Wie vollziehen Grundschülerinnen und Grundschüler die Freiarbeitsphase im Hinblick auf das Verhältnis zwischen sachbezogener Tätigkeit, Nebentätigkeit und Untätigkeit? (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht. Auch etwaige Hinweise (wie z.B. der Standort der Schule) wurden daher nachträglich anonymisiert.

Inhalt

  • Einleitung
  • Forschungsgegenstand
    • Definition
    • Ethnographische Studien
  • Das Feld
    • Die Lernkultur
    • Die Ethnographie als Forschungsmethode
    • Die Rolle und Reaktionen im Feld
  • Dichte Beschreibung und Analytische Dimensionierung
    • Erhebung 1
      • Die Situation
      • Die Beobachtung
      • Die Analyse
    • Erhebung 2
      • Die Situation
      • Die Beobachtung
      • Die Analyse
  • Zusammenfassung, Diskussion und Fazit
  • Literaturverzeichnis

1.   Einleitung

Die vorliegende Arbeit fokussiert die Handlungspraktiken der Schülerinnen und Schüler innerhalb derFreiarbeitsphase. Dabei wird insbesondere das Verhältnis zwischen sachbezogener Tätigkeit, Nebentätigkeit und Untätigkeit untersucht, welches innerhalb der Wissenschaften noch sehr unerforscht ist (vgl. Breidenstein et al. 2017b, S. 206).

Die Freiarbeit wird als eine von mehreren Unterrichtsformen offenen Unterrichts verstanden (vgl. Lähnemann 2009, S. 35). Dabei richtet sich die Öffnung des Unterrichts vor allem gegen die starre Geschlossenheit des lehrerzentrierten Frontalunterrichts (vgl. Breidenstein et al. 2017a, S. 19). Mit den reformpädagogischen Bewegungen der Jahrhundertwende in den 1970er-Jahren gewannen die Ansätze offenen Unterrichts und damit auch der Freiarbeit zunehmend an Bedeutung. Als Pionierin gilt Maria Montessori mit der Freien Wahl der Arbeit, deren Publikationen auch heute noch für die Forschung relevant sind (vgl. Bohl und Kucharz 2013, S. 28).

Doch auch aufgrund der soziologischen, ökonomischen und arbeitsweltlichen Veränderungen der modernen Gesellschaft werden Kompetenzen wie Selbstständigkeit, Teamfähigkeit, Sozialkompetenz und Entscheidungskompetenz notwendige Voraussetzungen, um den Lebenserfolg der Kinder zu erhöhen (vgl. Heinzel 2006, S. 80). Wallrabenstein und Drews (2002, S. 12) sehen vor allem in der Freiarbeit eine angemessene Möglichkeit, um auf den sozialen Wandel und der damit verbundenen Vielfalt und Heterogenität innerhalb der Gesellschaft reagieren zu können.

Mit dem Paradigmenwechsel von einem lehrerzentrierten Unterricht hin zu einem offenen Unterricht gehen jedoch auch diverse Veränderungen einher. Während der lehrerzentrierte Unterricht die Aufmerksamkeit und dieTätigkeiten der Schülerinnen und Schüler auf einen geteilten Inhalt hin ausrichtet, wird bei offenen Unterrichtsformen, wie der Freiarbeit, auf eine Zentrierung der Aufmerksamkeit aller Teilnehmenden auf einen gemeinsamen Unterrichtsgegenstand explizit verzichtet (vgl. Rademacher 2017, S. 32). Mit der Freiarbeit gewinnen die Schülerinnen und Schüler somit neue Freiheiten, die sie nutzen können. Charakteristische Merkmale sind Bewegungsfreiheit, Wahlfreiheit in Bezug auf Arbeitsthema und Arbeitsmaterial und Entscheidungsfreiheit über Reihenfolge, Lernort, Zeit und Sozialform (vgl. Krieger 1998, S. 201). Wallrabenstein und Drews (2002, S. 12) sprechen im Kontext der Freiarbeit von einem veränderten pädagogischen Konzept, welches sich durch ein „verändertes Menschenbild (Selbstverantwortung), durch eine veränderte Kindorientierung (Selbsttätigkeit), einen veränderten Unterrichtsanspruch (Leistung und Differenzierung), einen veränderten Lernbegriff (aktiver Umgang mit Wissen) und eine veränderte Berufsrolle der Lehrenden (Diagnose, Beratung, Förderung)“ kennzeichnet.

Die Veränderungen, die sich mit der Dezentrierung der Schülertätigkeiten und der damit einhergehenden Selbsttätigkeit ergeben, stellen jedoch vor allem im Hinblick auf den Grundschulunterricht eine große Herausforderung für die Lernenden dar. Dabei wird auch innerhalb der Wissenschaften durchaus kontrovers diskutiert, ob Grundschülerinnen und Grundschüler überhaupt in der Lage sind, mit dieser Freiheit adäquat umzugehen (vgl. Hess und Lipowsky 2017, S. 28). Eine solche Art der Fragestellung fokussiert jedoch sehr starkdie Wirksamkeit von Freiarbeit. Die Untersuchung der Wirksamkeit von Freiarbeit ist jedoch nicht das Ziel der vorliegenden ethnographischen Arbeit. Vielmehr geht es um die Fragen, wie die Akteurinnen und Akteure die Freiarbeitsphase vollziehen, welche Praktiken dabei zum Vorschein kommen und wie das Verhältnis zwischensachbezogener Tätigkeit, Nebentätigkeit sowie Untätigkeit innerhalb der Stichprobe beschrieben werden kann.

Um zunächst eine theoretische Grundlage zu legen, beschäftigt sich der erste Teil der vorliegenden Arbeit mit dem Forschungsstand zum Thema Freiarbeit. Dabei wird zunächst dargelegt, was innerhalb der Wissenschaften unter Freiarbeit verstanden wird. Anschließend wird der ethnographische Forschungsstand zusammenfassend dargestellt. Im zweiten empirischen Teil erfolgt dann die ethnographische Erhebung in Formvon zwei dichten Beschreibungen und jeweils einer analytischen Dimensionierung. Zum Schluss werden die Ergebnisse dieser Analyse detailliert berichtet, interpretiert sowie diskutiert.

