Zur Rollenaddressierung von Studierenden im Praxissemester (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Inhalt

  1. Praxissemester und Unterrichtsanfang, rituelle Übergänge? – Fachliterarischer Bezug
  2. Mein methodisches Vorgehen
  3. Doppelrolle: Ethnograf und Praxissemesterstudent – Reflexion
  4. Beschreibung der Lernkultur der Klasse 3b
  5. Praxissemesterstudent in Klasse drei – Dichte Beschreibungen
  6. Fazit – Zusammenfassung
  7. Literatur

1.     Praxissemester – Fachliterarischer Bezug

Wagner-Willi (2018) versteht den Übergang von Pause zu ‚Unterricht‘/die Phase des Unterrichtanfangs als liminale Schwellenphase nach dem Ritual- und Sozialforscher Victor Turner.[1] Es ist ein komplexes, dynamisches Geschehen/ ein interaktiver Prozess verschiedener asymmetrischer Akteure mit unterschiedlichen Interessen, welcher vom Ausführen verschiedener Mikrorituale geprägt ist.[2] Während in Peer-Aktivitäten einiger die Pausendynamik weiterläuft, bereiten sich andere auf den folgenden Unterricht vor, um den Unterrichtsanfang mit zu konstituieren.[3] Die Pausendynamiken stehen im asymmetrischen Verhältnis zu den Aktivitäten der Lehrkraft.[4] Diese hat in der Phase das Ziel, den Übergang zum Unterricht schnell zu vollziehen und eine unterrichtliche Ordnung zu etablieren.[5] Da ‚Pause‘ und ‚Unterricht‘ unterschiedlichen institutionellen Regeln sowie ungeschriebenen Vorgaben unterliegen,[6] befinden sich die Beteiligten in einem rituellen Dazwischen, was sie als Schwellenwesen nach Turner definiert.[7]

Wie Wagner-Willi Turners Ritualtheorie nutzt, um die Schwellenphase des Unterrichtanfangs zu beschreiben, sieht Kling (2018) das Praxissemester von Lehramtsstudierenden als Paradebeispiel eines rituellen Übergangs nach dieser Theorie Turners.[8] So intendieren die Studierenden im Praxissemester einen Rollenwechsel vom Lernenden zum Lehrenden, bekleiden jedoch in der schulischen Hierarchie den Status von Auszubildenden.[9] Sie sind in einer ambivalenten Situation, einem undefinierten ‚Dazwischen‘, da sie weder SuS, noch vollwertig ausgebildete Lehrkräfte sind.[10] Dies führt zu Rollendifferenzen und Unsicherheit.[11] So führen einerseits das eigene ‚Unterrichten‘ und andererseits ihre Außenwahrnehmung zum positiven Erleben des Rollenwechsels vom Lernenden zum Lehrenden.[12] Die Außenwahrnehmung der Studierenden ist bestimmt vom Verhältnis zum Mentor/zur Mentorin, zum Kollegium und zur Schülerschaft, wovon letztere zum einen durch konformes Erfüllen von Aufträgen der Studierenden, zum anderen durch persönliches Feedback Einfluss auf ihre Rollenwahrnehmung besitzen.[13] So ist für Studierende diese liminale Phase nach Turner geprägt von Paradoxie und Mehrdeutigkeit, aber auch von ihrer eigenen Kreativität.[14]

Liminal entities are neither here nor there; they are betwixt and between the positions assigned and arrayed by law, custom, convention and ceremonial.”, Victor W. Turner.[15]

 

2.     Mein methodisches Vorgehen

Im Rahmen des Praxissemesters habe ich an der Schule ein Studienprojekt durchgeführt und dabei das Verfahren der ethnografischen Feldforschung angewandt. Historisch aus der Ethnologie hervorgegangen, wurden in der Ethnografie ab dem frühen 20. Jahrhundert fremde Völker und deren soziales Leben teilnehmend beobachtet und beschrieben.[16] Heute wird die Ethnografie zusätzlich genutzt, um die eigene Kultur zu befremden und soziale Mikroprozesse offenzulegen, diese zu verstehen.[17]

