Ethnografie gilt als historisch gewachsene Erkenntnisstrategie. Ihre Ursprünge gehen auf die Erkundung fremder Kulturen im Zuge der Kolonialisierung sowie auf die Erforschung von Großstädten in Folge von Einwanderungswellen der Chicago School zurück (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 13ff.). „Zunehmend entsteht das Interesse gesellschaftliche Phänomene der Normalität und Mehrheitskultur, Interesse an normaler sozialer Ordnung und Praxis in der eigenen Gesellschaft zu erforschen.“ (Lange & Wiesemann 2012, S. 263). Gemeinsam ist diesen Traditionslinien der Erkenntnisstil des Entdeckens (vgl. Breidenstein et al. 2015, S.13). Dabei wird Vertrautes als Fremd betrachtet und methodisch befremdet (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 12).

Die Ethnografie arbeitet mit einem starken Empiriebegriff, d.h. es wird davon ausgegangen, dass Wissen über die Gesellschaft den Sozialwissenschaften nicht schon immer und in Gänze vertraut, verstanden und verfügbar ist (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 7) und dass es somit kulturelle Phänomene noch zu entdecken gilt (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 13). Demgegenüber verfügt die Ethnografie über einen weichen Methodenbegriff, dessen Entscheidungsgewalt vom Feld aus bedingt ist und nie der Forschung willen (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 9, 19). Primär für eine ethnografische Forschung ist die Teilnehmende Beobachtung (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 7).

Dabei besteht die Besonderheit, dass der Forscher eine Art „parasitäres“ (Amann & Hirschauer 1997, S. 27) Verhalten zum Feld zeigt. Durch eine längerfristige Kopräsenz des Beobachters kann hier empirisches Wissen sozusagen aus erster Hand über einen konkreten Fall generiert werden. Diese Beobachtung in Form der Teilnahme legt die Grundannahme der Ethnografie, dass jedes Feld über eine individuelle Sozio-Logik bzw. kulturelle Ordentlichkeit verfügt sowie sich kontinuierlich selbst methodisch generiert und strukturiert, zugrunde (vgl. ebd., S. 19ff.). „Kulturelle Felder verfügen über eine Eigenlogik, […] die auch einen Beobachter, der sich treiben lässt, an die Hand nimmt und führt.“ (Breidenstein et al. 2015, S. 38).

Eine Kopräsenz des Beobachters ist immer durch eine Spannung zwischen Teilnahme und Distanzierung bestimmt (vgl. ebd., S. 7). Auf der einen Seite versucht der Ethnograf durch Teilnahme eine solche Feldlogik zu verstehen, auf der anderen Seite muss er auch sein strategisches Privatspiel im Blick behalten um empirisches Wissen zu schaffen (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 27). Eine Handlungspraxis als solche zu erkennen, kann nur erfolgen, wenn die Beobachterrolle frei von Handlungszwängen ist (vgl. ebd., S. 24). Dies zeigt auch der Unterschied zu den Akteuren im Feld, deren Lebenswelt durch die Lösung handlungspraktischer Anforderungen bestimmt ist (vgl. Lüders 2012, S. 390). Ein befremdeter Beobachter kann daher lokales Wissen explizieren, welches Teilnehmern reflexiv nicht zur Verfügung steht (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 24). Der Ethnograf muss sich der Situation befremden um Phänomene klarer erkennen zu können (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 8). Der Prozess der Befremdung bzw. des immer wieder neuen Wunderns, besitzt somit fortlaufenden Charakter (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 29).

Um die Logik dieses spezifischen Falls in Bezug auf die Platzwahl herauszuarbeiten, erfolgt neben einem längeren Aufenthalt durch das Praktikum eine explizite Phase der Beobachtung. Infolge der Erstellung von „Fieldnotes“ wird so eine erste Versprachlichung von sozialen Phänomenen (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 35) vorgenommen sowie die Möglichkeit einer erneuten Fokussierung und Befremdung durch die Erstellung Dichter Beschreibungen. Diese sollen zum Weiterleben der Erfahrungen anregen (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 30) und werden als Basis zur Analyse genutzt.

Die Ethnografie eignet sich für die Erschließung der Platzwahl, da ein selbstverständlich scheinendes Phänomen vorliegt, welches auf ein Wissen anspielt, das Akteuren nur bedingt reflexiv verfügbar ist. Daher ist eine ausschließlich auf Interviews angelegte Forschungsmethode in diesem Fall nicht sinnvoll, um die Eigenlogik der Gruppe zu erschließen. Wie beispielsweise Aushandlungen von Plätzen erfolgen, ist durch einen großes inkorperiertes Wissen, d.h. Mimik und Gestik geprägt. Dieses kann somit durch Beobachtungen erschlossen werden.

Reflexion

Im Folgenden setze ich ein verschärftes Augenmerk auf meine Rolle als Forscherin und die daraus resultierenden Reaktionen des Feldes. Solch eine Reflexion an dieser Stelle hat eine wichtige Bedeutung für die Dichte Beschreibung sowie die Analyse, da ein wichtiges Kennzeichen der Ethnografie nicht nur die Beobachtung des Feldes, sondern auch die Selbstbeobachtung ist.