2.   Forschungsstand

  • Definition

„Ich werde mich an der Diskussion, was denn rechte Freiarbeit sei, nicht beteiligen“ (Sennlaub 1990, S. 11). Der Autor macht auf die fehlende einheitliche Begriffsklärung aufmerksam. Aus der heutigen Perspektive ist jedoch klar, dass die Freiarbeit als einer von mehreren Bestandteilen offenen Unterrichts verstanden werden kann (vgl. Bohl und Kucharz 2013, S. 13). Doch wann kann im Kontext des offenen Unterrichts von Freiarbeit gesprochen werden und wann nicht? Kann das Spielen auch der Freiarbeit zugeordnet werden? Da eine Nichtberücksichtigung dieser Fragen eine Vergleichbarkeit der Studien erschwert, fordern Bohl und Kucharz (2013, S. 12) trotz der Schwierigkeiten und Unterschiede auf, das Begriffsverständnis zu klären.

Nach Wallrabenstein und Drews (2002, S. 10) wird die Freiarbeit „als eine Unterrichtsform bezeichnet, in der Kinder frei von direkter Steuerung durch die Lehrperson aus einem vielfältigen Lernangebot in freier Sozialform Lerntätigkeiten entwickeln.“ Die Definition fokussiert einen Lernenden, der aus einem vielfältigen Angebot eigenständig lernt und tätig ist. Auch Lähnemann (2009) macht aufden Begriff des Tätigseins aufmerksam. Die Schülerinnen und Schüler „müssen tätig sein und ihre Zeit nutzen“ (ebd., S. 37). Dabei geht es jedoch nach Gervé (2003, S. 274) nicht darum, „dass Kinder in der Schule machen was sie wollen, sie im Sinne des Freispiels irgendwie beschäftigen, sondern es geht darum, dass sie einen Rahmen bekommen, der es ihnen erlaubt, selbstbestimmter und individueller Lernziele zu verfolgen.“ Der Autor macht auf den Unterschied zwischen „Freiarbeit“ und „Freispiel“ aufmerksam. Auch Breidenstein et al. (2017b, S. 203) betonen: „Die Freizeit mag davon gekennzeichnet sein, dass man spielt, sich zerstreut oder sich entspannt – all dies kann nicht Bestandteil von ‚Freiarbeit‘ sein.“ Potthoff (1995, S. 54) hingegen ist der Auffassung, dass es keine Grenzen zwischen Spiel und Arbeit gibt. Der Autor bemerkt, dass inniges Spielen oftmals Arbeit ist, sofern dabei in der Freiarbeitsphase nicht gerannt, getobt und gelärmt werde.

Zusammenfassend lässt sich aufgrund der kontroversen Perspektiven festhalten: Die

„Freiarbeit enthält die beiden Pole ‚Freiheit‘ und ‚Arbeit‘, die zu einem ausgewogenen Verhältnis kommen müssen“ (Lähnemann 2009, S. 37).

  • Ethnographische Studien

Bei der Auseinandersetzung des Forschungstandes zum Thema Freiarbeit kann aus der gegenwärtigen Perspektive konstatiert werden, dass derzeit noch wenige ethnographische Studien vorliegen. Es gibt zwar bereits Studien im Feld, diese fokussieren jedoch andere Formen des offenen Unterrichts wie beispielsweise die Wochenplanarbeit oder Kreisgespräche. Dabei werden vorwiegend quantitative Methoden, die auf die Wirksamkeit des offenen Unterrichts abzielen, genutzt. Doch auch hinsichtlich des Forschungstandes des offenen Unterrichts stellt Lipowsky (2002, S. 126) fest, dass dieser sehr defizitär ist, da sowohl positive als auch negative Effekte innerhalb der Literatur herausgestellt werden. Für diese Arbeit sind jedoch ausschließlich qualitative Studien zum Thema Freiarbeit relevant, die im Feld durchgeführt wurden. Diese werden im Folgenden zusammengefasst.

Röbe (1986) beobachtet ein Jahr lang Schülerinnen und Schüler einer Grundschulklasse innerhalb der Freiarbeitsphase, welche immer zu Beginn des Schultages stattfand. Dabei hat er neben quantitativen Beobachtungen auch qualitative Beobachtungen in Form von Beobachtungsprotokollen erhoben. Der Autor stellt fest, dass anfangs spielerische Aktivitäten im Vordergrund standen, diese jedoch im Verlaufe des Schuljahres zunehmend durch anspruchsvollere Lernmaterialien ersetzt wurden (vgl. ebd., S. 624). Zudem zeigen seine Beobachtungen, dass die Schülerinnen und Schüler am Anfang des Schuljahres noch Probleme dabei hatten, sich eine Arbeit zu suchen und diese auch konsequent durchzuführen (vgl. ebd., S. 629). Später konstatiert der Autor, dass die Probandinnen und Probanden zunehmend lernten, fokussierter und konzentrierter zu arbeiten. Insgesamt zieht Röbe vor allem im Hinblick auf die Förderung der Zielgerichtetheit der Aktivitäten und dersozialen Kompetenz ein positives Fazit.

Auch Fähmel (1981) beobachtet Grundschülerinnen und Grundschüler innerhalb der Freiarbeitsphase und stelltden sozialen Aspekt in ihren Erhebungen heraus. Die Autorin beobachtet, dass die Probandinnen und Probanden sich trotz der doch unterschiedlichen individuellen Lerngegenstände austauschen und somit soziale Verhaltensweisen entwickeln (vgl. ebd., S. 227).

