Soziale Ordnung im Chaos – Wie wählen Kinder ihren Sitzplatz in offenen Lernsettings? (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Inhalt

Einleitung

Die Formulierung „Soziale Ordnung im Chaos“ soll überspitzt die Situation der freien Sitzplatzauswahl im Klassenraum beschreiben. Sie ist geprägt durch eine unordentlich scheinende Atmosphäre und eine kurze Phase mit einer hohen Dichte an Handlungen. Folgende Erfahrungen stammen aus meinem Praxissemester an einer jahrgangsgemischten Grundschule in Siegen, die angelehnt an das Maria Montessori Konzept arbeitet. Die Auswahl eines Sitzplatzes wird im beobachteten Fall von den Schülern[1] im Sitzkreis, der für den Unterrichtseinstieg und -abschluss rituell erfolgt und an den Arbeitsplätzen, die für die Arbeitsphasen genutzt werden können, selbstbestimmt gewählt. Die von den Schülern eingenommene Sitzordnung basiert daher auf Eigenständigkeit in Bezug auf die Auswahl sowie zeitliche Nutzung und nicht, wie in den meisten Schulen durch die Lehrperson bedingte frontale und festgelegte Form (vgl. Breidenstein 2006, S. 61). Das offene Schulkonzept und ebenfalls die freie Sitzplatzwahl waren für mich neue Phänomene, welche daher mein Interesse geweckt haben und folgende ethnografische Beobachtungen entstanden sind.

Bestandteile eines Raumes wie z.B. Sitzplätze können nicht ohne den Klassenraum an sich analysiert werden. Daher folgt zunächst eine Beschreibung des Begriffs Raum. Löw (2007, S. 96) beschreibt „Räume als relational (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“. Damit ist zum einen eine gesellschaftlich bedingte Ordnung und zum anderen eine Anordnung im Sinne von Platzierungen gemeint. Beide Aspekte werden im Folgenden kurz näher erläutert. Gesellschaftliche Ordnungen werden in Handlungen von Individuen bemerkbar, sind aber ebenfalls Folge dieser. Räumliche Strukturen bilden in Kombination mit anderen zum Beispiel zeitlichen oder politischen Aspekten gesellschaftliche Strukturen. Demzufolge werden räumliche Strukturen im Handeln geschaffen und sichtbar. Jene bestimmte räumliche Struktur wird wiederum in der Konstitution von Räumen abgebildet, in Institutionen eingelagert und steuert Handeln. Menschliches Handeln lässt sich als repetitiv beschreiben, das heißt, dass der Alltag nach entwickelten Gewohnheiten gestaltet wird. Dies hat zur Folge, dass sie sich ohne langes Nachdenken im Alltag bewegen können und ebenfalls nicht darüber austauschen müssen (vgl. ebd.). Des Weiteren sind „Räume […], da sie im Handeln entstehen und auf Konstruktionsleistungen basieren, stehts sozial. Materiell sind platzierte Objekte, welche zu Räumen verknüpft werden.“ (ebd., S. 97) Der Aspekt der Materialität kann ebenso nicht ohne gesellschaftliche Strukturen gesehen werden. Menschen verfügen über die Fähigkeit sich selbst zu platzieren und diese Verortung wieder zu verlassen. Darüber hinaus können sie ihre Raumkonstitutionen mittels körperlicher Merkmale beeinflussen. Inwiefern Räume relevant für Menschen sind, ist durch ihren Habitus, d.h. durch Gruppenzugehörigkeiten, bedingt und nicht rein individuell noch homogen (vgl. Löw 2007, S. 97f.). Auch im Bereich der Sitzordnung sind solche beschriebenen gesellschaftliche Strukturen und Platzierungen insbesondere in diesem Fall durch eine freie Platzwahl erkennbar. Willms (2007, S. 1) beschreibt die Sitzordnung als „Ort im Raum und die Verortung im sozialen Arrangement der Klasse. Beide regulieren die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Lehrkörper und […] Schülern sowie zwischen den […] Schülern.“ Sitzplätze können somit als Ort verstanden werden, die nicht der Raum selbst sind, aber zu seinen Bestandteilen gehören (vgl. Breidenstein 2006, S. 43). So beschreibt Breidenstein in Bezugnahme auf Löw, dass jeder einzelne Sitzplatz einen Ort darstellt, der die Konstitution von Raum abbildet, generiert und den Raum als solchen erst denkbar macht (vgl. ebd., S. 62f.; Löw 2001, S. 198). Zudem gibt die soziale Verortung Aufschlüsse über Interaktionen zueinander und somit generierte Informationen über die Eigenlogik sollen in dieser Arbeit beschrieben und analysiert werden. Breidenstein (vgl. 2006, S. 43ff.) geht ebenfalls in seiner ethnografischen Studie auf die Thematik der Klassenräume ein und zeigt verschiedene Erkenntnisse zu visuellen, akustischen und haptischen Räumen und wie sich diese im Klassenverbund zeigen. Im Unterschied zu seiner Forschung zeigt diese Arbeit ein offenes, statt frontales Lernsetting und fokussiert stärker die Sitzplatzwahl der Kinder. Im Allgemeinen lässt sich die Analyse der räumlichen Dimension von Unterricht als jünger Forschungszweig beschreiben, die die sozialwissenschaftliche Forschung vor Herausforderungen stellt (vgl. ebd., S. 61).

 

Ethnografie als methodische Vorgehensweise

Die Ethnografie gilt als historisch gewachsene Erkenntnisstrategie. Ihre Ursprünge gehen auf die Erkundung fremder Kulturen im Zuge der Kolonialisierung sowie auf die Erforschung von Großstädten in Folge von Einwanderungswellen der Chicago School zurück (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 13ff.). „Zunehmend entsteht das Interesse gesellschaftliche Phänomene der Normalität und Mehrheitskultur, Interesse an normaler sozialer Ordnung und Praxis in der eigenen Gesellschaft zu erforschen.“ (Lange & Wiesemann 2012, S. 263). Gemeinsam ist diesen Traditionslinien der Erkenntnisstil des Entdeckens (vgl. Breidenstein et al. 2015, S.13). Dabei wird Vertrautes als Fremd betrachtet und methodisch befremdet (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 12).

Die Ethnografie arbeitet mit einem starken Empiriebegriff, d.h. es wird davon ausgegangen, dass Wissen über die Gesellschaft den Sozialwissenschaften nicht schon immer und in Gänze vertraut, verstanden und verfügbar ist (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 7) und dass es somit kulturelle Phänomene noch zu entdecken gilt (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 13). Demgegenüber verfügt die Ethnografie über einen weichen Methodenbegriff, dessen Entscheidungsgewalt vom Feld aus bedingt ist und nie der Forschung willen (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 9, 19). Primär für eine ethnografische Forschung ist die Teilnehmende Beobachtung (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 7).