Die ethnografierende Person nimmt dafür an der sozialen Praxis der zu ethnografierenden Gemeinschaft teil, um Atmosphäre und Gefühle detailliert beobachten und beschreiben zu können. Sie nimmt zudem eine forschend-distanzierte Haltung ein, um die erlebten und beobachteten Prozesse befremden zu können.[18] Ein situationsbestimmendes Handeln (bspw. unterrichten) ist für eine detaillierte Beobachtung dabei eher hinderlich. Beobachtetes wird in Feldnotizen festgehalten und später zu „dichten Beschreibungen“ ausgearbeitet. Diese zeichnen sich durch ihren hohen Grad an Detaillierung („Beobachtung in Zeitlupe“[19]) und zugleich intensiver Nähe zum sozialen Geschehen aus („Versprachlichung des sozialen Geschehens“[20]).[21] Die dichten Beschreibungen werden in einer reflexiv-analytischen Forscherhaltung unter Distanzierung von subjektiver Vertrautheit durch bspw. offene Codierung analysiert, identifizieren relevanter Textstellen und Kontextualisierungen.[22] Dabei sind vorschnelle Schlüsse und Zuschreibungen zu vermeiden. Das Ergebnis kann das Entdecken von Skurrilitäten und Erkenntnissen in uns vermeintlich vertrauten sozialen Prozessen sein.

Die ehtnografische Feldforschung habe ich, wie oben beschrieben, im Feld einer Grundschule durchgeführt, um Mikroprozesse im alltäglichen Unterrichtsgeschehen der schulischen Akteure (vornehmlich SuS) zu untersuchen. Zunächst habe ich Unterrichtsanfänge am Morgen vor und in der Weihnachtszeit ethnografisch beobachtet und durch Feldnotizen festgehalten. Intendiert war ein Vergleich von Unterrichtsanfängen zur Weihnachtszeit und „normalen“ Unterrichtsanfängen. Nach dem Ausarbeiten der ersten Beobachtungen zu dichten Beschreibungen faszinierte mich eine Beobachtung so sehr („Hier ist ja nur Herr Bruch“), dass ich die Thematik dieser Arbeit auf den Umgang der Lernenden mit Praxissemesterstudierenden und die damit verbundenen Rollenzuschreibungen der kindlichen Akteure abänderte. Somit erfolgten der Themenwechsel und die Fokusänderung des ethnografischen Blicks auf die Beobachtungen erst nach Abschluss der Beobachtungen. Die beobachtete Schwellenphase von „Nicht-Unterricht“ zu Unterricht war der neuen Thematik nicht abträglich, da mir die schulischen Akteure außerhalb eines konkreten und bestimmenden unterrichtlichen Kontextes begegneten. Entsprechend der leitenden Fragestellung, „In welcher Rolle werden Praxissemesterstudierende von Lernenden adressiert?“, konnte ich weitere repräsentative Beobachtungen für die dichte Beschreibung auswählen. Die analytische Dimensionierung erfolgte in der dritten Person Singular, um meine Rollen „Praxissemesterstudent“ und „Ethnograf“ besser trennen und in dieser Befremdung reflektiert analysieren zu können.

 

3.     Doppelrolle: Ethnograf und Praxissemesterstudent – Reflexion

Zur Rolle eines Praxissemesterstudierenden gehören zwei primäre Ausprägungen, welche zusammen den Wissenszuwachs von Studierenden im Praxissemester garantieren sollen. Einerseits ist dies die Rolle der lehrenden Person im Halten eigens geplanten und durchgeführten Unterrichts, andererseits die Rolle der lernenden/der forschenden Person in der Durchführung eines Forschungsprojekts, bzw. Beobachtung des Unterrichts von Mentoren und Mentorinnen.

Zum Zeitpunkt meiner ethnografischen Beobachtungen habe ich bereits meine Unterrichtsbesuche absolviert und die Klasse diverse Male vertretungsweise, ohne Begleitung unterrichtet. Sie haben mich also nicht nur in der Rolle des Beobachters oder des Tandemlehrers erlebt, sondern auch in der Rolle des Lehrenden. Durch Ausfälle im Kollegium konnte ich die Rolle des Lehrenden häufig einnehmen, was mit der Zeit zur Akzeptanz dieser Rolle seitens der Schülerschaft geführt hat.[23]

