Wie „machen“ Kinder und Lehrkräfte den Unterrichtsanfang während der Corona-Pandemie? (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Inhalt

  • Einleitung
  • Dichte Beschreibung und analytische Dimensionierung
    • Die Situation
    • Dichte Beschreibung eines Unterrichtsbeginns einer ersten Schulstunde
    • Analytische Dimensionierung: Die Perspektive der „Kinder Akteur*innen“
  • Fazit
  • Literaturverzeichnis

Einleitung

„Sich mit dem schulischen Alltag aus der Perspektive von Kindern zu beschäftigen, bedeutet, den sozialen Prozessen in der Schulklasse eine größere Bedeutung bei zu messen“ (Heinzel, 2012, S.179). In dieser Arbeit soll anhand einer ethnographischen Analyse eines Unterrichtsbeginns einer ersten Stunde während des Wechselunterrichts in der Coronapandemie die Perspektive des Kindes als Akteur*in der Situation und dessen Interaktion innerhalb seiner Peergroup sowie mit der Lehrkraft genauer betrachtet werden. Es handelt sich um eine alltägliche Übergangssituation, die aktuell stark durch geltende Coronaschutzmaßnahmen geprägt ist. Obwohl es in der Forschung umstritten ist, ob es einem als Erwachsenen gelingt die Perspektive der Kinder überhaupt angemessen zu rekonstruieren (vgl. ebd. S.180, angelehnt an Honig, 1999; Hülst 2000), soll es in dieser Arbeit versucht werden.

Heinzel stellt heraus, dass die Aufmerksamkeit der Kinder im „Spannungsverhältnis zwischen der kommunikativ-generalisierten Unterrichtsordnung und der durch viele verschiedenen Dimensionen anders gekennzeichneten Peerkultur“ steht (Heinzel, 2012, S.178). Wagner-Willi bedient sich zur Beschreibung der Perspektiven einer Theatermetaphorik, der Vorder- und Hinterbühne (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.58ff.). Das Klassenzimmer kann hiernach als Vorderbühne dienen, wenn die Lehrkraft im Raum ist und die Unterrichtsordnung im Vordergrund steht, gleichzeitig kann im Klassenzimmer eine Hinterbühne entstehen, wenn die Lehrkraft abwesend ist oder peerkulturelle Rituale entstehen (vgl. ebd.).

Dem Beginn des Unterrichts geht meist ein rituelles Signal als Auslöser für einen „Szenenwechsel“ voraus (Wagner-Willi, 2001, S.60), denn Unterricht beginnt nicht direkt nach Eintreten der formalen Kriterien, dem Beginn der Unterrichtszeit oder dem Eintritt in den Klassenraum, sondern muss zudem durch soziale Interaktionen handlungspraktisch hergestellt werden (vgl. Wolf, 2020, S.9; Wagner-Willi, 2018, S.59). Diese Übergangsphase vom Ankommen in der Schule hin zur Herstellung der Unterrichtsbereitschaft nennt Wagner- Willi nach Victor Turner „Schwellenphase“ (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.120). In dieser Schwellenphase treffen die peerkulturell geprägten Handlungen und Normen der Schüler*innen auf der Hinterbühne auf die schulischen Unterrichtsanforderungen der Vorderbühne, und es entsteht ein „Durcheinander“, in dem weder die Regeln der Peergroup noch die des Unterrichts vollständig gelten (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.59). In der Schwellenphase lassen sich Praktiken erkennen, die der Herstellung der Unterrichtsbereitschaft dienen. Von Seiten der Schüler*innen ist dies beispielsweise das Einnehmen des eigenen Sitzplatzes (vgl. Rabenstein/Rehe, 2010, S.71). Eine Praktik der Lehrkräfte ist es, sich vor die Tafel zu stellen und den Blick auf die Schüler*innen zu richten (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.60; Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.144ff.). Häufig dienen Rituale oder ritualisierte Handlungen als Unterstützung um die unterrichtliche Ordnung herzustellen. Hierrunter versteht man wiederkehrende, interaktive Handlungsmuster, die die unterrichtliche Ordnung hervorbringen und festigen (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2010, S.120).