Dabei besteht die Besonderheit, dass der Forscher eine Art „parasitäres“ (Amann & Hirschauer 1997, S. 27) Verhalten zum Feld zeigt. Durch eine längerfristige Kopräsenz des Beobachters kann hier empirisches Wissen sozusagen aus erster Hand über einen konkreten Fall generiert werden. Diese Beobachtung in Form der Teilnahme legt die Grundannahme der Ethnografie, dass jedes Feld über eine individuelle Sozio-Logik bzw. kulturelle Ordentlichkeit verfügt sowie sich kontinuierlich selbst methodisch generiert und strukturiert, zugrunde (vgl. ebd., S. 19ff.). „Kulturelle Felder verfügen über eine Eigenlogik, […] die auch einen Beobachter, der sich treiben lässt, an die Hand nimmt und führt.“ (Breidenstein et al. 2015, S. 38).

Eine Kopräsenz des Beobachters ist immer durch eine Spannung zwischen Teilnahme und Distanzierung bestimmt (vgl. ebd., S. 7). Auf der einen Seite versucht der Ethnograf durch Teilnahme eine solche Feldlogik zu verstehen, auf der anderen Seite muss er auch sein strategisches Privatspiel im Blick behalten um empirisches Wissen zu schaffen (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 27). Eine Handlungspraxis als solche zu erkennen, kann nur erfolgen, wenn die Beobachterrolle frei von Handlungszwängen ist (vgl. ebd., S. 24). Dies zeigt auch der Unterschied zu den Akteuren im Feld, deren Lebenswelt durch die Lösung handlungspraktischer Anforderungen bestimmt ist (vgl. Lüders 2012, S. 390). Ein befremdeter Beobachter kann daher lokales Wissen explizieren, welches Teilnehmern reflexiv nicht zur Verfügung steht (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 24). Der Ethnograf muss sich der Situation befremden um Phänomene klarer erkennen zu können (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 8). Der Prozess der Befremdung bzw. des immer wieder neuen Wunderns, besitzt somit fortlaufenden Charakter (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 29).

Um die Logik dieses spezifischen Falls in Bezug auf die Platzwahl herauszuarbeiten, erfolgt neben einem längeren Aufenthalt durch das Praktikum eine explizite Phase der Beobachtung. Infolge der Erstellung von „Fieldnotes“ wird so eine erste Versprachlichung von sozialen Phänomenen (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 35) vorgenommen sowie die Möglichkeit einer erneuten Fokussierung und Befremdung durch die Erstellung Dichter Beschreibungen. Diese sollen zum Weiterleben der Erfahrungen anregen (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 30) und werden als Basis zur Analyse genutzt.

Die Ethnografie eignet sich für die Erschließung der Platzwahl, da ein selbstverständlich scheinendes Phänomen vorliegt, welches auf ein Wissen anspielt, das Akteuren nur bedingt reflexiv verfügbar ist. Daher ist eine ausschließlich auf Interviews angelegte Forschungsmethode in diesem Fall nicht sinnvoll, um die Eigenlogik der Gruppe zu erschließen. Wie beispielsweise Aushandlungen von Plätzen erfolgen, ist durch einen großes inkorperiertes Wissen, d.h. Mimik und Gestik geprägt. Dieses kann somit durch Beobachtungen erschlossen werden.

Reflexion

Im Folgenden setze ich ein verschärftes Augenmerk auf meine Rolle als Forscherin und die daraus resultierenden Reaktionen des Feldes. Solch eine Reflexion an dieser Stelle hat eine wichtige Bedeutung für die Dichte Beschreibung sowie die Analyse, da ein wichtiges Kennzeichen der Ethnografie nicht nur die Beobachtung des Feldes, sondern auch die Selbstbeobachtung ist.

 Rolle als Forscherin

Die Rolle als ethnografische Forscherin ist geprägt durch eine extensive Teilhabe am Geschehen, jedoch auch durch einen bewussten Rückzug am Handlungsverlauf. So musste auch ich eine klare Grenze zwischen meinen Rollen ziehen, zum einen als agierende Person in der Rolle einer Praktikantin, die auch durch einige Verantwortung und Eigeninitiative geprägt war und zum anderen als ethnografische Forscherin. Der Alltag dieser beiden Rollen ist von Grund auf verschieden, aber bietet auch positive Synergieeffekte. Durch den längeren Praktikumszeitraum kann ein Grundvertrauen aufgebaut werden, welches für die Forschung positive Auswirkungen hat. Für meine Forschungsanfänge musste ich mir Nischen suchen, die mich von einem Handlungsdruck entlasten, z.B. geht das gleichzeitige Kontrollieren von Hausaufgaben und der Teilnehmenden Beobachtung auf die Qualität der Dokumentation. Solche Nischen und das Interesse an der Platzwahl führten zu meiner jetzigen Fragestellung. Dass Kinder sich in der Schule Plätze aussuchen dürfen, war für mich eine ganz neue Beobachtungsgrundlage, die mich auch an meine eigene Auswahl eines Platzes erinnerte. Ich selbst hatte im Rahmen des Praktikums im Klassenraum ebenfalls keinen festen Platz und war dadurch von der Eigenlogik des Feldes nicht befreit, sondern agierte in irgendeinem Modus mit. Als mir dies bewusst wurde, empfand ich die Wahl eines Platzes tatsächlich als „kurios“ und war gefangen in einer Art Unverständnis. Eine lange Zeit empfand ich diese Planlosigkeit als konstant, als würde diese nie weggehen, aber dann fielen immer mehr Erkenntnisse, von denen ich im Folgenden berichte. Im Rahmen der Teilnehmenden Beobachtung habe ich mich der Methodenfreiheit bedient. Erstmals habe ich auf Beobachtung gesetzt, dem Dokumentieren von Atmosphäre und Anzeichen von Erkenntnissen oder Regelmäßigkeiten. Dabei musste ich mich aktiv von der Dominanz des Wortes frei machen, um nicht wie ein Diktiergerät stimmungslos Aussagen der Akteure niederzuschreiben. Im weiteren Verlauf habe ich informelle Gespräche genutzt sowie versucht durch meine Platzwahl Reaktionen der Eigenlogik des Feldes zu erzwingen, um weiteres Wissen zu generieren.