In der Rolle des Ethnografen habe ich mich häufig auf einen festen Sitzplatz neben der Tafel in Front der Klasse zurückgezogen. So hatte ich alles im Blick und konnte die Emotionen der Lernenden erkennen. Dabei unterschied sich mein beobachtendes Rollenverhalten als Ethnograf nicht signifikant von meiner Rolle als lernender Praxissemesterstudent. In allen Stunden, welche meine Mentorin gehalten hat, saß ich zu Unterrichtsbeginn mit meinem Notizblock im Raum und habe mir gelegentlich etwas notiert, bis sie mich in der Arbeitsphase durch Betreuung einzelner Lernender oder in sachliche Erklärungen involviert hat. Somit konnten weder die Lernenden noch die Lehrerin feststellen, ob ich gerade als Unterricht beobachtender Praxissemesterstudent oder Ethnograf agiert habe. Sie waren mein beobachtendes Verhalten gewöhnt und agierten in den ethnografisch festgehaltenen Szenen authentisch.

 

4.     Beschreibung der Lernkultur der Klasse 3b

Mein Praxissemester habe ich an einer dörflichen Grundschule durchgeführt. Ich verbrachte die meiste Zeit in der Klasse 3b, der Klasse meiner Mentorin. Dort habe ich zudem die Beobachtungen durchgeführt. Die 17-köpfige Klasse bestand aus neun Mädchen und acht Jungen. Zwei Kinder haben Migrationshintergrund, ein Kind wiederholte die dritte Klasse. Es herrschte vergleichsweise hohe Homogenität. Die Lerngruppe arbeitete überaus ruhig und fleißig.

Hervorzuheben ist die Präsenz der Klassenlehrerin in der Klasse. Bei ihrer Anwesenheit herrschte hohe Unterrichtsbeteiligung bei überdurchschnittlicher Ruhe. Bei mir oder anderen Lehrenden war die Klasse lebhafter und lauter. Die Präsenz der Klassenlehrerin zeichnete viele Kontrollhandlungen, aber auch privat anmutende, lustige (Unterrichts-) Gespräche aus. Darum waren frontale Unterrichtssituationen und -gespräche im Sitzkreis z.B. zu Unterrichtsbeginn oder organisatorischer Natur alltäglich. Meine Vorstellung in der Klasse fand demnach auch im Sitzkreis statt. Vor allem die Sympathien der Mädchen habe ich schnell gewonnen, was sich z.B. an Fragen, wann ich wieder unterrichte, oder an Bildergeschenken feststellen ließ. In den Arbeitsphasen habe ich häufig die vier „schwächeren“ SuS unterstützt, was zu einem schnelleren Kennenlernen führte. So hat mich die Klasse von Anfang häufig an in Begleitung ihrer Klassenlehrerin erlebt. Darum lässt sich fragen, welche Auswirkungen dieses regelmäßige Auftreten zu zweit auf die Rollenzuschreibung der SuS an mich hat.

Der Klassenraum der 3b war groß und hatte auf einer Seite eine lange Fensterfront. Im Eingangsbereich war z.Z. der Beobachtung die Garderobe der Klasse, da ihr eigentlicher Garderobenbereich renoviert wurde. Gegenüber des Eingangs standen Bänke zu einem Sitzkreis zusammengestellt. An den Wänden im genannten Bereich verteilt standen leere Tische mit Stühlen für bspw. Kinder aufgeteilter Klassen oder Variabilität in der Arbeitsphase. Diesem hinteren Bereich des Klassenraums gegenüber lagen drei Gruppentische a sechs Personen ausgerichtet auf eine Tafel. Links von der Tafel befand sich der Schreibtisch meiner Mentorin, ihr hauptsächlicher Aufenthaltsort während des Unterrichts. Rechts von der Tafel war mein Sitzplatz an einem kleinen Tisch. An den Wänden verteilt standen Schränke mit Materialien wie einer kleinen Klassenbibliothek.

 

5.     Praxissemesterstudent in Klasse drei – Dichte Beschreibungen

 

Bei den folgenden Beobachtungen handelt es sich um Begegnungen in oder kurz nach der Übergangsphase von „Pause“ zum Unterrichtsanfang der dritten Unterrichtsstunde.