Dichte Beschreibung und analytische Dimensionierung

Die Situation

Die Beobachtung findet in einer jahrgangsübergreifenden Schuleingangsklasse statt, in der Kinder der ersten und zweiten Jahrgangsstufe gemeinsam unterrichtet werden. Aktuell findet Wechselunterricht statt, weshalb die Klasse gemäß der Jahrgangsstufen in zwei Lerngruppen geteilt ist. Die Lerngruppen werden tageweise abwechselnd in der Schule oder Zuhause unterrichtet. Zum Zeitpunkt der Beobachtung beginnt der Schultag der Erstklässler*innen in ihrem Klassenraum, der am Vortag von den Zweitklässler*innen der Klasse genutzt wurde. Zum Beobachten sitze ich hinten rechts in der Ecke des Klassenraumes an dem freien Tisch eines Zweitklässlers. Die Tür und das Waschbecken sind vorne in der rechten Ecke, die Fensterfront ist an der linken Seite des Raumes. Vorne befindet sich die Haupttafel und hinten gibt es eine weitere Tafel, an der der Tagesplan hängt. Die Tische stehen nach vorne ausgerichtet in Reihen, sowie je eine Reihe entlang der linken und rechten Wand. Es sitzen Erst- und Zweitklässler*in abwechselnd, so dass immer ein Platz zwischen den Kindern einer Lerngruppe frei bleibt. Die Klassentür ist geöffnet und alle Fenster sind gekippt. Obwohl gelüftet wird, ist es so warm im Klassenraum, dass ich keine Jacke benötige. Alle Personen tragen aufgrund der Coronaschutzregeln eine Maske. Die dichte Beschreibung der Beobachtung betrachtet die Handhygiene beim Eintritt in den Klassenraum und die ersten Minuten bis zum Beginn der Tagesplanvorstellung.

Dichte Beschreibung eines Unterrichtsbeginns einer ersten Schulstunde

  • Zuerst betritt die Lehrkraft den Raum, nimmt den Desinfektionsmittelspender von einem kleinen Tisch nahe der Tür und dreht sich zu den Kindern. Diese stehen in einer Zweierreihe auf dem Gang vor der Tür. Die ersten beiden Kinder bleiben im Türrahmen stehen und strecken ihre Hände zu einer Schüssel geformt nach vorne. Die Lehrkraft gibt jedem Kind einen Pumpstoß Desinfektionsmittel auf die entgegengestreckten Hände. Ein Großteil der Kinder geht händereibend und untereinander unterhaltend oder stillschweigend weiter zu den eigenen Plätzen. Manche Kinder wischen ihre Hände nur kurz aneinander oder schütteln sie nachdem sie an der Lehrkraft vorbei gegangen sind, statt das Desinfektionsmittel länger zu verreiben. Janosch und Ben1 biegen, als sie in der Tür stehen, zum Waschbecken neben der Tür ab. Anstatt zu desinfizieren, waschen sie nacheinander ihre Hände und gehen auch zu ihren Plätzen, während sie sich miteinander unterhalten. Die Klasse wirkt entspannt und es werden keine Fragen zum Ablauf an die Lehrkraft gerichtet. Jedes Kind nimmt zuerst seinen Stuhl vom Tisch und stellt seinen Ranzen neben oder hinter den eigenen Stuhl. Ein paar Kinder ziehen ihre Jacken aus und hängen sie über ihren oder den benachbarten leeren Stuhl. Drei lassen sie auf den Boden neben den Ranzen fallen. Viele Kinder stellen die Stühle der Sitznachbarn herunter, die heute im Distanzunterricht sind. Es herrscht ein allgemeines Gemurmel in der Klasse. Ich kann die einzelnen Gespräche nicht verstehen. Nachdem alle Kinder eingetreten sind schließt die Lehrkraft die Klassenzimmertür, geht vor die Tafel und sagt mit schweifendem Blick durch die Klasse: „So, dann zieht mal bitte alle eure Jacken aus“. Die meisten Kinder sitzen auf ihren Stühlen. Ein paar stehen neben oder vor ihren Stühlen und lehnen sich auf den Tisch. Ein Kind setzt sich schnell auf den eigenen Platz, als die Lehrkraft beginnt zu sprechen. Fast alle verbleibenden Kinder in einer Jacke, ziehen diese jetzt aus. Die Gespräche der Kinder untereinander werden weniger. Janosch, der in der ersten Reihe zwischen seinem Tisch und Stuhl steht, ruft mit Blick auf die Tafel: „Warum sind da so Zahlenhäuser?“ und zeigt auf die bunten Zahlenhäuser an der Tafel. Die Lehrkraft antwortet, dass diese die Zweitklässler*innen gestern gemacht hätten, die hätten nämlich auch Zahlenhäuser. Die meisten Kinder unterhalten sich nun nicht mehr, sondern schauen ruhig zur Lehrkraft. Die Lehrkraft blickt durch die Klasse und sagt „Ich wünsche euch einen guten Morgen!“. Alle Kinder schauen nach vorn, stellen ihre Gespräche ein und antworten leicht versetzt gemeinsam: „Guten Morgen alle zusammen“. Anschließend geht die Lehrkraft auf die andere Seite der Klasse, an welcher der Tagesplan hängt. Die Blicke der meisten Kinder folgen ihr. Olaf und Lisa reden kurz leise miteinander und schauen sich dabei gegenseitig an. Die Lehrkraft schaut auf die laminierten Karten des Tagesplans und anschließend in die Klasse. Das Gespräch der Kinder endet. Die Lehrkraft fragt: „Wer kann uns denn sagen, welcher Tag heute ist?“ Fünf Kinder melden sich.