 Reaktion des Feldes

Die Reaktion des Feldes ist nicht zuletzt durch meine Rolle geprägt. Durch meinen ersten frühen Unterrichtsbesuch und die Bereitschaft mir ein großes Maß an Eigeninitiative zu überschreiben, habe ich schon einen frühen Zugang zur Rolle als „Lehrerin“ gewonnen, die sich meiner Meinung nach zu der der Praktikantin in vorhandenen Studienpraktika unterscheidet. Die Rolle als Forscherin entwickelte sich langsamer sowie auch mein Interesse an dem Phänomen der Platzauswahl. Dass ich mich für etwas „Neues“ in den Augen der Akteure, vor allem der Schüler, interessiere, ist immer mehr in Erscheinung getreten. Gerade im anfänglichen Forschungsprozess habe ich die Reaktion des Feldes erfahren und gerade mein Zurückziehen wurde von den Kindern kritisch hinterfragt. Beispielsweise, warum ich heute keine Hausaufgaben korrigiere und was ich in meinen Notizblock schreibe, schien viele Kinder zu interessieren. Demzufolge habe ich erklärt, was und warum ich dies tue sowie mich mit den Fragen der Kinder beschäftigt. Dieses Interesse habe ich letztendlich zu meinem Vorteil genutzt und Gespräche in meine Forschung integriert. Die Kinder haben gefallen daran gefunden mir ihre Sicht der Lebenswelt näher zu bringen, haben mir meine Fragen beantwortet und kamen zu mir, wenn ihnen etwas Neues rund um das Thema Sitzplätze eingefallen ist. Ein Mädchen wollte unbedingt ihre Aussagen des Gespräches in meinen Block schreiben und half mir mit Erklärungen. Das lässt mich vermuten und durch meine späteren Beobachtungen auch stützen, dass das Thema Platzwahl eine gewisse Dichte auch bei den Kindern enthält, da es auch ihre lebensweltlichen Handlungsprobleme beschreibt. Nachdem die meisten Kinder sich intensiv mit meinem Erkenntnisinteresse beschäftigt haben, ist die Aufmerksamkeit auf meine Beobachtungen abgeflacht.

Beschreibung der Lernkultur

Die folgenden ethnographischen Ergebnisse wurden im Rahmen des Praxissemesters gesammelt und stammen aus einer mittelgroßen Grundschule in der Stadt Siegen. Die Lernkultur lässt sich als offen beschreiben, da die Klassen jahrgangsgemischt von der ersten bis vierten Klasse unterrichtet werden. Das Unterrichtskonzept ist an Maria Montessori angelehnt. Insgesamt befinden sich acht Klassen in der Schule, wobei immer zwei stärker miteinander kooperieren. Dies kann man zum einen an dem räumlichen Aufbau erkennen, da diese Klassen oft mit einer Verbindungstür zusammen liegen. Zum anderen finden einmal die Woche in heterogenen Gruppen Einführungsunterricht in den Fächer Deutsch, Mathematik und Sachunterricht mit der Nebenklasse zusammen statt. Dominierende Unterrichtsform ist die Freiarbeit, die durch einen Wochenplan strukturiert wird. In dieser sollen die Schüler selbstständig Aufgaben wählen, zum Teil sind diese bereits auf dem Wochenplan festgehalten und zum anderen Teil dürfen die Kinder sich auch an weiteren Aufgaben bedienen. Das Material für die Freiarbeit ist für die Kinder zugänglich in Regalen positioniert und ebenfalls an dem Maria Montessori Konzept angelehnt. Die Kinder sollen in der Freiarbeit möglichst Deutsch- und Mathematikaufgaben zu gleichen Teilen erledigen, dies wird durch ein akustisches Signal unterstützt. Der Beginn und Abschluss einer Unterrichtsstunde oder -sequenz wird mit einem gemeinsamen Sitzkreis strukturiert. Der Klassenraum ist nicht typisch gestaltet, sondern enthält mehrere Gruppentische im Klassenraum sowie einen Sitzkreis. Die Tafel und der Lehrerhochtisch sind nicht so zentral gelegen, wie oft in Schulklassen. Die Schüler dürfen während des kompletten Unterrichtstages ihren Sitzplatz frei wählen und ebenfalls, ob sie die ausgesuchte Aufgabe eigenständig oder mit einem Partner erledigen. Außerdem wird oft geschaut, dass Verbindungen zwischen den fachlichen Inhalten der Fächer sowie Niveaustufen geschaffen werden. In den Klassen herrscht eine Vielfalt von Kindern mit unterschiedlicher Herkunft sowie Kindern mit verschiedenen Förderbereichen. Auch kooperiert die Schule mit verschiedenen außerschulischen Institutionen, wie zum Beispiel einem Kinder- und Jugendtreff. Des Weiteren bietet die Schule vielerlei AG´s und eine Betreuung an.

Dichte Beschreibung

Es ist Montag 7:55 Uhr und die meisten Schüler befinden sich bereits im Klassenraum. Die Hausaufgabenkontrolle neigt sich langsam dem Ende zu.