Wagner und Schöll (1992) untersuchten das selbstständige Lernen von Kindern einer vierten Grundschulklasse in der Freiarbeit, wobei fünf leistungsstarke und fünf leistungsschwache Schülerinnen und Schüler an zehn Erhebungstagen jeweils 30 Minuten teilnehmend beobachtet wurden. Sie beobachteten, dass die Lernenden bei einer einmal begonnenen Arbeit konsequent blieben. Ein sprunghaftes Verhalten konnte somit nicht beobachtet werden. Die Autorinnen und Autoren stellen jedoch auch fest, dass nur eine begrenzte Zahl an Materialien aus dem Lernmittelkontingent gewählt wurde und bestimmte Lernangebote bevorzugt bearbeitet wurden. Zudem beobachten sie, dass vor allem die leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler vorwiegend die Einzelarbeit als Sozialform wählten, während leistungsschwächere Schülerinnen und Schüler vermehrt mit anderen zusammenarbeiteten und mit diesen in Interaktionen traten (vgl. ebd., S. 46). Die Autorinnen und Autoren betonen jedoch, dass sowohl die leistungsstarken als auch die leistungsschwächeren Schülerinnen und Schüler sich mit selbstgewählten Aufgaben arbeitsbezogen beschäftigten (vgl. ebd., S. 48).

Henry (2001) hat über mehrere Wochen eine jahrgangsübergreifende Klasse während der Freiarbeit teilnehmendbeobachtet. Die Autorin konstatiert im Gegensatz zu Wagner und Schöll (1992), dass Schülerinnen und Schüler mit geringen Selbststeuerungsfähigkeiten in der Freiarbeit überfordert sind (vgl. ebd., S. 213). Zudem bemerkt sie, dass die Kinder zwar kooperieren, sich aber weniger mit sachlichen Problemstellungen auseinandersetzen (vgl. ebd., S. 214).

Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Lipowsky (1999) in seinen qualitativen Beobachtungen. Der Autor beobachtet neun Grundschulklassen. Dabei wählt er den Beobachtungsfokus, wie Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlicher Konzentrationsfähigkeit in offenen Lernsituationen ihre Lernzeit nutzen (vgl. ebd., S. 118). Seine Ergebnisse zeigen, dass die manuellen Tätigkeiten der Schülerinnen und Schüler dominieren und kognitiv anspruchsvollere Tätigkeiten nur selten beobachtet werden konnten (vgl. ebd., S. 203). Zudem stellt Lipowsky fest, dass nicht alle Kinder in der Lage sind, die Lernangebote effektiv zu nutzen. Viele Schülerinnen und Schüler agierten passiv, sodass die Schülertätigkeiten den Eindruck der Zufälligkeit und Beliebigkeit hinterließen (vgl. ebd., S. 205). Auch Garlichs (1990, S. 42) beobachtet Kinder in der Freiarbeit, die antriebslos sind oder sich inNebensächlichkeiten verzetteln.

Grindel (2007) untersucht vier hochbegabte Schülerinnen und Schüler in der Freiarbeit, die eine Montessori-Schule besuchen. Die Ergebnisse zeigen zwar, dass alle vier Probandinnen und Probanden selbsttätig agieren, jedoch kaum anspruchsvollere Materialien ausgewählt werden, die das problemorientierte, forschende und entdeckende Lernen ansprechen (vgl. ebd., S. 266). Somit bestätigen Grindels Ergebnisse auch die Einschätzungen Lipowskys (1999).

Breidenstein und Rademacher (2017b) haben im Rahmen eines ethnographischen Forschungsprojektes vier Grundschulen 23 Wochen lang teilnehmend beobachtet. Die Autorinnen und Autoren identifizieren vor allem Praktiken des flexiblen Wechsels des Arbeitsortes, welche mit einer Bewegung der Körper innerhalb des Klassenzimmers einhergehen. Dabei „entstehen immer wieder neue und […] wechselnde Zentren des Geschehens, die sich situativ auch sehr schnell wieder auflösen können“ (ebd., S. 9). Diese Flexibilität und Bewegungen stellen nach Breidenstein und Rademacher den entscheidenden Unterschied zwischen offenen und lehrerzentrierten Unterrichtsformen dar. Zudem zeigen ihre Beobachtungen, dass einige Arbeitsplätze beliebter als andere Arbeitsplätze sind. Dadurch entstehen Praktiken des Behauptens (vgl. ebd., S. 36) und der Eroberung bestimmter Terrains (vgl. edb., S. 215). Die Autorinnen und Autoren ermitteln zudem Praktiken des Simulierens. Sie beobachteten Schülerinnen und Schüler, die das Lesen oftmals nur simuliert haben, um sichstattdessen anderen Nebenbeschäftigungen, wie dem Sprechen mit anderen Kindern oder Praktiken des passiven Zuschauens widmen zu können (vgl. ebd., S. 201).

Der bisherige Forschungsstand zum Thema Freiarbeit zeigt, dass es Graubereiche zwischen der aktiven Teilnahme am Unterricht und verdeckter Nebenbeschäftigungen gibt. Für diese nicht-unterrichtlichen Praktiken interessiert sich die ethnographische Forschung schon lange. Zinnecker (1978, S. 34) beschreibt Orte, an denen Schülerinnen und Schüler unbeobachtet agieren können als „Hinterbühnen“. Vor allem auf den Hinterbühnen können sich Subkulturen entfalten. Auch Wagner-Willi (2005) untersuchte die Hinterbühnen der Peeraktivtäten bei dem Übergang von Pause zum Unterricht. Doch vor allem hinsichtlich der Freiarbeit ist das Feld der Nebentätigkeiten von Schülerinnen und Schülern innerhalb der Grundschule noch wenig erforscht (vgl. Breidenstein und Rademacher 2017b, S. 206), sodass die vorliegende Arbeit sich diesem Desiderat genauer widmen soll.

 

3.   Das Feld

Im folgenden empirischen Teil der Arbeit wird zunächst das Feld, in welchem die Erhebung stattfand, beschrieben. Anschließend wird der methodische Zugang der Ethnographie und die damit verbundenen Reaktionen des Feldes auf meine Rolle als Forscher dargelegt.