Beobachtung 1:
           

Es gongt um 9.55. Ich sitze bereits auf meinem üblichen Beobachterplatz neben der Tafel. Der Klassenraum ist leer. „Ich bin als erste in der Klasse!“, hallt es aus dem Flur herein. Drei Mädchen der dritten Klasse kommen in den Klassenraum gerannt, voran ein blondes Mädchen. „Hier ist ja nur Herr Bruch!“ (meint mich), ruft das blonde Mädchen bei einem Rundumblick durch den Klassenraum. Die Klassenlehrerin der dritten Klasse, welche die nächste Stunde halten wird, war noch nicht zu sehen.

„Hello!“, „Hello!“, „Hello!“ rufen mir die drei hereingekommenen Mädchen abwechselnd zu, während sie am Ende des Klassenraums ihre Jacken ausziehen und ihr Straßenschuhwerk zu Hausschuhen wechseln. Sie lachen dabei und grinsen mich an. Ich grinse zurück. „Wir haben jetzt SU!“, sagt nun eines der Mädchen. Die drei wenden sich ab und ich notiere meine Beobachtungen.

 

Analytische Dimensionierung 1

Die drei Mädchen, die zuerst den Klassenraum betreten, zeigen durch einen klassischen Peer-Group-Wettkampf („Ich bin als erste in der Klasse!“) zunächst spielerisches Pausenverhalten. Sie tragen gewissermaßen das Spiel vom Pausenhof in den Klassenraum, welchen zu erreichen als begehrenswert gilt.
„Hier ist ja nur Herr Bruch!“ unterbricht diese Spieldynamik der Mädchen für einen Moment. Der Klassenraum wird kurz unter die Lupe genommen. Es ist ein Anblick, der sich den Kindern nur selten bietet, da sie nur selten so allein im Klassenzimmer sind. Die meiste Zeit sind mehr SuS und die Klassenlehrerin anwesend.
Es fragt sich, was die Mädchen „als erste in der Klasse“ bei ihrem Blick durch die Klasse erwarten. Das „nur“ in ihrem Ausruf deutet daraufhin, dass das Mädchen mehr erwartet hat als den Praxissemesterstudenten. Zum einen könnte sie ihn in Begleitung seiner Mentorin/ihrer Klassenlehrerin erwartet haben, dann wäre das „nur“ als „alleine“ oder „ohne unsere Lehrerin“ zu verstehen. Sie könnte alternativ andere Kinder im Raum erwartet haben, dann wäre das Spiel „Ich bin als erste in der Klasse!“ nur auf die Peer-Group der drei Mädchen begrenzt und „nur“ als „alleine“ oder „als einziger“ gemeint.
Darüber hinaus könnte „nur“ auf die Rolle des Studenten als Praktikant in der Klasse bezogen sein. Dann wäre die Aussage als Hinweis an die anderen Mädchen zu verstehen, dass sich keine vollwertige Lehrkraft im Raum befindet. Sie könnten ihr Peergroup- und Pausenverhalten weiterhin aufrechterhalten, müssten es nicht zugunsten eines schulisch-unterrichtlichen (Unterricht vorbereitenden) Verhalten aufgeben. Dies stünde im Kontrast zu einer analysierten ethnografischen Szene von Kalthoff/Kelle (2000) an der Bielefelder Laborschule (allerdings einer offeneren Schulform).Hausschuhe tauschen,[25] rufen sie dem Studenten abwechselnd „Hello“ entgegen und grinsen. Entweder handelt es sich bei dem „Hello“ um eine Herausforderung, um ein Austesten, wie der Student in seiner Rolle als Lehrkraft reagiert, oder sie sehen ihn mehr als Spielpartner und beziehen ihn in ihr Spiel mit ein. In beiden Fällen wird die Peerkultur der Mädchen aufrechterhalten und der Student nicht als vollwertige Lehrkraft wahrgenommen. Hier bekäme der Praxissemesterstudent entweder durch seine „Austestungswürdigkeit“ die Rollenzuschreibung eines Auszubildenden/eines Berufs-anfängers oder würde als entferntes Peer-Mitglied und nicht in der Rolle eines Lehrenden adressiert, welche er im Praxissemester eigentlich anstrebt.
Sein Grinsen als Antwort scheint den Mädchen zu genügen (entweder als Resultat des Austestens oder als Peerbegrüßung), denn sie wenden sich der Thematik zu, welches Unterrichtsfach wohl als nächstes unterrichtet wird.