Es herrscht eine chaotische Stimmung, viele Kinder reden miteinander und die Lehrerin hört man ab und zu im Hintergrund reden. Sie sitzt noch an einem aus mehreren Tischen zusammengestellten „Gruppentisch“[2] und bespricht mit einem Jungen seine Hausaufgaben. Währenddessen sind bereits viele fertig mit der Hausaufgabenkontrolle, räumen ihre Sachen wieder in die Schultaschen, die alle nebeneinander an einer Wand und einem Regal nah der Klassentür zum Flur hängen und stehen. Die Schülerin Julia hat ihre Sachen bereits weggeräumt und geht schnellen Schrittes auf den Sitzkreis zu. Dieser ist aus vier Holzbrettern auf Getränkekisten zusammengebaut und steht in der hinteren Ecke des Raumes. Julia setzt sich auf die letzte Bank aus ihrer Richtung, die sich mit dem Rücken zum Whiteboard richtet. Sie setzt sich mit dem Rücken etwas gebeugt auf die Bank und stützt sich mit einem Arm ab. Dann klopft sie mit der flachen Hand auf die Bank und ruft: „Aylin, hier, setz dich hier hin.“ Aylin steht noch an ihrer Schultasche, dreht sich um und schaut zu Julia. Dreht sich wieder zu ihrer Schultasche um, faltet ihre Hefte schneller als zuvor und legt diese in die Schultasche. Sie macht ihre Schultasche zu und läuft zu dem Platz neben Julia. Zwei weitere Schüler, David und Simon setzten sich auf eine andere Bank und raufen sich, indem sie die Hände fest an die Arme des anderen drücken und mit ihrem Körpergewicht nach links und rechts schwenken. Dilan und Fynn setzen sich ebenfalls auf die gleiche Bank, jedoch mit etwas Abstand und direkt an das anliegende Regal. Dort liegen viele verschiedene Sachen, die für den Sitzkreis, das Whiteboard oder für den CD-Player im Unterricht gebraucht werden. Dilan sitzt direkt dort neben und wählt sich eines der darauf liegenden Kuscheltiere mit fokussiertem Blick und bewegenden Mundwinkeln aus. Dieses hält er nach erneutem Sitzen in den Händen und dreht es immer wieder mit seinen Fingern hin und her. Auch Fynn steht jetzt auf, stellt sich kurz vor das Regal und nimmt sich eines der noch übrigen Kuscheltiere. Er setzt sich wieder auf die Bank und wirft seines immer ein kleines bisschen in die Luft und fängt es auf, dabei folgt sein Blick dem Kuscheltier. In dieser Zeit sind bereits einige Kinder langsamen Schrittes eingetrudelt und haben Plätze im Sitzkreis eingenommen. Alle vier Bänke sind bereits gut gefüllt. Der Platz zentral vor dem Whiteboard ist jedoch bis jetzt konstant frei geblieben. Auch die Lehrerin kommt nun in den Sitzkreis und setzt sich ohne Zögern direkt auf diesen frei gebliebenen Platz. Noch drei weitere Kinder, diese müssten die Letzten sein, stehen nun am „Eingang“ des Sitzkreises, d.h. zwischen den beiden Bänken, durch die man gewöhnlich geht, um einen Platz im Sitzkreis zu wählen. Die drei stehen in einer Art Schlange hintereinander. Theo ist vorne, dreht seinen Kopf immer wieder und scheint zu überlegen, dabei verzeiht er seinen Mund zur Seite. Die anderen beiden Abdul und Leonardo sind dagegen noch mit einer Unterhaltung beschäftigt und zappeln mit den Beinen und Armen herum, zudem lachen sie. Abdul steht dabei in der Schlange mit Blick zu Leonardo, d.h. nicht Richtung Sitzkreis. Die Lehrerin schaut Theo an, zeigt mit ausgestreckter Hand auf einen der Plätze an der Fensterseite und nickt schräg zur Seite. Sie schaut auf den Platz und sagt: „Tarik rutsch etwas, damit der Theo da noch zwischen passt.“. Dabei wischt sie mit ihrem ausgestreckten Arm zur Seite. Tarik wirkt nicht begeistert und verzieht sein Gesicht, legt seine Beine enger zusammen und rutscht zu Fynn rüber. Theo setzt sich in die Lücke. Tarik legt seine Hände aneinander auf den Schoß und zieht seine Schultern zu sich. Während die Lehrerin bereits Plätze für die anderen sucht, ruft Tarik in die Klasse und sagt: „Hier ist viel zu wenig Platz, ich bin total gequetscht“. In diesem Moment sagt die Lehrerin mit ernster Stimme zu Abdul, der sich einen Stuhl zum Sitzkreis geschoben hat, dass er sich bitte, wie alle anderen auch in den Sitzkreis setzten soll. Abdul steht von seinem Stuhl auf, bleibt kurz stehen und schnauft vor sich hin. Dann nimmt er den Stuhl und schiebt diesen über den Boden wieder zu dem Tisch zurück und setzt sich direkt an den Sitzkreiseingang mit seinem halben Gewicht auf die Bank. Die Integrationskraft und ich setzen uns mit Stuhlen etwas hinter den Sitzkreis, sodass wir jedoch noch einen guten Blick dorthin haben und nicht zu außerhalb sitzen. Die Integrationskraft setzt sich mit ihrem Stuhl nah zu Ilyas, tippt ihn an. Als er sie anschaut, flüstert sie: „Rutsch mal ein bisschen, dass der Abdul sich noch richtig auf die Bank setzen kann.“ Währenddessen hat die Lehrerin mit organisatorischen Dingen zum heutigen Schultag angefangen. Die Lautstärke sinkt und die Atmosphäre wirkt auf mich ruhiger. Auf der Bank neben der Lehrerin, sowie auf der rechten sitzen die Mädchen der Klasse, bis auf Elif, die sich auf die Bank gegenüberliegend zur Lehrerin gesetzt hat. Neben ihr auf der Bank zur rechten und linken sitzen Jungen sowie ebenfalls auf der links danebenliegenden Bank.

Nach dem Sitzkreis findet die Freiarbeit statt. Dazu wird eine Box mit Lernplanern auf den Tisch in Mitten des Sitzkreises gelegt. Die Lehrerin nennt die Bänke mit den Kindern, die aufstehen dürfen. Die Kinder gehen zu ihren Schubladen, nehmen sich ihr Arbeitsmaterial, welches sie für ihre ausgesuchte Freiarbeitsaufgabe brauchen und wählen nun einen Sitzplatz für die Arbeitsphase.

Das Aufstehen von den Plätzen zu den Schubladen, in denen das Arbeitsmaterial liegt wirkt auf mich langsam, ruhig und etwas träge. Die Stimmung verändert sich jedoch als erste Kinder ihre Arbeitssachen in der Hand haben. Nun geht es schnell, aber doch überlegt zu. Devin stürmt als erster zu einem blauen Scheibtischstuhl, der an einem der Lernplätze steht und als einziger im Raum über diese Ausstattung verfügt. Setzt sich drauf, wippt mit der Lehne nach hinter und lehnt sich mit Rücken und Kopf nach hinten, als würde er kurz eine Auszeit nehmen. Dann steht er jedoch wieder flink auf, wirkt als würde er lächeln und setzt sich auf einen anderen Platz. Dazu tauscht er zwei Stühle, die an einem Zweiertisch stehen, sodass auf der rechten Seite, wo er seine Schulmaterialien abgelegt hat, ein Stuhl mit Polsterung ist.