 Rolle als Forscherin

Die Rolle als ethnografische Forscherin ist geprägt durch eine extensive Teilhabe am Geschehen, jedoch auch durch einen bewussten Rückzug am Handlungsverlauf. So musste auch ich eine klare Grenze zwischen meinen Rollen ziehen, zum einen als agierende Person in der Rolle einer Praktikantin, die auch durch einige Verantwortung und Eigeninitiative geprägt war und zum anderen als ethnografische Forscherin. Der Alltag dieser beiden Rollen ist von Grund auf verschieden, aber bietet auch positive Synergieeffekte. Durch den längeren Praktikumszeitraum kann ein Grundvertrauen aufgebaut werden, welches für die Forschung positive Auswirkungen hat. Für meine Forschungsanfänge musste ich mir Nischen suchen, die mich von einem Handlungsdruck entlasten, z.B. geht das gleichzeitige Kontrollieren von Hausaufgaben und der Teilnehmenden Beobachtung auf die Qualität der Dokumentation. Solche Nischen und das Interesse an der Platzwahl führten zu meiner jetzigen Fragestellung. Dass Kinder sich in der Schule Plätze aussuchen dürfen, war für mich eine ganz neue Beobachtungsgrundlage, die mich auch an meine eigene Auswahl eines Platzes erinnerte. Ich selbst hatte im Rahmen des Praktikums im Klassenraum ebenfalls keinen festen Platz und war dadurch von der Eigenlogik des Feldes nicht befreit, sondern agierte in irgendeinem Modus mit. Als mir dies bewusst wurde, empfand ich die Wahl eines Platzes tatsächlich als „kurios“ und war gefangen in einer Art Unverständnis. Eine lange Zeit empfand ich diese Planlosigkeit als konstant, als würde diese nie weggehen, aber dann fielen immer mehr Erkenntnisse, von denen ich im Folgenden berichte. Im Rahmen der Teilnehmenden Beobachtung habe ich mich der Methodenfreiheit bedient. Erstmals habe ich auf Beobachtung gesetzt, dem Dokumentieren von Atmosphäre und Anzeichen von Erkenntnissen oder Regelmäßigkeiten. Dabei musste ich mich aktiv von der Dominanz des Wortes frei machen, um nicht wie ein Diktiergerät stimmungslos Aussagen der Akteure niederzuschreiben. Im weiteren Verlauf habe ich informelle Gespräche genutzt sowie versucht durch meine Platzwahl Reaktionen der Eigenlogik des Feldes zu erzwingen, um weiteres Wissen zu generieren.

 Reaktion des Feldes

Die Reaktion des Feldes ist nicht zuletzt durch meine Rolle geprägt. Durch meinen ersten frühen Unterrichtsbesuch und die Bereitschaft mir ein großes Maß an Eigeninitiative zu überschreiben, habe ich schon einen frühen Zugang zur Rolle als „Lehrerin“ gewonnen, die sich meiner Meinung nach zu der der Praktikantin in vorhandenen Studienpraktika unterscheidet. Die Rolle als Forscherin entwickelte sich langsamer sowie auch mein Interesse an dem Phänomen der Platzauswahl. Dass ich mich für etwas „Neues“ in den Augen der Akteure, vor allem der Schüler, interessiere, ist immer mehr in Erscheinung getreten. Gerade im anfänglichen Forschungsprozess habe ich die Reaktion des Feldes erfahren und gerade mein Zurückziehen wurde von den Kindern kritisch hinterfragt. Beispielsweise, warum ich heute keine Hausaufgaben korrigiere und was ich in meinen Notizblock schreibe, schien viele Kinder zu interessieren. Demzufolge habe ich erklärt, was und warum ich dies tue sowie mich mit den Fragen der Kinder beschäftigt. Dieses Interesse habe ich letztendlich zu meinem Vorteil genutzt und Gespräche in meine Forschung integriert. Die Kinder haben gefallen daran gefunden mir ihre Sicht der Lebenswelt näher zu bringen, haben mir meine Fragen beantwortet und kamen zu mir, wenn ihnen etwas Neues rund um das Thema Sitzplätze eingefallen ist. Ein Mädchen wollte unbedingt ihre Aussagen des Gespräches in meinen Block schreiben und half mir mit Erklärungen. Das lässt mich vermuten und durch meine späteren Beobachtungen auch stützen, dass das Thema Platzwahl eine gewisse Dichte auch bei den Kindern enthält, da es auch ihre lebensweltlichen Handlungsprobleme beschreibt. Nachdem die meisten Kinder sich intensiv mit meinem Erkenntnisinteresse beschäftigt haben, ist die Aufmerksamkeit auf meine Beobachtungen abgeflacht.

Beschreibung der Lernkultur

Die folgenden ethnographischen Ergebnisse wurden im Rahmen des Praxissemesters gesammelt und stammen aus einer mittelgroßen Grundschule in der Stadt Siegen. Die Lernkultur lässt sich als offen beschreiben, da die Klassen jahrgangsgemischt von der ersten bis vierten Klasse unterrichtet werden. Das Unterrichtskonzept ist an Maria Montessori angelehnt. Insgesamt befinden sich acht Klassen in der Schule, wobei immer zwei stärker miteinander kooperieren. Dies kann man zum einen an dem räumlichen Aufbau erkennen, da diese Klassen oft mit einer Verbindungstür zusammen liegen. Zum anderen finden einmal die Woche in heterogenen Gruppen Einführungsunterricht in den Fächer Deutsch, Mathematik und Sachunterricht mit der Nebenklasse zusammen statt. Dominierende Unterrichtsform ist die Freiarbeit, die durch einen Wochenplan strukturiert wird. In dieser sollen die Schüler selbstständig Aufgaben wählen, zum Teil sind diese bereits auf dem Wochenplan festgehalten und zum anderen Teil dürfen die Kinder sich auch an weiteren Aufgaben bedienen. Das Material für die Freiarbeit ist für die Kinder zugänglich in Regalen positioniert und ebenfalls an dem Maria Montessori Konzept angelehnt. Die Kinder sollen in der Freiarbeit möglichst Deutsch- und Mathematikaufgaben zu gleichen Teilen erledigen, dies wird durch ein akustisches Signal unterstützt. Der Beginn und Abschluss einer Unterrichtsstunde oder -sequenz wird mit einem gemeinsamen Sitzkreis strukturiert. Der Klassenraum ist nicht typisch gestaltet, sondern enthält mehrere Gruppentische im Klassenraum sowie einen Sitzkreis. Die Tafel und der Lehrerhochtisch sind nicht so zentral gelegen, wie oft in Schulklassen. Die Schüler dürfen während des kompletten Unterrichtstages ihren Sitzplatz frei wählen und ebenfalls, ob sie die ausgesuchte Aufgabe eigenständig oder mit einem Partner erledigen. Außerdem wird oft geschaut, dass Verbindungen zwischen den fachlichen Inhalten der Fächer sowie Niveaustufen geschaffen werden. In den Klassen herrscht eine Vielfalt von Kindern mit unterschiedlicher Herkunft sowie Kindern mit verschiedenen Förderbereichen. Auch kooperiert die Schule mit verschiedenen außerschulischen Institutionen, wie zum Beispiel einem Kinder- und Jugendtreff. Des Weiteren bietet die Schule vielerlei AG´s und eine Betreuung an.