 

Beobachtung 2:

(Kurze Zeit später nach der oben beschrieben Szene)

Der Rest der Klasse ist vom Pausenhof hereingekommen und hat sich wie die drei Mädchen umgezogen. Die Lehrkraft ist weiterhin nicht anwesend und ich sitze auf meinem Beobachterplatz. Viele Kinder sitzen bereits auf ihren Plätzen und reden mit ihren Sitznachbarn. Andere stehen in Grüppchen im Klassenraum verteilt und reden heiter. Ich kann nicht heraushören, worüber sie reden, denn der Lautstärkepegel ist fortwährend hoch. Drei Mädchen eines Gruppentisches haben ihre Essensboxen vor sich stehen und bedienen sich an Brot, Obst- und Gemüsestreifen.
Ein Mädchen, welches an einem Tisch in meinem Blickfeld sitzt, wendet sich zu mir um. Sie rückt einige Zentimeter vom Tisch ab, macht sich groß (im Sitzen) und fragt mit erhobener Stimme: „Was machen wir jetzt?“
In diesem Moment betritt meine Mentorin – die Klassenlehrerin der Klasse 3 – den Raum, eine Kaffeetasse und einen Stapel Papier in den Händen. Kinder, welche sie sehen, hören auf zu reden. Es wird schnell leise. Das genannte Mädchen dreht sich um und wendet sich von mir ab. Ich brauche nicht mehr zu antworten.

 

Analytisch Dimensionierung 2

Die Klasse befindet sich am Beginn eines Unterrichtsanfangs. Alle sind im Klassenraum anwesend und gemäß den institutionalisierten Bedingungen des Klassenraumes und der ‚Unterrichtsordnung‘ umgezogen. Dem Pausenverhalten folgend sind verschiedene Peergroup-Gespräche im Raum verteilt, da die Lehrkraft noch nicht anwesend ist.
Ein Mädchen löst sich nun aus der Peergroup-Aktivität und wendet sich dem ansonsten unbeteiligten Praxissemesterstudenten zu, sucht mit Körpersprache und Stimm-lautstärke seine Aufmerksamkeit. Die Frage des Mädchens betrifft das Thema der folgenden Stunde. Mit dem Wissen um das Unterrichtsfach kann sie sich bspw. durch Auslegen des benötigten Materials auf den Unterricht vorbereiten und könnte so einen schnelleren Unterrichtsanfang mitermöglichen.

Sie traut dem Praxissemesterstudenten in seiner Rolle das Wissen über das folgende Unterrichtsfach zu. Als die Klassenlehrerin den Raum betritt, wendet sich das Mädchen ab, nimmt die Ruheposition des Sitzens ein, spricht nicht mehr und wendet der Lehrerin ihre volle Aufmerksamkeit zu. Das ausgeführte Mikroritual bereitet so den Unterrichtsanfang mit vor. Das folgende Unterrichtsfach ist irrelevant geworden.
So stellt das Mädchen das Mitkonstituieren des Unterrichtsanfangs höher als die Konversation mit dem Studenten. Ihre Aufmerksamkeit gilt sofort der Lehrerin, ordnet ihr gemäß der vorherrschenden Hierarchie höhere Relevanz zu als dem Studenten. Diese Relevanz erhält die Lehrerin darüber hinaus dadurch, dass sie mit dem Eintritt in die Klasse den Unterrichtsanfang symbolisiert (Stapel Papier im Arm).[26] Sie wird den Unterricht halten und nicht der Student. So muss die vorgenommene Hierarchisierung nicht zwingend auf die Rolle des Praxissemesterstudenten bezogen sein. Interessant wäre es, eine Szene hinzuzuziehen, in der die Lehrerin und der Praxissemesterstudent ihre Unterrichtsrollen tauschen (sie beobachtet, er kommt herein und unterrichtet).

Beobachtung 3:

Die Kinder der Klasse 3b sitzen kurz nach Unterrichtsanfang auf Stühlen an drei Gruppentischen im Raum verteilt und sind vollends auf die Lehrerin fixiert, welche in Front der Klasse an ihrem Schreibtisch gelehnt steht, mit einem Stapel Hefte im Arm. Es herrscht absolute Stille. Alle Blicke sind auf die Lehrerin gerichtet. Man könnte eine Nadel zu Boden fallen hören. Einige Kinder wirken angespannt.