Einige Zeit später kommt Leonie zu dem blauen Stuhl, legt ihre Sachen auf den Tisch davor ab und setzt sich hin. Emir kommt mit schweifendem und genervtem Blick und sagt zu Leonie, dass er dort sitzen wollte. Leonie steht auf, hält jedoch eine Hand fest am Stuhl und zuckt mit dem Schultern. Es scheint, als würde Emir noch versuchen wollen sie umzustimmen, aber seine Aussichtslosigkeit bereits schon ahnt. Er schmeißt seine Sachen mit einem Ruck auf den Tisch gegenüber, stampft seine Arme überkreuzt vor seine Brust und geht schleppend einmal um den Tisch herum zu seinem Platz und lässt sich dort auf seinen Stuhl fallen. Leonie hält sich mit einem Arm an dem Stuhl mit dem anderen auf dem Tisch fest und hoppst mit einem Sprung wieder zurück auf den Stuhl. Emir, der nun gegenüber sitzt schaut sie immer noch mit heruntergezogenen Mundwinkeln an und Leonie sitzt in gerader Haltung auf dem ergatterten Stuhl und schlägt ihr Arbeitsmaterial entschieden auf.

Kurz danach kommt Devin zum Stuhl gerast und tippt Leonie an. Sie dreht sich zu ihm um und er sagt: „Heute darf doch keiner auf den Stuhl.“ [In einem Klassenrat wurde verabredet, dass der blaue Schreibtischstuhl an manchen Tagen für die Integrationskraft bestimmt ist.] Dabei klingt er sehr direkt. Leonie scheint direkt zu wissen, was los ist, denn sie schnauft etwas und verzeiht ihr Gesicht. Dann schiebt sie ihre Sachen zusammen und hopst vom Stuhl runter und setzt sich zum nächstgelegenen Gruppentisch. Devin nimmt nachdem Leonie aufgestanden ist den Stuhl in die Hand und schiebt diesen Mitten in den Raum, weg von jeglichem Tisch. Er scheint mich entdeckt zu haben, denn er kommt schnellen Schrittes zu mir und sagt mit ernster Stimme: „Du musst den Stuhl freihalten.“

Nach circa einer Minute kommt Tarik zum Stuhl und will diesen an seinen alten Platz schieben. Devin, der sich einen Platz mit Blick auf das Stuhlgeschehen gesucht hat, steht blitzschnell auf und hält mit seiner Hand den Stuhl fest. Tarik dreht sich mit einem „Hä“ um und guckt ihn entgeistert an. Devin sagt mit leicht genervter Stimme: „Der Stuhl muss doch frei blieben.“ Tarik antwortet mit „Oh man!“, schüttelt den Kopf und geht gemütlich zu einem anderen Gruppentisch, wo er seine Sachen mit einem kleinen Ruck fallen lässt. Als die Integrationskraft zu dem Vierertisch geht und den Stuhl zum Tisch zieht, steht auch Devin auf und erklärt der Integrationskraft, dass er diesen Stuhl extra für sie freigehalten hat. Er wirkt dabei stolz und die Integrationskraft bedankt sich dafür.

Theo nimmt sich einen Wackelhocker, der an einem Vierertisch steht und läuft mit diesem an seinen Arbeitsplatz, der nicht als Gruppentisch, sondern Reihe konzipiert ist. Er verlässt diesen jedoch nach kurzer Zeit und trägt seinen Hocker mit durch die Klasse, um etwas aus seinem Schulranzen zu holen. Danach kehrt er mit Hocker wieder zu seinem Arbeitsplatz zurück.

Langsam befinden sich alle der Schüler an Plätzen. Alle vier Gruppentische sind besetzt, zum größten Teil sitzen Jungen neben Jungen und Mädchen neben Mädchen an einem Doppeltisch. Lina und Emilia liegen mit ihren Heften aufgeschlagen auf einem Teppich vor der Tafel. Ich verlasse langsam die Rolle der reinen Beobachterin und beginne mit Gesprächen. Ich frage den Vierertisch, an dem auch Devinl und Leonie sitzen, nach ihren Begründungen zur Platzwahl.

Elyas antwortet, dass das hier der einzig gute Vierertisch ist, da er gut gelegen ist, nah bei der Materialbeschaffung zur Stationenarbeit. Der andere Vierertisch sei zum Arbeiten viel zu laut. Seine Stationsnachbarin, Leonie bestätigt dies und ergänzt, dass die Kinder dort immer viel reden. Elyas ergänzt, dass er jedoch lieber an dem anderen Vierertisch direkt am Fenster gesessen hätte, weil man dort rausgucken kann. Aber die Integrationskraft wollte dort sitzen und die ist manchmal streng. Leonie ergänzt zusätzlich, dass sie böse guckt, aber bittet mich schmunzelnd das nicht in meine Notizen aufzunehmen. Die Kinder des Vierertisches fragen mich ebenfalls interessiert und schauen fokussiert auf meine Notizen, warum ich diese notiere. Ich erkläre ihnen, dass ich dies für die Uni mache und mich interessiert, an welchen Plätzen sie gerne sitzen. Ich frage Dilan, warum er diesen Platz gewählt hat. Er antwortet mir, dass er bei seinem Freund sitzen möchte und zeigt auf Devin. Leonie fragt mich, ob sie diese Beobachtung in meinen Collegeblock schreiben darf. Ich erlaube ihr dies und gebe ihr meinen Stift. Sie schaut mich noch einmal kurz an und fragt nach kurzer Wartezeit dann, ob sie doch lieber mit Bleistift schreiben darf, so kann sie noch radieren, wenn sie sich verschreibt. Dies bestätige ich ihr ebenfalls. Elyas erklärt, dass er hier sitzt, weil seine Freunde hier sitzen. Ich frage ihn, warum er auf dem Wackelhocker sitzt. Daraufhin antwortet er mir, dass er es mag, wenn er wackeln kann. Leonie ergänzt: „Schau mal, ich sitze auf so einem Kissen, dass wackelt auch. Darf ich das auch aufschreiben?“ Ich gebe ihr wieder den Collegeblock. Während sie schreibt, fragt sie mich, wie das Kissen denn heißt. Ich antworte ihr, dass ich es Sitzkissen nennen würde. Sie schreibt auf, dass sie es mag auf dem Sitzkissen zu sitzen, aber noch lieber auf dem blauen Schreibtischstuhl sitzt. Das Sitzkissen mag sie, da sie dann wackeln und tanzen kann und der blaue Schreibtischstuhl ist besonders kuschelig. Sie gibt mir den Block zurück und lächelt stolz.

 

Analytische Dimensionierung

Aus der vorliegenden Dichten Beschreibung sind mehrere Kriterien herauszufiltern, die eine besondere Bedeutung im vorliegenden Setting bei der Platzwahl haben. Folgende Punkte sind mir bei meiner Analyse besonders aufgefallen, was aber andere wichtige Punkte nicht ausschließt. Daher möchte ich in meiner Analytischen Dimensionierung insbesondere auf die Aspekte Raum, Materialität, Freundschaft und Geschlechter ein Augenmerk legen.