  • Die Lernkultur

Die Erhebungen erfolgten in einer ersten Klasse einer Regelgrundschule, die ich im Rahmen meines Praxissemesters von dem 22.02.2021 bis zum 02.07.2021 begleitete. Die Klasse befand sich zum Erhebungszeitraum im zweiten Halbjahr des ersten Schuljahres, welches signifikant von der Corona-Pandemie und dessen Begleiterscheinungen geprägt war. Gesamtbetrachtet fand aufgrund des Distanz- und Wechselunterrichts sehr wenig Präsenz- und damit auch Freiarbeitsunterricht statt, sodass die Vorerfahrungen in Bezug auf das selbsttätige Lernen sehr begrenzt sind.

Der Klassenraum der untersuchten Klasse besteht aus einer tafelzentrierten Anordnung der Tische, wobei immer zwei Schülerinnen und Schüler zusammensitzen. Das Lehrerpult befindet sich unmittelbar neben der Tafel und ist frontal auf die Blickrichtung der Schülerschaft hin ausgerichtet. Auf dem rechten Tafelflügel hängt eine laminierte Transparenzübersicht mit vier untereinander geordneten Din-A4-Kärtchen, welche die Kinder daran erinnern soll, wie der Schultag richtig anfängt. Zunächst soll sich die Hände gewaschen, dann die Postmappe kontrolliert und anschließend das Mäppchen auf den Tisch gelegt werden. Das letzte Kärtchen beinhaltet die Aufschrift „Ich hole mir eine Aufgabe und arbeite im offenen Anfang“. An der linken Längswand des Klassenraumes ist das Lernregal verortet, in welchem sich das Freiarbeitsmaterial befindet. Dieses ist in vier abgetrennte Bereiche aufgeteilt. An dem Regal des ersten Bereiches befindet sich ein Aufkleber, auf welchem ein Buch abgebildet ist. Dieser soll das Fach Deutsch darstellen. Ein Aufkleber mit roten und blauen Plättchenkennzeichnet den zweiten Bereich, welcher dem Fach Mathematik zugeordnet wird. Den dritten Bereich symbolisiert ein Aufkleber, auf welchem eine Hand zu sehen ist. Dieser repräsentiert Materialien, welche die Feinmotorik fördern sollen. An dem Regal des letzten Bereiches klebt schließlich ein Aufkleber, auf welchem ein Springseil, ein Würfel und Bauklötze abgebildet sind. In diesem Bereich befinden sich Spiele.

Der Klassenraum enthält zusätzlich im hinteren Bereich des Raumes eine Leseecke, die durch ein Regal, welches der Ablage von Unterrichtsmaterialien dient, räumlich abgetrennt ist. In der Leseecke befinden sich ein Lesesofa, zwei Computer, ein Bücherregal ein Tisch sowie vier Stühle.

Die Klasse besteht insgesamt aus 25 Schülerinnen und Schülern, wovon 14 Jungen und 11 Mädchen sind. Die Schülerschaft weist im Allgemeinen eine sehr große Heterogenität auf. Mehr als die Hälfte der Klasse besitzt eine nicht-deutsche Muttersprache. Insgesamt gibt es vor allem sehr große Leistungsunterschiede hinsichtlich der sprachlichen Kompetenzen in den Bereichen Lesen und Schreiben.

Im Hinblick auf das allgemeine Arbeitsverhalten der Klasse ist anzumerken, dass die Schülerinnen und Schüler sehr motiviert und konzentriert zusammenarbeiten. Auch das Sozialverhalten innerhalb der Klasse ist sehr positiv. In den Arbeitsphasen besteht nach Beendigung einer Aufgabe die Möglichkeit, in der Rolle des Helferkindes andere Kinder zu unterstützen. Die Klasse versteht sich als Einheit und es wird gegenseitig aufeinander Achtgegeben, sodass das Lernkultur als sehr positiv beschrieben werden kann.

  • Die Ethnographie als Forschungsmethode

In der vorliegenden Studie soll vorwiegend die Perspektive der Kinder und deren Praktiken innerhalb der Freiarbeitsphase untersucht werden. Vor allem die gegenwärtige Forschung fordert Beobachtungsstudien, die geöffneten Unterricht in seiner Wirklichkeit in den Blick nehmen und dabei auf qualitative Methoden zurückgreifen (vgl. Breidenstein und Rademacher 2017a, S. 6). Ein wesentlicher qualitativer Zugang zur Erforschung der Perspektive der Kinder ist die Ethnographie (vgl. Huf 2008, S. 113).

Ethnographische Beobachtungen sind „davon gekennzeichnet, schulischen Unterricht als eine ‚fremde Kultur‘ zubetrachten, um in diesem scheinbar so vertrauten Geschehen Neues zu entdecken“ (Breidenstein 2012, S. 30). Es geht vor allem darum, Interaktionsprozesse zwischen den Akteurinnen und Akteuren im Feld des Unterrichts zu erforschen und dabei die Mikrostrukturen eines sozialen Geschehens in den Blick zu nehmen (vgl. Wiesemann 2011, S. 167). Diese Mikrostrukturen offenbaren nicht nur, was die Schülerinnen und Schüler im Unterricht sagen und tun, sondern vor allem auch, wie sie es sagen und tun (vgl. ebd., S. 168).

Die Ethnographie nutzt die Methode der teilnehmenden Beobachtung innerhalb eines Forschungsfeldes. Dabei soll das Geschehen nicht nur beobachtet, sondern das Beobachtete vor allem auch verschriftlicht werden (vgl. Breidenstein 2012, S. 32). Das Resultat bilden schließlich „dichte Beschreibungen“, die als „vertextete, niedergeschriebene Beschreibungen“ (Wiesemann 2011, S. 177) das Beobachte in Sprache überführen.

  • Die Rolle und Reaktionen im Feld

Der Zugang zu der Klasse ergab sich vor allem dadurch, dass ich zur gleichen Zeit mein Praxissemester an der Grundschule absolvierte und dabei die im Feld untersuchte Klasse als Lehrer seit mehreren Wochen begleitete.