Dichte Beschreibung

Es ist Montag 7:55 Uhr und die meisten Schüler befinden sich bereits im Klassenraum. Die Hausaufgabenkontrolle neigt sich langsam dem Ende zu.

Es herrscht eine chaotische Stimmung, viele Kinder reden miteinander und die Lehrerin hört man ab und zu im Hintergrund reden. Sie sitzt noch an einem aus mehreren Tischen zusammengestellten „Gruppentisch“[2] und bespricht mit einem Jungen seine Hausaufgaben. Währenddessen sind bereits viele fertig mit der Hausaufgabenkontrolle, räumen ihre Sachen wieder in die Schultaschen, die alle nebeneinander an einer Wand und einem Regal nah der Klassentür zum Flur hängen und stehen. Die Schülerin Julia hat ihre Sachen bereits weggeräumt und geht schnellen Schrittes auf den Sitzkreis zu. Dieser ist aus vier Holzbrettern auf Getränkekisten zusammengebaut und steht in der hinteren Ecke des Raumes. Julia setzt sich auf die letzte Bank aus ihrer Richtung, die sich mit dem Rücken zum Whiteboard richtet. Sie setzt sich mit dem Rücken etwas gebeugt auf die Bank und stützt sich mit einem Arm ab. Dann klopft sie mit der flachen Hand auf die Bank und ruft: „Aylin, hier, setz dich hier hin.“ Aylin steht noch an ihrer Schultasche, dreht sich um und schaut zu Julia. Dreht sich wieder zu ihrer Schultasche um, faltet ihre Hefte schneller als zuvor und legt diese in die Schultasche. Sie macht ihre Schultasche zu und läuft zu dem Platz neben Julia. Zwei weitere Schüler, David und Simon setzten sich auf eine andere Bank und raufen sich, indem sie die Hände fest an die Arme des anderen drücken und mit ihrem Körpergewicht nach links und rechts schwenken. Dilan und Fynn setzen sich ebenfalls auf die gleiche Bank, jedoch mit etwas Abstand und direkt an das anliegende Regal. Dort liegen viele verschiedene Sachen, die für den Sitzkreis, das Whiteboard oder für den CD-Player im Unterricht gebraucht werden. Dilan sitzt direkt dort neben und wählt sich eines der darauf liegenden Kuscheltiere mit fokussiertem Blick und bewegenden Mundwinkeln aus. Dieses hält er nach erneutem Sitzen in den Händen und dreht es immer wieder mit seinen Fingern hin und her. Auch Fynn steht jetzt auf, stellt sich kurz vor das Regal und nimmt sich eines der noch übrigen Kuscheltiere. Er setzt sich wieder auf die Bank und wirft seines immer ein kleines bisschen in die Luft und fängt es auf, dabei folgt sein Blick dem Kuscheltier. In dieser Zeit sind bereits einige Kinder langsamen Schrittes eingetrudelt und haben Plätze im Sitzkreis eingenommen. Alle vier Bänke sind bereits gut gefüllt. Der Platz zentral vor dem Whiteboard ist jedoch bis jetzt konstant frei geblieben. Auch die Lehrerin kommt nun in den Sitzkreis und setzt sich ohne Zögern direkt auf diesen frei gebliebenen Platz. Noch drei weitere Kinder, diese müssten die Letzten sein, stehen nun am „Eingang“ des Sitzkreises, d.h. zwischen den beiden Bänken, durch die man gewöhnlich geht, um einen Platz im Sitzkreis zu wählen. Die drei stehen in einer Art Schlange hintereinander. Theo ist vorne, dreht seinen Kopf immer wieder und scheint zu überlegen, dabei verzeiht er seinen Mund zur Seite. Die anderen beiden Abdul und Leonardo sind dagegen noch mit einer Unterhaltung beschäftigt und zappeln mit den Beinen und Armen herum, zudem lachen sie. Abdul steht dabei in der Schlange mit Blick zu Leonardo, d.h. nicht Richtung Sitzkreis. Die Lehrerin schaut Theo an, zeigt mit ausgestreckter Hand auf einen der Plätze an der Fensterseite und nickt schräg zur Seite. Sie schaut auf den Platz und sagt: „Tarik rutsch etwas, damit der Theo da noch zwischen passt.“. Dabei wischt sie mit ihrem ausgestreckten Arm zur Seite. Tarik wirkt nicht begeistert und verzieht sein Gesicht, legt seine Beine enger zusammen und rutscht zu Fynn rüber. Theo setzt sich in die Lücke. Tarik legt seine Hände aneinander auf den Schoß und zieht seine Schultern zu sich. Während die Lehrerin bereits Plätze für die anderen sucht, ruft Tarik in die Klasse und sagt: „Hier ist viel zu wenig Platz, ich bin total gequetscht“. In diesem Moment sagt die Lehrerin mit ernster Stimme zu Abdul, der sich einen Stuhl zum Sitzkreis geschoben hat, dass er sich bitte, wie alle anderen auch in den Sitzkreis setzten soll. Abdul steht von seinem Stuhl auf, bleibt kurz stehen und schnauft vor sich hin. Dann nimmt er den Stuhl und schiebt diesen über den Boden wieder zu dem Tisch zurück und setzt sich direkt an den Sitzkreiseingang mit seinem halben Gewicht auf die Bank. Die Integrationskraft und ich setzen uns mit Stuhlen etwas hinter den Sitzkreis, sodass wir jedoch noch einen guten Blick dorthin haben und nicht zu außerhalb sitzen. Die Integrationskraft setzt sich mit ihrem Stuhl nah zu Ilyas, tippt ihn an. Als er sie anschaut, flüstert sie: „Rutsch mal ein bisschen, dass der Abdul sich noch richtig auf die Bank setzen kann.“ Währenddessen hat die Lehrerin mit organisatorischen Dingen zum heutigen Schultag angefangen. Die Lautstärke sinkt und die Atmosphäre wirkt auf mich ruhiger. Auf der Bank neben der Lehrerin, sowie auf der rechten sitzen die Mädchen der Klasse, bis auf Elif, die sich auf die Bank gegenüberliegend zur Lehrerin gesetzt hat. Neben ihr auf der Bank zur rechten und linken sitzen Jungen sowie ebenfalls auf der links danebenliegenden Bank.