 Raum

Schulisches Lernen und soziales Miteinander findet zu einem großen Teil im Klassenraum statt. Daher ist die Beschaffenheit des Raumes zentral für die folgende Analyse. Wie wird der Raum genutzt, insbesondere in der Hinsicht auf die Platzwahl? Welcher Raum wird für sich selbst bzw. für andere beansprucht und wie wird dieser im schulischen Handeln konstituiert?

Insgesamt lässt sich der Klassenraum in verschiedene Handlungsräume unterteilen. Diese wären zum Beispiel der Sitzkreis, der etwas vom Unterrichtsgeschehen abgetrennt ist durch Tische, Regale und Sitzreihen. Der Sitzkreis bietet ein fest ritualisiertes Beisammensein, was in einer gemeinschaftlichen Form stattfindet und durch die quadratische Anordnung ein erhöhter visueller Raum ermöglicht wird. Dieser Raum ist besonders durch seine Nähe und Gemeinschaftlichkeit geprägt, während Sitzreihen und Gruppentische für die Einzel-, Partner- oder Kleingruppenarbeit vorgesehen sind. Der eigene beanspruchte haptische Raum ist im Sitzkreis ebenfalls kleiner und enger als an den Arbeitstischen. Zum Teil machten Kinder, wie in den Beschreibungen erkenntlich, Bemerkungen, dass ihnen dieser Raum zu eng ist und gerne weniger Körperkontakt hätten. Dies wird indirekt auch an der zur Hilfenahme eines Stuhls von Abdul sichtbar, der dadurch den Vorteil von mehr und gesicherterem Platz besitzt. Zwar wissen die Schüler, dass dies von der Lehrperson nicht gewollt ist, versuchen dies jedoch oft. Das Arbeiten an den Arbeitsplätzen scheint fest definiert zu sein. Jedes Kind nutzt in etwa die Hälfte eines Doppeltisches sowie einen Stuhl. Dies kann auch als festes Territorium zum Arbeiten im Regelfall beschrieben werden. Aber nicht nur „übliche Plätze“ können für das Arbeiten genutzt werden. Zwei Schülerinnen arbeiten beispielsweise oft auf dem Teppich zwischen Tafel und Lehrerhochtisch. Dieser Ort wurde von ihnen als spezifischer Handlungsort in Bezug auf schulisches Arbeiten konstituiert. Die Gruppentische im Klassenraum verfügen über verschiedene akustische Räume. Bei der Befragung nennen Kinder, dass sie lieber an dem leiseren Gruppentisch sitzen oder auch weitere Kriterien, wie ein Tisch mit Blick nach draußen. Auch Devin wählt einen Ort, an dem er das Geschehen des blauen Schreibtischstuhl genau mitverfolgen kann. Sichtbar wird, dass den Kindern unterschiedliche Kriterien in Bezug auf den Raum wichtig sind, diese können z.B. visueller, akustischer oder auch haptischer Natur sein.

 Materialität

Insbesondere die Materialität im Raum scheint zentral für die Platzwahl. Dies wird sowohl im Sitzkreis als auch an den Arbeitstischen deutlich. Zentrales Beispiel ist hier der blaue Schreibtischstuhl, der eine gewissen Komfort im Gegensatz zu den üblichen Stühlen hat. Schüler scheinen diesen Platz regelrecht zu genießen und sich durch Schnelligkeit erkämpfen zu müssen. Da er jedoch an bestimmten Tagen für die Integrationskraft reserviert ist, bleibt dieser Stuhl für längere Zeit frei. Daher ist gut sichtbar, wie beliebt dieser ist und auch, dass er anderen Mitschülern nicht „einfach so“ überlassen werden kann. Devin hat es sich im Prinzip zur Aufgabe gemacht, den Stuhl freizuhalten und ihn rechtmäßig der Integrationskraft zu übermitteln, dafür sucht er auch meine Hilfe, höchstwahrscheinlich in der Rolle der aufpassenden Praktikantin. So rückt er den Stuhl auch in die Mitte des Raumes, sozusagen als Zeichen der nicht Verfügbarkeit. Dadurch kann er Kinder darauf aufmerksam machen, dass dieser Platz heute nicht zur freien Verfügung steht, was jedoch nicht ganz funktioniert. Aber auch andere Stühle haben eine erhöhte Bequemlichkeit oder Attraktivität, sind aber bei den meisten Schülern in einer Skala mit weniger Wert bemessen als der blaue Schreibtischstuhl. Beispielsweise bietet der Klassenraum auch Stühle mit Polsterung, die scheinbar für Devin eine Alternative bieten. Des Weiteren gibt es Hocker, die geeignet sind zum „Wackeln“ und „Tanzen“. Diese sind scheinbar ebenfalls favorisiert, da diese zum Teil mitgeschleppt werden, um Gegenstände aus den persönlichen Ablagefächern zu holen. Dies bietet ein Indiz dafür, dass Stühle auch mal gerne von Tischen getauscht werden. Die Stühle sind daher alle in ihren Plätzen genauso wie die Schüler platzierbar mit Ausnahme des blauen Stuhls, dieser darf nur an einem vorgegebenen Platz genutzt werden und ist dadurch mit klasseninternen Strukturen belegt. Aber auch der Sitzkreis hat Plätze, die zu einem kleinen Schrank Zugriff haben. In diesem befinden sich beispielsweise Kuscheltiere, die zum Spielen genutzt werden können (Als ich mich einmal an den Platz gesetzt habe, wurde ich gefragt, ob ich den Platz tauschen kann.) und ebenfalls eine bestimmte Beschäftigung insbesondere vor dem Unterrichtsbeginn bieten. Zum Teil sind es jedoch immer ähnliche Schülergruppen, die sich für einen solchen Komfort interessieren bzw. ein höheres Interesse aufbringen, was sie veranlasst schnell und mit mehr Aufwand an solche Plätze zu gelangen. Andere Kinder scheinen bestimmte Dinge nicht zu interessieren. Beispielsweise nutzen Lina und Emilia den Teppich als Arbeitsgelegenheit, aber nicht den blauen Schreibtischstuhl. Dies ist ebenfalls ein Indiz für unterschiedliche Habitusgruppen und damit verbundenen verschiedenen Interessen. Ebenfalls entscheidet die Lehrerin oder gemeinsam erschlossene Regeln, dass bestimmtes Mobiliar oder Dinge zu manchen Zeiten nicht gestattet sind. Beispielswiese durch den Klassenratsbeschluss, der der Integrationskraft Tage für den blauen Stuhl reserviert hat oder, dass mit den Kuscheltieren nicht während der Unterrichtszeit gespielt werden darf. Allgemein zeigt insbesondere die Materialität des Raumes, die diesem zu einem solchen konstituiert, eine hohe Dichte an Interaktionen. Materialität scheint einen großen Einfluss auf die Wahl des Platzes zu haben sowie auf die Interessen der Schüler.