Nach einigen Worten einer Ansprache, beginnt die Lehrerin herzhaft und lange zu husten. Am Ende des Raumes erscheinen vier neue Kinder mit Ranzen und Arbeitsheften in den Händen in der Tür. Erst schauen sie zur immer noch hustenden Lehrerin und dann zu mir, der auf einem Stuhl neben der Tafel sitzt. Als ich die Kinder sehe, stehe ich auf und bewege mich auf sie zu. Das vorderste Mädchen sagt zu mir: „Wir sind aufgeteilt!“, die anderen schauen mich erwartungsvoll an. Währenddessen nimmt der Rest der Klasse die Kinder kaum wahr und schaut weiterhin die hustende Klassenlehrerin an. „Es kommen noch zwei!“, sagt das Mädchen. Ich zeige erst auf einen Gruppentisch, dann auf einen Tisch an der Wand (beide am Ende des Raumes im Rücken der Klasse und sage ruhig und leise: „Ihr könnt euch hier an die freien Tische setzen.“ Ohne zu zögern setzen sich die Neuankömmlinge an die ihnen zugewiesenen Tische und fangen an, in ihren Arbeitsheften zu arbeiten. Ich setze mich wieder zurück auf meinen Sitzplatz neben der Tafel. Die Lehrerin hat unterdessen aufgehört zu husten und macht mit ihrer Ansprache weiter. Die Klasse ist weiterhin auf die Lehrkraft fixiert.

 

Analytische Dimensionierung 3:

Die SuS der Klasse befinden sich alle in der Ruheposition des Sitzens und sind auffallend leise und auf die Lehrerin fixiert. Sie stehen in einer Erwartungshaltung und räumen dem Folgenden und der Lehrerin damit Relevanz ein. Selbst als die Lehrerin anfängt zu husten und sich das Erwartete verzögert, bleiben die SuS in ihrer Position.
Mit dem Eintreten der SuS einer anderen Klasse tut sich ein Parallelgeschehen auf. Sie betreten leise den Raum und suchen nach einer leitenden Person, die sie in die bestehende Unterrichtsordnung integriert. Sie fixieren zuerst die zentrale Person im Raum, welche die meiste Aufmerksamkeit genießt (Lehrerin). Im Gegensatz zu der sitzenden Klasse wenden sich die Neuankömmlinge der nächstrelevanten Person zu, nachdem sie erkannt haben, dass ihre erste Wahl z.Z. nicht zur Verfügung steht. In der Hierarchie im Raum kommt der beobachtende Student der Lehrerin am nächsten, wird deswegen mit Blicken fixiert. Durch diese Wahl und die Verhinderung der leitenden Lehrkraft, nimmt sich der Student des Problems an und kommt näher, damit die vorherrschende Unterrichtsordnung nicht gestört wird. Die Integration der Kinder in die Unterrichtsordnung durch Zuweisung an leere Tische erfolgt aus erprobter Routine. Auch die Neuankömmlinge handeln routiniert, befolgen die Anweisung und hinterfragen sie nicht. So wurde die Einschätzung der Neuankömmlinge, dass auch der Praxissemesterstudent sie in die Unterrichtsordnung integriert nicht enttäuscht. Sie nehmen eine unterrichtsordnungskonforme Arbeitshaltung ein, ohne dass diese einer Anweisung bedarf. Mit der fortfahrenden Ansprache der Lehrerin geht das Unterrichtsgeschehen nahezu unbeeinflusst weiter.

 

Beobachtung 4:

(Wie in Beobachtung 2 sind die Kinder bereits im Klassenraum und die Lehrerin nicht zu sehen. Da sich die Szenen sehr ähneln, wird auf die nähere Grundbeschreibung verzichtet)

Ich sitze auf meinem Beobachterstuhl neben der Tafel und notiere meine ersten Eindrücke. Ein Mädchen vom Gruppentisch vor mir löst sich aus einem Gespräch mit ihrer Sitznachbarin, steht auf und kommt zu mir rüber mit ihrem Mäppchen in der Hand. „Soll ich dann gleich Mathe machen?“, fragt sie mich. Ich weiß, dass sie tags zuvor bei einer Klassenarbeit in Mathe gefehlt hat. Ich ziehe jedoch die Schultern hoch, da mich die Klassenlehrerin nicht über ihre Pläne für die kommende Stunde informiert hat.
„Ok.“, antwortet das Mädchen emotionslos, setzt sich wieder auf ihren Platz und richtet ihren Blick auf die Klassentür.