Als ich der Klassenlehrerin von meinem Forschungsvorhaben berichtete, begegnete sie diesem sehr offen und positiv. Vor allem in den letzten acht Wochen des Schuljahres 2020/2021 konnte ich die Schülerinnen und Schüler täglich während den Freiarbeitsphasen, die zeitlich vor der Zusammenkunft im Morgenkreis stattfand, teilnehmend beobachten und dabei Feldnotizen anfertigen. Ich habe mich bewusst für die teilnehmende Beobachtung und gegen die Videographie entschieden, da eine festpositionierte Kamera die unterschiedlichen Schüleraktivitäten und Interaktionen nicht detailliert hätte abbilden können.

Zunächst habe ich meine Erhebungen auf einer Sitzbank vor der Tafel durchgeführt. Der Ort wurde gewählt, da ich alle Schülerinnen und Schüler gut überblicken konnte. Doch schnell wurde mir bewusst, dass ich zu weit von demeigentlichen Geschehen, also den Schülerpraktiken und den Schülerinteraktionen, entfernt war. Deshalb habe ich gleich nach der ersten Erhebungswoche den Beobachtungsort gewechselt. Da mir bereits in der ersten Erhebungstagen aufgefallen ist, dass sich sehr viele Schülerinnen und Schüler in der Leseecke befanden, wollte ich diesen territorial abgegrenzten Bereich und die damit einhergehenden Handlungspraktiken näher untersuchen. Ich habe mir einen Stuhl genommen und mich mit Stift und Papierblock in die Leseecke gesetzt, wobei ich dennoch auch die anderen Bereiche der Klasse noch gut überblicken konnte.

Für die Schülerinnen und Schüler war meine Positionierung innerhalb der Leseecke zunächst eher befremdlich, da sie mich als Lehrer im Verlaufe meines Praxissemesters wahrgenommen haben, der auch in der Freiarbeitsphase als Interaktionspartner begleitend agierte. Somit war meine neue Rolle als teilnehmender aber auch passiver Forscher zunächst sehr polarisierend. Die Schülerinnen und Schüler in der Leseecke fragten mich vor allem am Anfang noch des Öfteren, was ich denn auf dem Block aufschreibe und warum ich das mache. Ich antwortete, dass ich mich dafür interessiere, wie in der Leseecke alles ablaufe und welche Regeln es dabei gebe. Außerdem wurde ich anfänglich noch häufig gefragt, ob ich bei bestimmten Aktivitäten in der Freiarbeit mitmachen wolle.

Doch im Verlaufe der Beobachtungsprozesses wurde meine Anwesenheit im Feld der Leseecke zunehmend ignoriert und die Rolle des Forschers folglich von den Probandinnen und Probanden positiv angenommen.

4.   Dichte Beschreibungen und Analytische Dimensionierung

  • Erhebung 1

Im Folgenden wird die Situation, die Beobachtung sowie die Analyse der ersten Erhebung dargelegt. Aufgrund des Anonymisierungsanspruchs handelt es sich bei den Namen der Kinder und der Lehrerin jeweils um Pseudonyme.

  • Die Situation

Die folgende Szene ereignet sich in der Freiarbeitsphase im Rahmen des offenen Anfangs. Dabei wurde auf die ethnographische Methode der teilnehmenden Beobachtung zurückgegriffen (vgl. Wagner-Willi 2005, S. 264). Da kein Kind am Tag der Erhebung fehlt und der Wechselunterricht seit einer Woche beendet ist, sind 25 Schülerinnen und Schüler sowie die Klassenlehrerin Frau Müller und die Förderpädagogin im Verlauf des Beobachtungsprozesses vertreten. Ich sitze mit Stift und Papier auf einem Stuhl innerhalb der Leseecke, wobei auch die anderen räumlichen Bereiche des Klassenzimmers in meinem Beobachtungssichtfeld liegen.

Bedingt durch die Coronapandemie herrschte zum Erhebungszeitpunkt eine Maskenpflicht, sodass die Beobachtung der Mimik nicht in vollem Umfang möglich war.

  • Die Beobachtung

Es ist 7:52 Uhr. Frau Müller und die Förderpädagogin sitzen auf einer Sitzbank des Bänkekreises und unterhalten sich. In der Leseecke befinden sich bereits fünf Kinder. Lisa und Lea stehen nebeneinander vor zwei Plastikkisten, die mit Sand gefüllt sind. Lea schöpft mit beiden Händen den Sand aus der einen Kiste in die andere Kiste. Lisa schaut ihr dabei zu und fragt Lea, ob sie am morgigen Ausflug im Bus neben ihr sitzen möchte. Lea antwortet zögernd: „Meine Mama hat gesagt, dass wir mit dem Zug fahren.“ Nils, der mit Ali und Jannis mit Bauklötzen am Boden einen Turm baut, unterbricht seine Tätigkeit. Er wendet seinen Blick nach oben zu den beiden Mädchen und teilt ihnen mit, dass seine Mama ihm auch gesagt habe, dass die Klasse morgen mit dem Zug fahren würde. Lea hüpft mit strahlend wirkenden Augen auf der Stelle und fragt anschließend Lisa: „Bist du schon einmal mit dem Zug gefahren?“ Lisa schaut kurz an die Decke und antwortet: „Ich glaube nicht.“ Lea teilt ihr mit, dass man im Zug auch zu viert sitzen könne. Anschließend fragt sie Lisa: „Wollen wir noch Anna und Ina fragen?“ Lea nickt mit dem Kopf und antwortet: „Ja. Lass die mal fragen.“ Lisa geht mit schnellen Schritten aus der Leseecke in Richtung Annas Tisch. Lea folgt ihr dicht dahinter.