Nach dem Sitzkreis findet die Freiarbeit statt. Dazu wird eine Box mit Lernplanern auf den Tisch in Mitten des Sitzkreises gelegt. Die Lehrerin nennt die Bänke mit den Kindern, die aufstehen dürfen. Die Kinder gehen zu ihren Schubladen, nehmen sich ihr Arbeitsmaterial, welches sie für ihre ausgesuchte Freiarbeitsaufgabe brauchen und wählen nun einen Sitzplatz für die Arbeitsphase.

Das Aufstehen von den Plätzen zu den Schubladen, in denen das Arbeitsmaterial liegt wirkt auf mich langsam, ruhig und etwas träge. Die Stimmung verändert sich jedoch als erste Kinder ihre Arbeitssachen in der Hand haben. Nun geht es schnell, aber doch überlegt zu. Devin stürmt als erster zu einem blauen Scheibtischstuhl, der an einem der Lernplätze steht und als einziger im Raum über diese Ausstattung verfügt. Setzt sich drauf, wippt mit der Lehne nach hinter und lehnt sich mit Rücken und Kopf nach hinten, als würde er kurz eine Auszeit nehmen. Dann steht er jedoch wieder flink auf, wirkt als würde er lächeln und setzt sich auf einen anderen Platz. Dazu tauscht er zwei Stühle, die an einem Zweiertisch stehen, sodass auf der rechten Seite, wo er seine Schulmaterialien abgelegt hat, ein Stuhl mit Polsterung ist.

Einige Zeit später kommt Leonie zu dem blauen Stuhl, legt ihre Sachen auf den Tisch davor ab und setzt sich hin. Emir kommt mit schweifendem und genervtem Blick und sagt zu Leonie, dass er dort sitzen wollte. Leonie steht auf, hält jedoch eine Hand fest am Stuhl und zuckt mit dem Schultern. Es scheint, als würde Emir noch versuchen wollen sie umzustimmen, aber seine Aussichtslosigkeit bereits schon ahnt. Er schmeißt seine Sachen mit einem Ruck auf den Tisch gegenüber, stampft seine Arme überkreuzt vor seine Brust und geht schleppend einmal um den Tisch herum zu seinem Platz und lässt sich dort auf seinen Stuhl fallen. Leonie hält sich mit einem Arm an dem Stuhl mit dem anderen auf dem Tisch fest und hoppst mit einem Sprung wieder zurück auf den Stuhl. Emir, der nun gegenüber sitzt schaut sie immer noch mit heruntergezogenen Mundwinkeln an und Leonie sitzt in gerader Haltung auf dem ergatterten Stuhl und schlägt ihr Arbeitsmaterial entschieden auf.

Kurz danach kommt Devin zum Stuhl gerast und tippt Leonie an. Sie dreht sich zu ihm um und er sagt: „Heute darf doch keiner auf den Stuhl.“ [In einem Klassenrat wurde verabredet, dass der blaue Schreibtischstuhl an manchen Tagen für die Integrationskraft bestimmt ist.] Dabei klingt er sehr direkt. Leonie scheint direkt zu wissen, was los ist, denn sie schnauft etwas und verzeiht ihr Gesicht. Dann schiebt sie ihre Sachen zusammen und hopst vom Stuhl runter und setzt sich zum nächstgelegenen Gruppentisch. Devin nimmt nachdem Leonie aufgestanden ist den Stuhl in die Hand und schiebt diesen Mitten in den Raum, weg von jeglichem Tisch. Er scheint mich entdeckt zu haben, denn er kommt schnellen Schrittes zu mir und sagt mit ernster Stimme: „Du musst den Stuhl freihalten.“

Nach circa einer Minute kommt Tarik zum Stuhl und will diesen an seinen alten Platz schieben. Devin, der sich einen Platz mit Blick auf das Stuhlgeschehen gesucht hat, steht blitzschnell auf und hält mit seiner Hand den Stuhl fest. Tarik dreht sich mit einem „Hä“ um und guckt ihn entgeistert an. Devin sagt mit leicht genervter Stimme: „Der Stuhl muss doch frei blieben.“ Tarik antwortet mit „Oh man!“, schüttelt den Kopf und geht gemütlich zu einem anderen Gruppentisch, wo er seine Sachen mit einem kleinen Ruck fallen lässt. Als die Integrationskraft zu dem Vierertisch geht und den Stuhl zum Tisch zieht, steht auch Devin auf und erklärt der Integrationskraft, dass er diesen Stuhl extra für sie freigehalten hat. Er wirkt dabei stolz und die Integrationskraft bedankt sich dafür.