 

 

Analytische Dimensionierung 4:

Wie in der analytischen Dimensionierung der zweiten Szene, löst sich hier ein Mädchen aus der Peergroup, um dem Praxissemesterstudenten eine organisatorische Frage zu stellen, welche die folgende Stunde betrifft. Eine zielführende Antwort könnte der Schülerin dabei helfen sich durch Mikrorituale auf die Klassenarbeit vorzubereiten (ihre Ausgangslage zu optimieren). Sie traut dem Praxissemesterstudenten entweder in seiner Lehrkraftrolle oder durch Involvierung der Mentorin (Praktikantenrolle) zu, über eine bewertungsrelevante Klassenarbeit/den Nachschreibtermin Bescheid zu wissen und darüber zu entscheiden. Außerdem könnte der Praxissemesterstudent die Rolle der Aufsichtsperson einnehmen (Hilfstätigkeit), während das Mädchen die Arbeit nachschreibt und die Lehrerin den Unterricht hält.
Der Student reagiert mit einer nonverbalen Geste der Ratlosigkeit (Schultern hochziehen). Diese erfolgt aus zwei Gründen. Die Mentorin, welche die Klassenarbeit gestellt hat, hat ihn nicht über Pläne des Nachschreibtermins informiert. Zudem schreibt sich der Student in seiner Rolle nicht die Entscheidungsgewalt über den Nachschreibtermin zu.
Die Schülerin reagiert emotionslos. So ist eine großartige Bewertung ihrerseits auf die Antwort des Praktikanten nicht auszumachen. Einerseits könnte sie enttäuscht sein, keine gewünschte Antwort bekommen zu haben, andererseits könnte sie mit dem Unwissen des Praktikanten gerechnet haben. Im letzteren Fall bekäme die Frage nach dem Nachschreibtermin einen Charakter des Austestens. Mit dem Blick auf die Tür nimmt sie eine Wartehaltung ein. Diese könnte sich auf das Eintreten der nächstkompetenteren Person beziehen, der Lehrerin.

 

6.     Fazit – Zusammenfassung

 

Die Schwellenphase von Pause zu Unterrichtsanfang wird von einigen SuS dazu benutzt, Informationen über die folgende Unterrichtsstunde zu erhalten, um sich mit diesem Wissen auf den Unterricht im Vollzug von Mikroritualen vorbereiten zu können.[27] Andere erholen sich von der Pause, essen, unterhalten sich in Peer-Gesprächen oder halten auf anderen Wegen ihre Peer-Kultur aufrecht.[28] Das Übertreten der Türschwelle zum Klassenraum durch die Lehrkraft ist hier ein Signal für Unterrichtsbeginn und löst zum Teil unterrichtsordnungskonformes Handel aus.[29]

Für die wenigen Szenen kann zusammenfassend festgestellt werden, dass dem Praxissemesterstudent einerseits durchaus Attribute einer vollwertigen Lehrkraft zugeordnet werden: Wissen um folgende Unterrichtsstunde, Wissen über Klassenarbeit, Koordination/Integration in bestehende Unterrichtsordnung. Dem Gegenüber stehen Handlungen, welche ihn von der vollwertigen Lehrkraft deklassieren: Adressierung als nicht vollwertige Lehrkraft und Aufrechterhaltens der Peeraktivität,