Anna sitzt nach vorne gelehnt auf ihrem Sitzplatz, der sich direkt vor dem Lehrerpult befindet. Auf ihrem Tisch liegt ein Mäppchen. Sie hat die Arme verschränkt auf ihrem Mäppchen liegen und stützt ihr Kinn auf ihre verschränkten Unterarme. Als Lisa sie am Rücken antippt und sie anschließend anspricht, richtet Anna sich sitzend auf und dreht sich zu Lisa und Lea um. Wenige Sekunden später steht Anna auf und geht hinter Lea und Lisa her, die in Richtung Inas Tisch laufen. Auch Ina, welche gerade mit Mia das Spiel „Blinde Kuh“ spielt, wird von Lisa angesprochen. Kurze Zeit später reißt Lisa an Inas Arm. Ina versucht, sich zunächst mit ihrer anderen Hand loszulösen. Doch Lisa gelingt es, sie zum Aufstehen zu bringen. Lisa lässt Ina anschließend los und geht mit schnellen Schritten in Richtung Leseecke. Lea, Anna und Ina folgen ihr.

Mia räumt das Spiel „Blinde Kuh“ alleine auf und bringt es zurück an den entsprechenden Ort im Lernregal. Anschließend geht sie zurück auf ihren Sitzplatz und schaut Mark und Timo an, welche das Spiel „4-gewinnt“ spielen.

Anna und Ina sitzen inzwischen auf dem Lesesofa. Lisa steht vor dem Bücherregal und nimmt ein Hundebuch heraus. Sie setzt sich anschließend zwischen Lisa und Ina, die ihr einen Platz neben sich freigehalten haben, und schlägt eine Seite des Buchs auf. Ina, Anna und Lea schauen dicht an Lea sitzend auf die Buchseiten. Lisa blättert die Seite um, zeigt mit ihrem Finger auf eine Stelle und sagt: „Oh. Guck mal. Wie süß. So einen schwarzen Labrador habe ich auch.“ Lea teilt mit: „Ich habe eine kleine Katze zuhause.“ Anna ruft: „Ich auch, eine Braune.“

Wenige Sekunden später betritt Nadja die Leseecke. Sie geht auf das Lesesofa zu und setzt sich auf die rechte Lehne des Sofas neben Lea. Lisa schaut Nadja an und ruft lautstark: „Maske auf.“ Nadja, deren Maske sich unterhalb des Kinns befindet, zieht anschließend die Maske schnell über Mund und Nase. Lisa gibt anschließend Nadja zu verstehen, dass auf dem Lesesofa nur vier Kinder sitzen dürfen. Nadja steht sofort auf und geht auf das Bücherregal zu, welches sich innerhalb der Leseecke befindet. Sie starrt es wenige Sekunden an, dreht sich um und verlässt anschließend mit langsamen Schritten die Leseecke. Sie setzt sich auf ihren Sitzplatz und holt aus ihrem Schulranzen das Mäppchen heraus. Nadja öffnet dieses und schließt es danach wieder. Danach steht sie auf und geht an das Lernregal. Sie kniet sich vor das Lernregal und nimmt eine kleine Holzkiste heraus, in welcher sich Mikado-Stäbe befinden. Danach geht sie mit der Holzkiste in die Leseecke und setzt sich an den Tisch, der direkt vor einem Fenster platziert ist. Sie schaut zu den vier Mädchen auf dem Lesesofa und ruft lautstark: „Wer will mit mir Mikado spielen?“ Die Mädchen auf dem Lesesofa, welche sich immernoch das Hundebuch gemeinsam anschauen, blicken sofort zu Nadja. Lisa ruft zurück: „Niemand.“

Anschließend werfen alle vier Mädchen wieder den Blick in das Buch zurück. Nadja steht auf und verlässt mitlangsamen Schritten die Leseecke. Sie räumt das Mikado-Spiel wieder in das Lernregal zurück und geht auf ihren Sitzplatz zu. Sie setzt sich und öffnet ihr Mäppchen. Anschließend schaut sie die beiden Jungen Leon und Tim an, welche am Nachbartisch ein Puzzle zusammenlegen. Im gleichen Moment ertönt die Aufräummusik. Alle Kinder räumen sehr zügig die Freiarbeitsmaterialen in das Lernregal zurück und begeben sich danach in denMorgenkreis. Es ist inzwischen 8:00 Uhr.

  • Die Analyse

Zunächst handelt es sich um eine charakteristische Situation innerhalb der Freiarbeitsphase. Die Schülerinnen und Schüler sind im Gegensatz zum lehrerzentrierten Unterricht mit unterschiedlichen Tätigkeiten beschäftigt. Lea hantiert mit Sand und die drei Jungen Nils, Ali und Jannis bauen Türme aus Bauklötzen. Diese Aktivitäten vollziehen die Schülerinnen und Schüler innerhalb der Leseecke, sodass auch der Lernort flexibel gewählt wird. Während im lehrerzentrierten Unterricht der Stuhl und der Tisch als zugewiesene Arbeitsorte festgelegt sind (vgl. Göhlich und Wagner-Willi 2001, S. 156), so werden diese innerhalb der vorliegenden Freiarbeitsphase auch verlassen. Die beobachtete Sequenz kann somit als „dezentriert“ (Rademacher 2017, S. 39) beschrieben werden. Auch die Lehrerin Frau Müller tritt in der beobachteten Szene nicht in den Vordergrund, sodass die Schülerinnen und Schüler vor allem in der durch die Regale räumlich abgegrenzten Leseecke weitgehend unbeobachtet agieren können.

Wie bereits oben beschrieben hantiert Lea mit Sand, welcher sich in den beiden durchsichtigen Plastikkisten befindet. Bei näherer Betrachtung fällt jedoch auf, dass sie das Material, welches eigentlich dazu dient, Buchstaben und Zahlen in den Sand zu schreiben, zweckentfremdet verwendet. Sie schöpft mit beiden Händen den Sand aus einer Kiste in die andere. Lisa, die unmittelbar neben Laura steht, bleibt in der Situation passiv und schaut ihr dabei zu. Anschließend leitet sie mit der Frage, ob Lea am nächsten Tag auf dem Weg zum Ausflug neben ihr im Bus sitzen möchte, eine Diskussion ein, denn Lea ist eigentlich davon überzeugt, dass sie mit dem Zug fahren würden. Die Diskussion bindet auch andere Schülerinnen und Schüler in der Leseecke ein. Nils beendet seine aktuelle Tätigkeit (Turm bauen) und mischt sich in der Diskussion der beiden Mädchen ein, denn auch er ist der Auffassung, dass sie am nächsten Tag mit dem Zug fahren. Es entsteht somit ein Diskurs unter den Peers, der sich nicht auf das eigentliche Lernmaterial bezieht, sondern stattdessen Praktiken der Nebentätigkeiten (vgl. Breidenstein et al. 2017b, S. 206) hervorruft.