Theo nimmt sich einen Wackelhocker, der an einem Vierertisch steht und läuft mit diesem an seinen Arbeitsplatz, der nicht als Gruppentisch, sondern Reihe konzipiert ist. Er verlässt diesen jedoch nach kurzer Zeit und trägt seinen Hocker mit durch die Klasse, um etwas aus seinem Schulranzen zu holen. Danach kehrt er mit Hocker wieder zu seinem Arbeitsplatz zurück.

Langsam befinden sich alle der Schüler an Plätzen. Alle vier Gruppentische sind besetzt, zum größten Teil sitzen Jungen neben Jungen und Mädchen neben Mädchen an einem Doppeltisch. Lina und Emilia liegen mit ihren Heften aufgeschlagen auf einem Teppich vor der Tafel. Ich verlasse langsam die Rolle der reinen Beobachterin und beginne mit Gesprächen. Ich frage den Vierertisch, an dem auch Devinl und Leonie sitzen, nach ihren Begründungen zur Platzwahl.

Elyas antwortet, dass das hier der einzig gute Vierertisch ist, da er gut gelegen ist, nah bei der Materialbeschaffung zur Stationenarbeit. Der andere Vierertisch sei zum Arbeiten viel zu laut. Seine Stationsnachbarin, Leonie bestätigt dies und ergänzt, dass die Kinder dort immer viel reden. Elyas ergänzt, dass er jedoch lieber an dem anderen Vierertisch direkt am Fenster gesessen hätte, weil man dort rausgucken kann. Aber die Integrationskraft wollte dort sitzen und die ist manchmal streng. Leonie ergänzt zusätzlich, dass sie böse guckt, aber bittet mich schmunzelnd das nicht in meine Notizen aufzunehmen. Die Kinder des Vierertisches fragen mich ebenfalls interessiert und schauen fokussiert auf meine Notizen, warum ich diese notiere. Ich erkläre ihnen, dass ich dies für die Uni mache und mich interessiert, an welchen Plätzen sie gerne sitzen. Ich frage Dilan, warum er diesen Platz gewählt hat. Er antwortet mir, dass er bei seinem Freund sitzen möchte und zeigt auf Devin. Leonie fragt mich, ob sie diese Beobachtung in meinen Collegeblock schreiben darf. Ich erlaube ihr dies und gebe ihr meinen Stift. Sie schaut mich noch einmal kurz an und fragt nach kurzer Wartezeit dann, ob sie doch lieber mit Bleistift schreiben darf, so kann sie noch radieren, wenn sie sich verschreibt. Dies bestätige ich ihr ebenfalls. Elyas erklärt, dass er hier sitzt, weil seine Freunde hier sitzen. Ich frage ihn, warum er auf dem Wackelhocker sitzt. Daraufhin antwortet er mir, dass er es mag, wenn er wackeln kann. Leonie ergänzt: „Schau mal, ich sitze auf so einem Kissen, dass wackelt auch. Darf ich das auch aufschreiben?“ Ich gebe ihr wieder den Collegeblock. Während sie schreibt, fragt sie mich, wie das Kissen denn heißt. Ich antworte ihr, dass ich es Sitzkissen nennen würde. Sie schreibt auf, dass sie es mag auf dem Sitzkissen zu sitzen, aber noch lieber auf dem blauen Schreibtischstuhl sitzt. Das Sitzkissen mag sie, da sie dann wackeln und tanzen kann und der blaue Schreibtischstuhl ist besonders kuschelig. Sie gibt mir den Block zurück und lächelt stolz.

 

Analytische Dimensionierung

Aus der vorliegenden Dichten Beschreibung sind mehrere Kriterien herauszufiltern, die eine besondere Bedeutung im vorliegenden Setting bei der Platzwahl haben. Folgende Punkte sind mir bei meiner Analyse besonders aufgefallen, was aber andere wichtige Punkte nicht ausschließt. Daher möchte ich in meiner Analytischen Dimensionierung insbesondere auf die Aspekte Raum, Materialität, Freundschaft und Geschlechter ein Augenmerk legen.

 Raum

Schulisches Lernen und soziales Miteinander findet zu einem großen Teil im Klassenraum statt. Daher ist die Beschaffenheit des Raumes zentral für die folgende Analyse. Wie wird der Raum genutzt, insbesondere in der Hinsicht auf die Platzwahl? Welcher Raum wird für sich selbst bzw. für andere beansprucht und wie wird dieser im schulischen Handeln konstituiert?

Insgesamt lässt sich der Klassenraum in verschiedene Handlungsräume unterteilen. Diese wären zum Beispiel der Sitzkreis, der etwas vom Unterrichtsgeschehen abgetrennt ist durch Tische, Regale und Sitzreihen. Der Sitzkreis bietet ein fest ritualisiertes Beisammensein, was in einer gemeinschaftlichen Form stattfindet und durch die quadratische Anordnung ein erhöhter visueller Raum ermöglicht wird. Dieser Raum ist besonders durch seine Nähe und Gemeinschaftlichkeit geprägt, während Sitzreihen und Gruppentische für die Einzel-, Partner- oder Kleingruppenarbeit vorgesehen sind. Der eigene beanspruchte haptische Raum ist im Sitzkreis ebenfalls kleiner und enger als an den Arbeitstischen. Zum Teil machten Kinder, wie in den Beschreibungen erkenntlich, Bemerkungen, dass ihnen dieser Raum zu eng ist und gerne weniger Körperkontakt hätten. Dies wird indirekt auch an der zur Hilfenahme eines Stuhls von Abdul sichtbar, der dadurch den Vorteil von mehr und gesicherterem Platz besitzt. Zwar wissen die Schüler, dass dies von der Lehrperson nicht gewollt ist, versuchen dies jedoch oft. Das Arbeiten an den Arbeitsplätzen scheint fest definiert zu sein. Jedes Kind nutzt in etwa die Hälfte eines Doppeltisches sowie einen Stuhl. Dies kann auch als festes Territorium zum Arbeiten im Regelfall beschrieben werden. Aber nicht nur „übliche Plätze“ können für das Arbeiten genutzt werden. Zwei Schülerinnen arbeiten beispielsweise oft auf dem Teppich zwischen Tafel und Lehrerhochtisch. Dieser Ort wurde von ihnen als spezifischer Handlungsort in Bezug auf schulisches Arbeiten konstituiert. Die Gruppentische im Klassenraum verfügen über verschiedene akustische Räume. Bei der Befragung nennen Kinder, dass sie lieber an dem leiseren Gruppentisch sitzen oder auch weitere Kriterien, wie ein Tisch mit Blick nach draußen. Auch Devin wählt einen Ort, an dem er das Geschehen des blauen Schreibtischstuhl genau mitverfolgen kann. Sichtbar wird, dass den Kindern unterschiedliche Kriterien in Bezug auf den Raum wichtig sind, diese können z.B. visueller, akustischer oder auch haptischer Natur sein.