 Freundschaft

Jedoch auch die Interaktionen zueinander sind ausschlaggebend für die Wahl des Platzes. Die Sitznachbarn der Kinder deuten darauf hin, dass Freundschaften ebenfalls eine Bedeutung spielen. Sowohl der Sitzkreis als auch die Arbeitsplätze sind von immer gleichen Konstellationen geprägt. Durch ein häufiges Beisammensein und das Spielen in der Pause bewerte ich diese Beziehung als Freundschaft. Insbesondere im Sitzkreis zeigt sich die Besonderheit, dass Kinder sich gegenseitig Sitzplätze freihalten. Dies tun einige durch Rufen oder Klopfen auf der Bank. Dadurch wird der Person und ihrem Umfeld symbolisiert, dass dieser bestimmte Platz reserviert bleiben soll. Ebenfalls deutlich wird, dass diejenigen die auf der Bank sitzen eine Art Vorrecht darüber haben, wer neben ihnen sitzen soll, sie können sozusagen auf die Platzwahl anderer Einfluss nehmen. Meistens, insbesondere vor Unterrichtsbeginn, dient der Sitznachbar der Unterhaltung. Darunter sind nicht nur übliche Konversationen zu verstehen, sondern auch das Spielen mit Kuscheltieren oder ein Raufen auf der Bank. Diese Tendenz bildet sich auch bei den Freiarbeitsplätzen ab. Die Tische sind im Prinzip bereits gemeinschaftlich konzipiert, so können in der Regel immer mindestens zwei Schüler an einem Tisch sitzen. Diese Konstellationen werden ebenfalls aufgrund von freundschaftlichen Komponenten gewählt und dadurch ähnlich wie im Sitzkreis. Dies erleichtert für die Kinder ebenfalls die Partnerarbeit, die sie am liebsten mit ihren Freunden machen. Auch in dem Gespräch mit Elyas wird deutlich, dass er den Platz gewählt hat, da er neben seinem Freund Devin sitzen möchte. An den Arbeitsplätzen befinden sich an den Gruppentischen zum Teil auch Peergroups, das heißt, dass bis zu vier Kindern ähnlichen Alters an einem Gruppentisch sitzen. Dies geschieht jedoch eher bei den Viertklässlern. Die Erstklässler befinden sich oft in einer zweier Konstellation, wahrscheinlich da sie sich in diesem kleineren Rahmen geschützter Fühlen und durch ihren kürzeren Aufenthalt im Klassenverbund noch über weniger soziale Kontakte verfügen. Insbesondere bei der Anordnung der Schüler sind direkte Nachbarn von Bedeutung, diese werden oft in der gleichen oder zumindest ähnlichen Konstellation gewählt. Dies kann mit dem repetitiven Verhalten von Menschen erklärt werden, da sie nicht immer wieder neu entschieden, da Freundschaftsmerkmale nicht immer wieder neu überprüft und miteinander kommuniziert werden.

 Geschlechterordnung

Auch geschlechterspezifische Merkmale prägen die Sitzplatzwahl. Dies ist besonders im Sitzkreis ersichtlich, durch den im Prinzip eine Diagonale zwischen Jungen und Mädchen gezogen werden könnte. Die Mädchen der Klasse besetzen mit einer Ausnahme die Bank hinter dem Whiteboard, welche auch einen Platz für die Lehrerin enthält sowie die rechte Bank. Die Jungen beanspruchen die linke und der Lehrerin gegenüberliegende Bank. Elif sitzt in meiner Beobachtung gegenüber von der Lehrerin zwischen den Jungen, in anderen Beobachtungen sitzt sie jedoch auch bei ihren Freundinnen neben der Lehrerin, wobei nicht in direkter Nachbarschaft. Das liegt womöglich an ihren unterschiedlichen Freundesgruppen. Zum Teil spielt sie in der Pause mit den Jungen Fußball, wohingegen sie auch oft mit ihren Freundinnen im oder zwischen dem Unterricht Zeit verbringen. Die Reihenfolge der Personen wird zum Teil getauscht, doch der Wechsel der Bank bzw. einer Gruppe ist in meinen Beobachtungen bis auf diese Ausnahme nicht ersichtlich. Im Prinzip besitzen sie eine „Stammbank“ und eine Platzspanne von maximal drei bis vier Plätzen. Auch ist der Schrank, der zum Spielen mit Kuscheltieren und Anlehnen genutzt wird, zwischen Jungen und Mädchen aufgeteilt, beide haben Zugang zu diesem. Diesen Platz besetzen jedoch unterschiedliche Personen. Die Arbeitsplätze sind ebenfalls geschlechterhomogen gestaltet, wobei diese Homogenität des Öfteren durch zum Beispiel der Losung von Partnern beim Stationenlernen aufgebrochen wird. So ist in dieser Beobachtung ein Gruppentisch mit drei Jungen und einem Mädchen besetzt. Zum Teil werden auch Gruppentische mit der Hälfte an Jungen und Mädchen besetzt. Dass die Klasse sich oft geschlechterhomogen bei der Platzwahl anordnet, scheint im Klassenkontext eher als Normalität zu gelten und wird selten explizit benannt. Geschlechter scheinen in diesem Kontext ebenfalls zu einer Art interessengeleiteten Gruppe zu gehören, die eine bestimmte Auswahl von Sitzgelegenheiten präferiert. Dennoch befinden sich die Schüler in mehreren Gruppen, welches zum Beispiel die Wahl von Elif erklärt. Sie kann sich mit ihren weiblichen gleichaltrigen Mitschülern identifizieren sowie auch mit männlichen, da sie mit ihnen zum Beispiel das Hobby Fußball teilt. Eine geschlechterhomogene Anordnung ist jedoch auch durch Freundschaften geprägt, da diese in den meisten Fällen gleichgeschlechtlich sind.

Fazit

Zusammenfassend können hier einige Eigenlogiken des Feldes in Bezug auf die Platzwahl herauskristallisiert werden. Sowohl im Sitzkreis als auch an den Arbeitsplätzen spielen ähnliche Kriterien eine wichtige Rolle, die das Handeln der einzelnen Akteure steuern. Diese Auswahl der Kriterien hat, wie in der ethnografischen Forschung nur möglich, einen erheblichen Teil mit meiner Rolle als Forscherin zu tun. Daher sind natürlich weitere Auffälligkeiten nicht auszuschließen, sondern nur durch meinen individuellen Blick hier erst einmal unberücksichtigt.