Die Thematik des Ausflugs bestimmt auch den weiteren Verlauf der Szene und verlässt sogar den Ort der Leseecke, denn die beiden Mädchen planen, Anna und auch Ina anzusprechen, die sich auf den ihnen zugewiesenen Sitzplätzen befinden. Anna sitzt mit verschränkten Armen vorgebeugt an ihrem Einzeltisch. Ihre Körperhaltung erzeugt eine eher untätige passive Wirkung. Auf ihrem Tisch befindet sich kein Freiarbeitsmaterial aus dem Lernregal, sondern lediglich ihr Mäppchen. Erst als Lisa sie am Rücken antippt und anschließend anspricht, verändert sie ihre Körperhaltung und verlässt anschließend ihren zugewiesenen Sitzplatz, indem sie den beiden Mädchen folgt.

Im weiteren Handlungsverlauf wird auch Ina angesprochen, die gerade dabei ist, mit Mia „Blinde Kuh“ zu spielen. Ina stoppt ihre Tätigkeit. Im Anschluss wird Ina von Lisa aus dem Stuhl gerissen, wobei sie sich anfänglich noch versucht, mit ihrer anderen Hand zu wehren und sich loszureißen. Die Tatsache, dass Ina jedoch anschließend den drei Mädchen ohne Resistenz in die Leseecke folgt, zeigt, dass sie sich von der Gruppendynamik offensichtlich beeinflusst lassen hat. Mia hingegen hat nun keinen Spielpartner mehr. Sie räumt das Material alleine auf und bringt es an den entsprechenden Ort im Lernregal. Anschließend setzt sie sich wieder auf ihren Sitzplatz und beobachtet passiv die beiden Jungen neben ihr, die das Spiel „4-gewinnt“ spielen.

Die vier Mädchen begeben sich auf das Lesesofa, wobei nur Lisa sich ein Buch aus dem Bücherregal in der Leseecke holt und in diesem blättert. Lea, Anna und Ina schauen ihr dabei zu. Sie wirken zunächst eher passiv. Als jedoch Lisa auf den Labrador zeigt, der ihrem eigenen von zuhause sehr ähnelt, betteiligen sich auch Ina und Lena an dem Gespräch bezüglich der Haustierthematik, indem sie davon berichten, dass sie hingegen eine Katze zuhause haben. Dieses Gespräch wird jedoch unterbrochen, als Nadja in die Leseecke kommt und sich aufdie Lehne des Sofas setzt, um vermutlich Peerkontakt zu den vier Mädchen aufzunehmen. Lisa geht jedoch sofort Nadja lautstark an, da sie ihre Maske nicht richtig trägt. Lisa verweist somit auf das verbindliche Regelwerk der Institution Schule. Als Nadja Lisas Anweisungen schließlich folgt und die Maske aufzieht, spielt Lisa eine weitere Regel der Freiarbeitsphase aus. Dabei handelt es sich um die Regel, dass nur vier Kinder auf dem Lesesofa sitzen dürfen. Lisa versucht, mittels der vereinbarten Regeln ihr Terrain zu verteidigen. Es entstehen somit Praktiken des Behauptens von bestimmten Terrains (vgl. Breidenstein et al. 2017a, S. 36). Nadja folgt erneut ihren Anweisungen, geht zum Bücherregal, starrt es für wenige Sekunden und verlässt anschließend die Leseecke. Ihr Handeln erzeugt eine eher unsichere Wirkung. Dies wird auch im weiteren Verlauf deutlich. Sie setzt sich auf ihren Sitzplatz, holt ihr Mäppchen aus dem Schulranzen heraus und öffnet dieses. Die Tatsache, dass sie jedoch das Mäppchen sofort danach wieder schließt, lässt vermuten, dass sie nicht wirklich weiß, was sie alleine machen kann. Im weiteren Handlungsverlauf startet sie erneut einen Versuch, um Peerkontakt zu den vier Mädchen auf dem Lesesofa herzustellen. Sie kehrt mit Mikado-Stäben in die Leseecke zurück und ruft lautstark: „Wer will mit mir Mikado spielen.“ Als Lisa jedoch „Niemand“ zurückruft und somit die Partizipationssuche verweigert, verlässt Nadja erneut die Leseecke, räumt das Material an den entsprechenden Ort des Lernregals und setzt sich auf ihren eigenen Sitzplatz, wo sie passiv die beiden Jungen an ihrem Nebentisch beobachtet, welche ein Puzzle zusammenlegen.

Es fällt auf, dass der eigene Sitzplatz zwar in der Freiarbeitsphase oft verlassen wird, doch immer wieder als Ausgangspunkt aufgesucht wird.

  • Erhebung 2

Im Folgenden wird die Situation, die Beobachtung sowie die Analyse der zweiten Erhebung dargestellt. Bei den Namen der Kinder und der Lehrerin handelt es sich wieder um Pseudonyme.

  • Die Situation

Die folgende Szene ereignet sich erneut in der Freiarbeitsphase im Rahmen des offenen Anfangs. Da zwei Kinder am Tag der Erhebung fehlen, sind 23 Schülerinnen und Schüler, die Klassenlehrerin Frau Müller und die Schulbegleitung im Verlauf des Beobachtungsprozesses vertreten. Ich sitze, wie bereits in Erhebung 1 beschrieben, mit Stift und Papier auf einem Stuhl innerhalb der Leseecke.