 Materialität

Insbesondere die Materialität im Raum scheint zentral für die Platzwahl. Dies wird sowohl im Sitzkreis als auch an den Arbeitstischen deutlich. Zentrales Beispiel ist hier der blaue Schreibtischstuhl, der eine gewissen Komfort im Gegensatz zu den üblichen Stühlen hat. Schüler scheinen diesen Platz regelrecht zu genießen und sich durch Schnelligkeit erkämpfen zu müssen. Da er jedoch an bestimmten Tagen für die Integrationskraft reserviert ist, bleibt dieser Stuhl für längere Zeit frei. Daher ist gut sichtbar, wie beliebt dieser ist und auch, dass er anderen Mitschülern nicht „einfach so“ überlassen werden kann. Devin hat es sich im Prinzip zur Aufgabe gemacht, den Stuhl freizuhalten und ihn rechtmäßig der Integrationskraft zu übermitteln, dafür sucht er auch meine Hilfe, höchstwahrscheinlich in der Rolle der aufpassenden Praktikantin. So rückt er den Stuhl auch in die Mitte des Raumes, sozusagen als Zeichen der nicht Verfügbarkeit. Dadurch kann er Kinder darauf aufmerksam machen, dass dieser Platz heute nicht zur freien Verfügung steht, was jedoch nicht ganz funktioniert. Aber auch andere Stühle haben eine erhöhte Bequemlichkeit oder Attraktivität, sind aber bei den meisten Schülern in einer Skala mit weniger Wert bemessen als der blaue Schreibtischstuhl. Beispielsweise bietet der Klassenraum auch Stühle mit Polsterung, die scheinbar für Devin eine Alternative bieten. Des Weiteren gibt es Hocker, die geeignet sind zum „Wackeln“ und „Tanzen“. Diese sind scheinbar ebenfalls favorisiert, da diese zum Teil mitgeschleppt werden, um Gegenstände aus den persönlichen Ablagefächern zu holen. Dies bietet ein Indiz dafür, dass Stühle auch mal gerne von Tischen getauscht werden. Die Stühle sind daher alle in ihren Plätzen genauso wie die Schüler platzierbar mit Ausnahme des blauen Stuhls, dieser darf nur an einem vorgegebenen Platz genutzt werden und ist dadurch mit klasseninternen Strukturen belegt. Aber auch der Sitzkreis hat Plätze, die zu einem kleinen Schrank Zugriff haben. In diesem befinden sich beispielsweise Kuscheltiere, die zum Spielen genutzt werden können (Als ich mich einmal an den Platz gesetzt habe, wurde ich gefragt, ob ich den Platz tauschen kann.) und ebenfalls eine bestimmte Beschäftigung insbesondere vor dem Unterrichtsbeginn bieten. Zum Teil sind es jedoch immer ähnliche Schülergruppen, die sich für einen solchen Komfort interessieren bzw. ein höheres Interesse aufbringen, was sie veranlasst schnell und mit mehr Aufwand an solche Plätze zu gelangen. Andere Kinder scheinen bestimmte Dinge nicht zu interessieren. Beispielsweise nutzen Lina und Emilia den Teppich als Arbeitsgelegenheit, aber nicht den blauen Schreibtischstuhl. Dies ist ebenfalls ein Indiz für unterschiedliche Habitusgruppen und damit verbundenen verschiedenen Interessen. Ebenfalls entscheidet die Lehrerin oder gemeinsam erschlossene Regeln, dass bestimmtes Mobiliar oder Dinge zu manchen Zeiten nicht gestattet sind. Beispielswiese durch den Klassenratsbeschluss, der der Integrationskraft Tage für den blauen Stuhl reserviert hat oder, dass mit den Kuscheltieren nicht während der Unterrichtszeit gespielt werden darf. Allgemein zeigt insbesondere die Materialität des Raumes, die diesem zu einem solchen konstituiert, eine hohe Dichte an Interaktionen. Materialität scheint einen großen Einfluss auf die Wahl des Platzes zu haben sowie auf die Interessen der Schüler.