Analytische Dimensionierung: Die Perspektive der „Kinder Akteur*innen“

In der folgenden Analyse soll der Blick auf das Handeln und die möglichen Motive der Akteur*innen in der Situation mit dem Schwerpunkt auf die Kinder als Akteur*innen gerichtet werden. Die Verwendung und Rolle, der Tür, des Sitzplatzes, der Stühle und Jacken, als Requisiten auf der Bühne des Klassenzimmers werden genauer betrachtet und mit den Erkenntnissen von Göhlich und Wagner-Willi verglichen (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.128ff.). Allgemein steht der Szenenwechsel von der Hinter- zur Vorderbühne im Zentrum der Analyse.

Die beschriebene Situation befindet sich in der Schwellenphase zwischen dem Treffen der Schüler*innen auf dem Schulhof und dem Beginn des Unterrichts. Die Beobachtung beginnt mit dem Eintritt der Lehrkraft in den Klassenraum. Die Lehrkraft betritt zuerst den Klassenraum und macht ihn damit zur Vorderbühne, mit dem Ziel die unterrichtliche Ordnung herzustellen (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.58). Hierbei wird die „Tür als Schwelle und Grenze“(Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.128) zwischen dem Gang und dem Klassenraum zu einem „rituellen Signal“ (Wagner-Willi, 2018, S.60), welches einen „Szenenwechsel“ (ebd.) ankündigt. Die Schüler*innen reagieren darauf, indem sie erste Praktiken zum Wechsel auf die von der Lehrkraft eröffneten Vorderbühne zur Herstellung der Unterrichtsbereitschaft durchführen, ohne dass die Lehrkraft diese explizit mündlich einfordert. Die Lehrkraft beginnt das Eintrittsritual der Schüler*innen, indem sie den Desinfektionsmittelspender in die Hand nimmt und sich mit diesem den Schüler*innen in der Tür zuwendet und verteilt. Hier findet die erste aktive Interaktion zwischen den Schüler*innen und der Lehrkraft statt. Die Situation an der Tür unterscheidet sich von den Beobachtungen von Göhlich und Wagner-Wille, denn die Türschwelle als Grenze wird durch die zum Coronaschutz vorgeschriebene Handhygiene und vorgegebene Abtrennung jeder Lerngruppe in der Schule wesentlich deutlicher markiert und eine Zutrittsvoraussetzung in Form der Handdesinfektion oder -wäsche geschaffen (vgl. Zeile 1-12 und Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.128ff.). Der Ablauf der Handhygiene wirkt wie ein Ritual, ist jedoch auf eine vom Bundesland vorgeschriebenen Regel zurückzuführen, demnach ist die Definition als Ritual umstritten (vgl. Rabenstein/Rehe, 2010, S.72). Das Durchschreiten der Tür löst seitens der Schüler*innen eine Abfolge von Handlungen aus.