Weiterhin zu erforschen wären Szenen, wie Beobachtung 1 „Hier ist ja nur Herr Bruch“, um mehr Eindeutigkeit über diesen Ausspruch zu erreichen und die Verhältnisbestimmung von Lernende und Praxissemesterstudent in der Pause zu vertiefen. Darüber hinaus wären Situationen wie in Beobachtungen 2, 3 und 4 interessant, in denen der Praxissemesterstudent die unterrichtende Lehrkraft der Stunde ist und seine Mentorin die Rolle der Ethnografin/Beobachterin innehat. So wurde „Unterrichten“ durchgehend als positiver Faktor für den subjektiven Rollenwechsel von Praxissemesterstudierenden vom Lernenden zum Lehrenden wahrgenommen.[34] Falls der Unterrichtende dann zugleich Ethnograf bliebe, wäre eine Videodokumentation nötig, beginnend bevor die Kinder als schulische Akteure den Klassenraum betreten. Darüber hinaus wären Beobachtungen anderer Praxissemesterstudierender in anderen Schulen und Klassen zu diesem Thema für Vergleiche interessant. Es wäre vermehrt auf Emotionen und gezeigte Gefühle zu achten, da sie den Szenen mehr Deutungsgrundlage und tiefe verleihen. Hinzu kommt die strikte Trennung der Rollen als handelnder Praxissemesterstudent und Ethnograf. Der Status von Praxissemesterstudierenden ist bisweilen weitgehend unerforscht.

 

Literatur

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Budde, J. (2010). Inszenierte Mitbestimmung?! Soziale und demokratische Kompetenzen im schulischen Alltag. Zeitschrift für Pädagogik, 56 (3), S. 384-401.

Förster, T. (2003). Victor Turners Ritualtheorie. Theologische Literaturzeitung, 128, S. 703-716.

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Košinár, J., Schmid, E. (2017). Die Rolle der Praxislehrperson aus Studierendensicht – Rekonstruktionen von Praxiserfahrungen. Beiträge zur Lehrerinnen- und Lehrerbildung, 35 (3), S. 459-471.

Lindner, D., Rosenberger, K. (2019). Ethnografisches Beobachten und Schreiben im Lehramtsstudium. Journal für LehrerInnenbildung, 19 (4), S.62-70.

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Wiesemann, J. (2011). Ethnographische Forschung im Kontext von Schule. In H. Moser (Hrsg.), Forschung in der Lehrerbildung (Professionswissen für Lehrerinnen und Lehrer, Band 10). Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren, S. 167-185.

[1] Vgl. Wagner-Willi, 2018, S.59.

[2] Vgl. Wagner-Willi, 2005, S.286.

[3] Vgl. Ebd.; Vgl. Juen, 2013, S.94.

[4] Vgl. Schelle 2018, S.88.

[5] Vgl. Wagner-Willi, 2018, S.59.

[6] Vgl. Kalthoff/Kelle, 2000, S.S.696ff.

[7] Vgl. Förster, 2003, S.705.

[8] Vgl. Kling, 2018, S.224.

[9] Vgl. Ebd. S.121; Kosinar/Schmid, 2017, S.465.

[10] Vgl. Kling, 2018, S.122.

[11] Vgl. Ebd. S.224.

[12] Vgl. Ebd. S.122; S.215.

[13] Vgl. Ebd. 183f.

[14] Vgl. Bräunlein, 2011, S.154ff.

[15] Turner, 1969, S.81.

[16] Vgl. Breidenstein, 2012, S.29.

[17] Vgl. Wiesemann, 2011, S.167; S170.

[18] Vgl. Lindner/Rosenberger, 2019, S.64.

[19] Breidenstein, 2012, S.36.

[20] Ebd., S.42.

[21] vgl. Lindner/Rosenberg, 2019, S.66; vgl. Wiesemann, 2011, S.178.

[22] Vgl. Lindner/Rosenberg, 2019, S.66f.

[23] Spürbar war dies für mich durch das Befolgen meiner Aufträge im Unterricht seitens der Schüler-schaft, wie es Kling (2018, S.184f.) beschreibt, bzw. Doing-Student-Reaktionen (Budde, 2010, S.386).

[24] Vgl. Kalthoff/Kelle, 2000, S.694f.

[25] Siehe Wagner-Willi, 2005, S.286.

[26] Siehe Wagner Willie, 2005, S.286.

[27] Vgl. Juen, 2013, S.94; Wagner-Willi, 2005, S.287.

[28] Vgl. Wagner-Willi, 2018, S.59.

[29] Vgl. Wagner-Willi, 2005, S.286.

[30] Siehe Szene 1: ev. Einbezug in Peer-Spiel oder Austesten von Rollenverhalten als Lehrkraft

[31] Vgl. Kling, 2018, S.224.

[32] Vgl. ebd., S.122.

[33] Vgl. ebd., S.224; S.183.

[34] Vgl. ebd., S.179.

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