 Freundschaft

Jedoch auch die Interaktionen zueinander sind ausschlaggebend für die Wahl des Platzes. Die Sitznachbarn der Kinder deuten darauf hin, dass Freundschaften ebenfalls eine Bedeutung spielen. Sowohl der Sitzkreis als auch die Arbeitsplätze sind von immer gleichen Konstellationen geprägt. Durch ein häufiges Beisammensein und das Spielen in der Pause bewerte ich diese Beziehung als Freundschaft. Insbesondere im Sitzkreis zeigt sich die Besonderheit, dass Kinder sich gegenseitig Sitzplätze freihalten. Dies tun einige durch Rufen oder Klopfen auf der Bank. Dadurch wird der Person und ihrem Umfeld symbolisiert, dass dieser bestimmte Platz reserviert bleiben soll. Ebenfalls deutlich wird, dass diejenigen die auf der Bank sitzen eine Art Vorrecht darüber haben, wer neben ihnen sitzen soll, sie können sozusagen auf die Platzwahl anderer Einfluss nehmen. Meistens, insbesondere vor Unterrichtsbeginn, dient der Sitznachbar der Unterhaltung. Darunter sind nicht nur übliche Konversationen zu verstehen, sondern auch das Spielen mit Kuscheltieren oder ein Raufen auf der Bank. Diese Tendenz bildet sich auch bei den Freiarbeitsplätzen ab. Die Tische sind im Prinzip bereits gemeinschaftlich konzipiert, so können in der Regel immer mindestens zwei Schüler an einem Tisch sitzen. Diese Konstellationen werden ebenfalls aufgrund von freundschaftlichen Komponenten gewählt und dadurch ähnlich wie im Sitzkreis. Dies erleichtert für die Kinder ebenfalls die Partnerarbeit, die sie am liebsten mit ihren Freunden machen. Auch in dem Gespräch mit Elyas wird deutlich, dass er den Platz gewählt hat, da er neben seinem Freund Devin sitzen möchte. An den Arbeitsplätzen befinden sich an den Gruppentischen zum Teil auch Peergroups, das heißt, dass bis zu vier Kindern ähnlichen Alters an einem Gruppentisch sitzen. Dies geschieht jedoch eher bei den Viertklässlern. Die Erstklässler befinden sich oft in einer zweier Konstellation, wahrscheinlich da sie sich in diesem kleineren Rahmen geschützter Fühlen und durch ihren kürzeren Aufenthalt im Klassenverbund noch über weniger soziale Kontakte verfügen. Insbesondere bei der Anordnung der Schüler sind direkte Nachbarn von Bedeutung, diese werden oft in der gleichen oder zumindest ähnlichen Konstellation gewählt. Dies kann mit dem repetitiven Verhalten von Menschen erklärt werden, da sie nicht immer wieder neu entschieden, da Freundschaftsmerkmale nicht immer wieder neu überprüft und miteinander kommuniziert werden.

 Geschlechterordnung

Auch geschlechterspezifische Merkmale prägen die Sitzplatzwahl. Dies ist besonders im Sitzkreis ersichtlich, durch den im Prinzip eine Diagonale zwischen Jungen und Mädchen gezogen werden könnte. Die Mädchen der Klasse besetzen mit einer Ausnahme die Bank hinter dem Whiteboard, welche auch einen Platz für die Lehrerin enthält sowie die rechte Bank. Die Jungen beanspruchen die linke und der Lehrerin gegenüberliegende Bank. Elif sitzt in meiner Beobachtung gegenüber von der Lehrerin zwischen den Jungen, in anderen Beobachtungen sitzt sie jedoch auch bei ihren Freundinnen neben der Lehrerin, wobei nicht in direkter Nachbarschaft. Das liegt womöglich an ihren unterschiedlichen Freundesgruppen. Zum Teil spielt sie in der Pause mit den Jungen Fußball, wohingegen sie auch oft mit ihren Freundinnen im oder zwischen dem Unterricht Zeit verbringen. Die Reihenfolge der Personen wird zum Teil getauscht, doch der Wechsel der Bank bzw. einer Gruppe ist in meinen Beobachtungen bis auf diese Ausnahme nicht ersichtlich. Im Prinzip besitzen sie eine „Stammbank“ und eine Platzspanne von maximal drei bis vier Plätzen. Auch ist der Schrank, der zum Spielen mit Kuscheltieren und Anlehnen genutzt wird, zwischen Jungen und Mädchen aufgeteilt, beide haben Zugang zu diesem. Diesen Platz besetzen jedoch unterschiedliche Personen. Die Arbeitsplätze sind ebenfalls geschlechterhomogen gestaltet, wobei diese Homogenität des Öfteren durch zum Beispiel der Losung von Partnern beim Stationenlernen aufgebrochen wird. So ist in dieser Beobachtung ein Gruppentisch mit drei Jungen und einem Mädchen besetzt. Zum Teil werden auch Gruppentische mit der Hälfte an Jungen und Mädchen besetzt. Dass die Klasse sich oft geschlechterhomogen bei der Platzwahl anordnet, scheint im Klassenkontext eher als Normalität zu gelten und wird selten explizit benannt. Geschlechter scheinen in diesem Kontext ebenfalls zu einer Art interessengeleiteten Gruppe zu gehören, die eine bestimmte Auswahl von Sitzgelegenheiten präferiert. Dennoch befinden sich die Schüler in mehreren Gruppen, welches zum Beispiel die Wahl von Elif erklärt. Sie kann sich mit ihren weiblichen gleichaltrigen Mitschülern identifizieren sowie auch mit männlichen, da sie mit ihnen zum Beispiel das Hobby Fußball teilt. Eine geschlechterhomogene Anordnung ist jedoch auch durch Freundschaften geprägt, da diese in den meisten Fällen gleichgeschlechtlich sind.

Fazit

Zusammenfassend können hier einige Eigenlogiken des Feldes in Bezug auf die Platzwahl herauskristallisiert werden. Sowohl im Sitzkreis als auch an den Arbeitsplätzen spielen ähnliche Kriterien eine wichtige Rolle, die das Handeln der einzelnen Akteure steuern. Diese Auswahl der Kriterien hat, wie in der ethnografischen Forschung nur möglich, einen erheblichen Teil mit meiner Rolle als Forscherin zu tun. Daher sind natürlich weitere Auffälligkeiten nicht auszuschließen, sondern nur durch meinen individuellen Blick hier erst einmal unberücksichtigt.