Die meisten Kinder zeigen ein schulaffirmatives Verhalten, indem sie ihre Hände waschen oder das Desinfektionsmittel gründlich verreiben (vgl. Zeile 4-7) und anschließend ihre Unterrichtsbereitschaft herstellen, indem sie ihren „Arbeitsplatz“ an ihrem zugeteilten markierten Sitzplatz vorbereiten. Sie nehmen die Stühle von den Tischen herunter, um diese nutzen zu können, stellen ihren Ranzen in der Reichweite von ihrem Stuhl ab, ziehen ihre Jacken aus und hängen sie an ihren rituellen Platz. Dies ist der eigene Stuhl oder der freie des*der abwesenden Sitznachbar*in (vgl. Zeile 13-18; vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.156f., S. 161f. S.173f.). Mit diesem Verhalten zeigen die Schüler*innen, dass sie sich länger im Klassenraum aufhalten werden und signalisieren mit ihrem Arbeitsplatz und ihrer Kleidung eine hergestellte Unterrichtsbereitschaft (vgl. ebd. S.173f.). Janosch und Ben nutzen zudem ihre Partizipationsmöglichkeit, die ihnen die Lehrkraft auf der Vorderbühne gewährt, indem sie sich für das Händewaschen entscheiden und weichen dadurch gemeinsam als Peer von dem Verhalten der Klasse ab (vgl. Zeile 9-11).

In Zeile 7-9 wird eine bestehende Hinterbühne außerhalb des Sichtfeldes der Lehrkraft sichtbar, auf der manche Schüler*innen bewusst die geforderte Handhygiene unzureichend ausführen, indem sie das Desinfektionsmittel nicht ausreichend verreiben oder sogar abschütteln. Ob es sich um ein peerkulturelles Verhalten (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.61) handelt, lässt sich nicht nachvollziehen, denn bestehende Blickkontakte zu Peers oder die genaue Zugehörigkeit einer Peergroup wurde nicht ausreichend beobachtet.

Die Gespräche zwischen den Schüler*innen, welches auch als Gemurmel beschrieben wird, zeigt den Charakter der Schwellenphase, denn „das Ordnungssystem Unterricht hat noch keine Oberhand“ (Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S. 196). Gleichzeitig lässt sich aber „das Aktivitätssystem der Peergroup […] nicht ungebrochen fortsetzen“ (ebd.). Es entsteht das in der Einleitung beschriebene „Durcheinander“ (Wagner-Willi, 2018, S.59) während des Wechsels zwischen der Vorder- und Hinterbühne. Die Schüler*innen setzen ihre Gespräche mit ihren Peers von der Hinterbühne fort, während sie gleichzeitig ihre Bereitschaft für das Handeln auf der Vorderbühne vorbereiten. Die Trennung zwischen der Vorder- und Hinterbühne im Klassenraum wirkt unklar (vgl. Zeile 1-18).

Die Lehrkraft scheint ein zweites „rituelle[s] Signal“ (Wagner-Willi, 2018, S.60) zu setzen, indem sie die Tür schließt und ihre Position und Aufmerksamkeit von der Tür, vor die Tafel verlagert, den Schüler*innen zugewandt. Die Vorderbühne dehnt sich vom Türbereich auf den Klassenraum aus (vgl. Zeile 19-24). Die Schüler*innen reagieren auf die Ansprache und Aufmerksamkeit der Lehrkraft, indem sie die Gespräche mit ihren Peers teilweise einstellen und ihre von der Lehrkraft zugeschriebenen Sitzplätze einnehmen (vgl. Zeile 22f). Der Tafelbereich wird zur „Bühne institutioneller Autorität“ (Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.152) der Lehrkraft. Die Anweisung der Lehrkraft die Jacken auszuziehen zeigt, wie sie versucht die unterrichtliche Ordnung weiter herzustellen. Die Reaktion der Schüler*innen betont gleichzeitig ihre Weisungsbefugnis gegenüber der Schüler*innen. Das Anbehalten der Jacken von einzelnen Schüler*innen und erst verzögerte Ausziehen nach der Aufforderung durch die Lehrkraft deuten Göhlich und Wagner-Willi als „unterrichtsoppositionelles Ritual“ (ebd. S.176.), welches der Verzögerung des Unterrichtsbeginns dienen soll (vgl. Zeile 23f; und ebd.).