Der Klassenraum verfügt über unterschiedliche Handlungsräume, diese können beispielsweise visueller, akustischer und haptischer Natur sein (vgl. Breidenstein 2006, S. 43ff.) und durch sie verorten sich Kinder an unterschiedlichen Stellen des Raumes. Diese sind zum Teil freiwillig gewählt oder auch durch die Rituale des Unterrichts vorgegeben. Der Sitzkreis verfügt beispielsweise über einen visuell offenen und haptisch engen Raum. Bei akustisch ruhigen Räumen handelt es sich um bestimmte Gruppentische, die dieses Kriterium bieten. Sitznachbarschaften verfügen über die meisten Interaktionsmöglichkeiten, beispielsweise einem visuell, akustisch oder haptisch angeregtem Raum. Der Rolle der Materialität bietet ebenfalls eine große Bedeutung bei der Wahl des Ortes im Raum. Wobei einiges Mobiliar umplatziert werden kann. Dadurch kann ein eigener konstruierter Ort geschaffen werden, der den momentanen Bedürfnissen entspricht. Dies geschieht zum Beispiel beim Zusammenstellen von einem „besonderen“ Stuhl zum gewünschten Tisch oder bei der Wahl des Teppichs als Arbeitsplatz. Insbesondere lässt sich beim blauen Schreibtischstuhl eine große Handlungsdichte feststellen, da er über einen gewissen Komfort verfügt. Während der Raum und die Materialität Auskunft über die Verortung geben, lassen sich aus freundschaftlichen und geschlechterspezifischen Aspekten grundlegende Informationen für die Anordnung der Kinder ableiten. Direkte Nachbarn bzw. das unmittelbare Umfeld sind auffällig stark durch die Anordnung nach Freundschaften geordnet. Zudem lässt sich die geschlechterhomogene Anordnung der Schüler vor allem im Sitzkreis nicht übersehen. Hierzu sind auch Überschneidungen mit den Ergebnissen zur Sitzordnung bei Willems (vgl. 2007, S. 2f.) zu finden, die ebenfalls eine strikte Geschlechtertrennung identifiziert, die ebenfalls durch die Körperhaltung abgegrenzt sichtbar wird. In diesem Fall ist es nicht die Körperhaltung, sondern die Einteilung in Sitzbänke, die als Trennung gesehen werden kann. Diese Anordnung ist natürlich nicht zuletzt auch durch freundschaftliche Aspekte bedingt, da diese in der Regel ebenfalls gleichgeschlechtlich sind. Die Klasse ist durch ihre eigenen Logiken sowie gesellschaftliche Strukturen geprägt, die ebenfalls eine starke räumliche Komponente aufweist, wie zuvor gezeigt. Die Akteure der Klasse konstruieren ihren Raum und handeln nach diesem, welches eine Beobachtbarkeit zur Folge hat. Auch bei Materialität, Orten und Anordnungen wird dieses Prinzip sichtbar. Das Handeln ist dabei durch gewisse repetitive Muster, die zur Folge haben, dass Schüler immer wieder nach gleichen oder ähnlichen Mustern handeln, über Gewohnheitsplätze und -anordnungen verfügen, bestimmt. Daher ist insbesondere eine genaue und befremdete Betrachtung notwendig, um die Ebene des Selbstverständlichen zu durchbrechen, was in der ethnografischen Forschung eine unerlässliche Bedingung darstellt. Nicht zuletzt sind Handlungen habituell geprägt, d. h. durch Zugehörigkeiten verschiedener Gruppen. Dies erklärt vor allem, warum z.B. manches Mobiliar, Sitzkreisanordnungen oder bestimmte soziale Interaktionen für einige Kinder interessant waren und für andere wiederum nicht.

Insbesondere ist es von Bedeutung, dass die Ethnografie immer mehr die Kindheit als eigenes Forschungsfeld erkennt und die Perspektiven von kindlichen Akteuren mehr Einklang in die Schul- und Unterrichtsforschung finden (vgl. Lange & Wiesemann 2012, S. 264). Der Klassenraum sollte für oder auch von Kindern passend auf ihre Lebenswelt und Bedürfnisse gestaltet werden. Daher ist es wichtig, solche selbstverständlich scheinenden Bereiche weiter in der Forschung zu vertiefen sowie auch als Lehrperson einen befremdeten Blick für das eigene Umfeld zu gewinnen, um dadurch professionell handeln zu können.

Literaturverzeichnis

Amann, K. & Hirschauer, S. (1997). Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In S. Hirschauer & K. Amann (Hg.), Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnografischen Herausforderung soziologischer Empirie (S. 7-52). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Breidenstein, G. (2006). Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob (Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 24). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Breidenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H. & Nieswand, B. (2015). Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung (2. Aufl.). Konstanz/München: UKV Vertragsgesellschaft mbH.

Lange, J. & Wiesemann, J. (2012). Ethnografie (2. Aufl.). In F. Heinzel (Hg.), Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive (S. 262-277). Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Löw, M. (2001). Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Löw, M. (2007). Zwischen Handeln und Struktur. Grundlage einer Soziologie des Raums. In F. Kessl & H.-U. Otto (Hg.), Territorialisierung des Sozialen. Regieren über soziale Nahräume (S. 81-100). Opladen/Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich.

Lüders, C. (2012). Beobachten im Feld und Ethnografie. In U. Flick, E. von Kardorff & I. Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S. 384-401). Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Willems, K. (2007). Fach und Geschlecht – Sitzordnung Klasse A – Geschlechtertrennung. Abgerufen von http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/backup/wpcontent/plugins.old/lbg_chameleon_videoplayer/lbg_vp2/videos//willems_sitza_ofas.pdf, 16.12.2013.

[1]   In dieser Arbeit wird im Folgenden, aus Gründen der Übersichtlichkeit, nicht zwischen dem weiblichen und männlichen Geschlecht unterschieden. Selbstverständlich inkludiert die männliche Form in dieser Arbeit auch die weibliche.

[2] Im Folgenden werde ich die Begriffe „Gruppentisch“ und „Zweiertisch“ bzw. „Doppeltische“ verwenden. Letzteres beschreibt einen länglichen Tisch, an den zwei Stühle gestellt werden können. Ein Gruppentisch ist die Zusammenstellung dieser Zweiertische.

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