Der Klassenraum verfügt über unterschiedliche Handlungsräume, diese können beispielsweise visueller, akustischer und haptischer Natur sein (vgl. Breidenstein 2006, S. 43ff.) und durch sie verorten sich Kinder an unterschiedlichen Stellen des Raumes. Diese sind zum Teil freiwillig gewählt oder auch durch die Rituale des Unterrichts vorgegeben. Der Sitzkreis verfügt beispielsweise über einen visuell offenen und haptisch engen Raum. Bei akustisch ruhigen Räumen handelt es sich um bestimmte Gruppentische, die dieses Kriterium bieten. Sitznachbarschaften verfügen über die meisten Interaktionsmöglichkeiten, beispielsweise einem visuell, akustisch oder haptisch angeregtem Raum. Der Rolle der Materialität bietet ebenfalls eine große Bedeutung bei der Wahl des Ortes im Raum. Wobei einiges Mobiliar umplatziert werden kann. Dadurch kann ein eigener konstruierter Ort geschaffen werden, der den momentanen Bedürfnissen entspricht. Dies geschieht zum Beispiel beim Zusammenstellen von einem „besonderen“ Stuhl zum gewünschten Tisch oder bei der Wahl des Teppichs als Arbeitsplatz. Insbesondere lässt sich beim blauen Schreibtischstuhl eine große Handlungsdichte feststellen, da er über einen gewissen Komfort verfügt. Während der Raum und die Materialität Auskunft über die Verortung geben, lassen sich aus freundschaftlichen und geschlechterspezifischen Aspekten grundlegende Informationen für die Anordnung der Kinder ableiten. Direkte Nachbarn bzw. das unmittelbare Umfeld sind auffällig stark durch die Anordnung nach Freundschaften geordnet. Zudem lässt sich die geschlechterhomogene Anordnung der Schüler vor allem im Sitzkreis nicht übersehen. Hierzu sind auch Überschneidungen mit den Ergebnissen zur Sitzordnung bei Willems (vgl. 2007, S. 2f.) zu finden, die ebenfalls eine strikte Geschlechtertrennung identifiziert, die ebenfalls durch die Körperhaltung abgegrenzt sichtbar wird. In diesem Fall ist es nicht die Körperhaltung, sondern die Einteilung in Sitzbänke, die als Trennung gesehen werden kann. Diese Anordnung ist natürlich nicht zuletzt auch durch freundschaftliche Aspekte bedingt, da diese in der Regel ebenfalls gleichgeschlechtlich sind. Die Klasse ist durch ihre eigenen Logiken sowie gesellschaftliche Strukturen geprägt, die ebenfalls eine starke räumliche Komponente aufweist, wie zuvor gezeigt. Die Akteure der Klasse konstruieren ihren Raum und handeln nach diesem, welches eine Beobachtbarkeit zur Folge hat. Auch bei Materialität, Orten und Anordnungen wird dieses Prinzip sichtbar. Das Handeln ist dabei durch gewisse repetitive Muster, die zur Folge haben, dass Schüler immer wieder nach gleichen oder ähnlichen Mustern handeln, über Gewohnheitsplätze und -anordnungen verfügen, bestimmt. Daher ist insbesondere eine genaue und befremdete Betrachtung notwendig, um die Ebene des Selbstverständlichen zu durchbrechen, was in der ethnografischen Forschung eine unerlässliche Bedingung darstellt. Nicht zuletzt sind Handlungen habituell geprägt, d. h. durch Zugehörigkeiten verschiedener Gruppen. Dies erklärt vor allem, warum z.B. manches Mobiliar, Sitzkreisanordnungen oder bestimmte soziale Interaktionen für einige Kinder interessant waren und für andere wiederum nicht.

Insbesondere ist es von Bedeutung, dass die Ethnografie immer mehr die Kindheit als eigenes Forschungsfeld erkennt und die Perspektiven von kindlichen Akteuren mehr Einklang in die Schul- und Unterrichtsforschung finden (vgl. Lange & Wiesemann 2012, S. 264). Der Klassenraum sollte für oder auch von Kindern passend auf ihre Lebenswelt und Bedürfnisse gestaltet werden. Daher ist es wichtig, solche selbstverständlich scheinenden Bereiche weiter in der Forschung zu vertiefen sowie auch als Lehrperson einen befremdeten Blick für das eigene Umfeld zu gewinnen, um dadurch professionell handeln zu können.

Literaturverzeichnis

Amann, K. & Hirschauer, S. (1997). Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In S. Hirschauer & K. Amann (Hg.), Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnografischen Herausforderung soziologischer Empirie (S. 7-52). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Breidenstein, G. (2006). Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob (Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 24). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Breidenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H. & Nieswand, B. (2015). Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung (2. Aufl.). Konstanz/München: UKV Vertragsgesellschaft mbH.

Lange, J. & Wiesemann, J. (2012). Ethnografie (2. Aufl.). In F. Heinzel (Hg.), Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive (S. 262-277). Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Löw, M. (2001). Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Löw, M. (2007). Zwischen Handeln und Struktur. Grundlage einer Soziologie des Raums. In F. Kessl & H.-U. Otto (Hg.), Territorialisierung des Sozialen. Regieren über soziale Nahräume (S. 81-100). Opladen/Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich.

Lüders, C. (2012). Beobachten im Feld und Ethnografie. In U. Flick, E. von Kardorff & I. Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S. 384-401). Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Willems, K. (2007). Fach und Geschlecht – Sitzordnung Klasse A – Geschlechtertrennung. Abgerufen von http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/backup/wpcontent/plugins.old/lbg_chameleon_videoplayer/lbg_vp2/videos//willems_sitza_ofas.pdf, 16.12.2013.

[1]   In dieser Arbeit wird im Folgenden, aus Gründen der Übersichtlichkeit, nicht zwischen dem weiblichen und männlichen Geschlecht unterschieden. Selbstverständlich inkludiert die männliche Form in dieser Arbeit auch die weibliche.

[2] Im Folgenden werde ich die Begriffe „Gruppentisch“ und „Zweiertisch“ bzw. „Doppeltische“ verwenden. Letzteres beschreibt einen länglichen Tisch, an den zwei Stühle gestellt werden können. Ein Gruppentisch ist die Zusammenstellung dieser Zweiertische.