Janoschs Frage (vgl. Zeile 26) kann ebenfalls als Unterrichtsverzögerung gedeutet werden, zeigt aber auch, wie er seine Aufmerksamkeit von seiner Peergroup auf den Unterrichtsbeginn richtet, dabei aber noch nicht alle unterrichtlichen Normen der Vorderbühne erfüllt. Er richtet seine Frage an die Lehrkraft, die im Unterricht die erste Ansprechperson für Nachfragen ist, hält sich dabei allerdings nicht an die Regel sich zuvor zu melden. Die Lehrkraft beachtet diesen Regelverstoß nicht, sondern antwortet. Dies zeigt, dass für sie die Schwellenphase wahrscheinlich auch nicht als abgeschlossen gilt und somit noch nicht alle Regeln eingefordert werden. Janoschs Frage nach den Zahlenhäusern kann aus der„Unterrichtsperspektive“ (Heinzel, 2012, S.179) einerseits seine Neugierde auf den bevorstehenden Unterrichtsinhalt zeigen, andererseits aus der „Peerperspektive“ (ebd.) ein Interesse an den unterrichtlichen Aktivitäten der Schüler*innen seiner Peergroup aus der anderen Lerngruppe darstellen.

Die Begrüßung der Lehrkraft ist durch „Ich wünsche euch […]“ (Zeile 30) direkt an die Schüler*innengruppe gerichtet, kann jedoch universell für jede Gruppe vertrauter Personen verwendet werden. Die weitestgehend parallele Antwort der Schüler*innen hat eine doppelte Wirkung. „Guten Morgen alle zusammen“ (Zeile 32) antwortet sowohl der Lehrkraft und begrüßt gleichzeitig auch alle anderen Klassenmitglieder. Diese ritualisierte Formulierung der Begrüßung kann von der Lehrkraft der Herstellung der Unterrichtsgemeinschaft dienen (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S. 120), denn die Schüler*innen haben vermutlich ihre Peers in den Privatgesprächen zuvor begrüßt. Erst nach dem gemeinsamen Begrüßungsritual (vgl. Zeilen 30-32) scheint die Schwellenphase und das „Ordnungssystem Unterricht“ (Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.196) von den Schüler*innen akzeptiert zu sein, denn alle Schüler*innen richten ihre Aufmerksamkeit auf die Lehrkraft, reden nicht mehr mit ihren Peers, antworten gemeinsam auf ihre Begrüßung und folgen ruhig ihrem Gang durch die Klasse zu dem Tagesplan.

Während die Lehrkraft die Klasse durchquert, wechseln Olaf und Lisa nochmal kurz auf die Hinterbühne und folgen aus der Peerperspektive dem Drang sich nochmal außerunterrichtlich auszutauschen (vgl. Zeile 34-36 und Heinzel, 2012, S.179). Für Olaf und Lisa scheint die Schwellenphase nach der Begrüßung noch nicht abgeschlossen zu sein. Vermutlich reagieren sie darauf, dass die Lehrkraft die unterrichtliche Bühne vor der Tafel wechselt und währenddessen den Gang zwischen den Tischen nutzt, der nicht klar der Funktion des Unterrichtens zugeordnet ist (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.144ff.). Olaf und Lisa kehren auf die Vorderbühne zurück, nachdem die Lehrkraft wieder vor einer Tafel steht und das Ritual der Tagesvorstellung weiterführt (vgl. Zeile 36).

Fazit

In der Analyse wird das in der Einleitung beschriebene „Durcheinander“ (Wagner-Willi, 2018, S.59) in der Schwellenphase deutlich, denn die Handlungen der Akteur*innen beziehen sich teilweise gleichzeitig sowohl auf die Vorder- als auch auf die Hinterbühne. Göhlich und Wagner-Willi beschreiben die Schwellenphase als „durch Strukturschwäche charakterisiert“ (Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.196). Jedoch werden in der Analyse einige Rituale und ritualisierte Signale identifiziert, die die Frage aufwerfen, ob die Schwellenphase nicht einer eigenen Struktur zwischen der Vorder- und Hinterbühne unterliegt, nach dessen festen Normen die Schüler*innen und die Lehrkraft sich richten. Um dieser Vermutung nachzugehen sind jedoch weitere ethnographische Beobachtungen notwendig.

Das Verhalten der Schüler*innen und der Lehrkraft zu Unterrichtsbeginn ist stark von den zum Beobachtungszeitpunkt geltenden Coronaschutzmaßnahmen vorgegeben. Diesbezüglich wäre es interessant einen Vergleich ohne diese Maßnahmen mit der gesamten Klasse zu haben.

In der Analyse wird die Annahme bestätigt, dass der Unterrichtsbeginn erst handlungspraktisch erzeugt werden muss (vgl. Wolf, 2020, S.9). Außerdem wird anhand der Interpretation der Kinder als Akteur*innen sichtbar, dass dieser Beginn von den Schüler*innen zu unterschiedlichen Zeitpunkten innerhalb der Schwellenphase praktiziert wird. Die Schwellenphase wird abschließend von allen als beendet wahrgenommen, als die Lehrkraft nach den Tag fragt und somit den Unterricht dieser Stunde beginnt.

Rückblickend auf die gesamte Arbeit bleibt die Frage offen, die auch Forscher kritisieren, ob es mir als Erwachsenem hier gelingen kann die Perspektive der Kinder überhaupt angemessen zu rekonstruieren (vgl. Heinzel, 2012, S.180, angelehnt an Honig, 1999; Hülst 2000). Die Deutung des unterrichtsverzögernden Verhaltens einiger Kinder durch das Anbehalten der Jacken unterstellt den Schüler*innen ein absichtliches Verhalten (vgl. 2.3.). Dieses fällt mir jedoch nur auf, wenn ich zuerst aus einer Erwachsenenperspektive die Situation als problematisch identifiziere und dann nach möglichen Absichten der Kinder suche und ihnen diese dann begründet aus einer „Kinderperspektive“ unterstelle. Außer Betracht gelassen wird hierbei beispielsweise, dass es viele weitere Ursachen für das Verhalten geben kann, wie z.B. die Möglichkeit, dass der*die Erstklässler*in unbeabsichtigt vergessen hat die Jacke auszuziehen, oder es ihm*ihr kalt war. An diesem kurzen Beispiel wird deutlich, dass in der Analyse die Gefahr besteht Absichten zu pauschalisieren, die man aus einzelnen Beobachtungen schließt ohne die Möglichkeit zu haben, sie überprüfen zu können. Zusätzlich erschwert wird es dadurch, dass man als Erwachsener die Perspektive der Kinder auf den Unterricht nur hypothetisch einnehmen kann, dabei aber sehr wahrscheinlich zusätzlich die eigene Perspektive als Erwachsener mit einfließen lässt. Bereits mit der Beschreibung der Beobachtung ist die Situation einmal von mir als Erwachsenem interpretiert worden. Dieses Dilemma ist allerdings der verwendeten Methode geschuldet und könnte mittels einer Video- oder Tonaufnahme etwas abgeschwächt werden. Die Aufnahmen würden jedoch neue Verfälschungen zu Beginn der Beobachtung erzeugen (vgl. Schelle, 2018, S. 86).

Literaturverzeichnis

  • Göhlich, M.; Wagner-Willi, M. (2001): Rituelle Übergänge im Schulalltag – Zwischen Peergroup und Unterrichtsgemeinschaft. In Wulf, C. (Hrsg.): Das Soziale als Ritual – Zur performativen Bildung von Gemeinschaften (S. 118 -204). Opladen: Leske + Budrich.
  • Heinzel, F. (2012): Der Blick auf Kinder. In H. de Boer & S. Reh (Hrsg.): Beobachtungen in der Schule – Beobachten lernen (S. 173-188). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Rabenstein, K.; Rehe, S. (2010): Unterricht als Interaktion: Unterrichtsanfänge und das Setting der Institution und die Ordnung des Unterrichts. In Schelle, C.; Rabenstein, K.; Rehe, S.: Unterricht als Interaktion – Ein Fallbuch für die Lehrerbildung (S.71-98). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
  • Schelle, C. (2018): Unterricht anfangen. In M. Proske & K. Rabenstein (Hrsg.): Kompendium Qualitative Unterrichtsforschung: Unterricht beobachten – beschreiben – rekonstruieren (S. 85-102). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
  • Wagner-Willi, M. (2018): Rituelle Praktiken auf den schulischen Vorder- und Hinterbühnen. In J. Brühlmann & D. Conversano (Hrsg.): Rituale an Schulen: wirksam und unterschätzt (S. 58-63). Zürich: LCH.
  • Wolf, E. (2020): Unterrichtsbeginn – Zur Entzauberung des Anfangs. In: falltiefen – Beiträge aus der kasuistischen Lehrerbildung am Institut für Erziehungswissenschaft, 06/2020, (S. 7- 15). Hannover: Institut für Erziehungswissenschaft der Leibniz Universität Hannover.

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