Auch an diesem Erhebungstag galt die Maskenpflicht, wodurch erneut die Beobachtung der Mimik erschwertwurde.

  • Die Beobachtung

Es ist 7:53 Uhr. Es befinden sich sechs Kinder in der Leseecke. Jonas und Ali bauen am Boden sitzend Türme aus Bauklötzen. Jannis und Nils sitzen an dem Tisch in der Leseecke und spielen mit Mikado-Stäben. Lea und Ina liegen ohne Buch in der Hand nebeneinander auf dem Lesesofa. Die Beine der beiden Mädchen liegen ebenfalls auf dem Sofa auf, wobei sie jeweils ihre Schuhe ausgezogen haben. Lea liegt mit ihrem Kopf auf der einen Lehne des Sofas und starrt mit geöffneten Augen an die Decke. Ina liegt mit ihrem Kopf spiegelverkehrt auf der anderen Lehne des Sofas und hat ihre Augen geschlossen. Es findet kein Gespräch zwischen den beiden Mädchenstatt.

Theo betritt die Leseecke und stellt sich hinter Jannis und Nils. Er beobachtet sie einige Sekunden und fragtanschließend, ob er mitspielen könne. Jannis verneint mit den Worten: „Das Spiel geht nur zu zweit.“ Theo dreht sich anschließend um und schaut zu Ali und Jonas, die am Boden mit Bauklötzen spielen. Er kniet sich zwischenAli und Jonas und fragt diese: „Kann ich mitspielen?“ Ali antwortet mit dem Kopf nickend mit „Ja“ und teilt Theo mit, dass sie Türme bauen und diese anschließend wieder zerstören würden.

Ali schiebt die Kiste, in der sich viele bunte Bauklötze befinden, in Theos Nähe. Theo greift mit beiden Händen einige Bauklötze heraus und lagert sie rechts neben sich auf den Boden. Anschließend legt er die ersten Bauklötze aufeinander. Nachdem er diese gestapelt hat, greift er mit beiden Händen weitere Bauklötze aus der Kiste und legt sie erneut rechts neben sich auf den Boden. Unmittelbar danach ruft Jonas mit einem starren Blick und einem bestimmenden Ton Theo zu: „Nein Theo. Wir brauchen auch noch Steine.“ Theo schaut Jonas kurz in die Augen und wendet danach seinen Blick auf den Boden. Er antwortet leise: „Okay“ und legt anschließend einen Anteil seiner Bauklötze wieder in die Kiste zurück. Die zurückgelegten Bauklötze nimmt Jonas sofort aus der Kiste heraus und legt diese auf die oberste Ebene seines Turmes auf. Es befinden sich nunkeine Bauklötze mehr in der Kiste. Jonas Turm ist deutlich größer als die Türme der anderen drei Jungen.

Ali schaut zu Theo und teilt ihm mit, dass er anfangen solle, seinen Turm zu zerstören. Theo holt sofort mit seinem Arm aus und wirft mit seiner Handfläche den Turm um. Danach steht Ali auf und ruft: „Guck mal, wie ich jetzt meinen Turm umbringe.“ Er nimmt ein paar Schritte Anlauf und tritt mit seinem rechten Fuß den Turm um. Dabei fliegen die einzelnen Bauklötze durch die gesamte Leseecke. Theo und Jonas fangen lautstark an zu lachen. Ali schaut nun Jonas an und fordert ihn auf, seinen Turm zu zerstören. Doch Jonas sagt: „Ich will meinen Turm nicht zerstören.“ Ali antwortet: „Du musst das machen.“ Jonas erwidert: „Ich will das nicht.“ Ali entgegnet sofort: „Dann zerstöre ich den.“ Er rutscht mit den Knien in Richtung Jonas Turm, doch Jonas legt sich davor. Vermutlich möchte er seinen Turm dadurch schützen. Doch Ali schubst Jonas mit beiden Händen, sodass Jonas gegen seinen eigenen Turm stößt und dieser umfällt. Jonas stellt sich sofort aufrecht hin, schaut Ali tief in die Augen und ruft zornig: „Das sage ich Frau Müller!“ Er verlässt sofort die Leseecke und spricht Frau Müller an, die sich am Lehrerpult sitzend mit der Schulbegleitung unterhält.

Kurze Zeit später kommt Frau Müller in die Leseecke und teilt Theo und Ali mit, dass die Bauklötze zum Bauen und nicht zum „Quatsch-machen“ da seien. Sie fordert Theo und Ali auf, dass sie jetzt die Bauklötze sofort in die Kiste zurückräumen und sich etwas anderes „zum Arbeiten“ suchen sollen. Theo und Ali schauen Frau Müller mit aufgerissenen Augen an und antworten leise: „Okay.“ Anschließend verlässt Frau Müller die Leseecke und setzt sich zurück an das Lehrerpult.

Theo und Ali sammeln die am Boden verteilten Bauklötze nach und nach auf und legen sie in die Kiste zurück. Als alle Bauklötze sich wieder in der Kiste befinden, hebt Ali diese hoch und räumt sie in das Lernregal zurück. Theo setzt sich auf das Lesesofa, auf welchem sich inzwischen keine Kinder mehr befinden. Kurze Zeit später kehrt Ali zurück in die Leseecke und setzt sich neben Theo auf das Lesesofa. Noch während die beiden Jungen auf dem Lesesofa ohne Buch in der Hand Jannis und Nils beobachten, welche immer noch das Spiel „Mikado“ spielen, ertönt die Aufräummusik. Ali und Theo verlassen die Leseecke und setzen sich in den Morgenkreis. Alle anderen Kinder räumen zügig die Freiarbeitsmaterialien in das Lernregal zurück und begeben sich danach ebenfalls in den Morgenkreis. Es ist inzwischen 8:01 Uhr.

  • Die Analyse

Zunächst kann wie bereits in Erhebung 1 festgestellt werden, dass die Schülerinnen und Schüler mit unterschiedlichen Tätigkeiten beschäftigt sind und dass auch die Lernorte innerhalb der Leseecke sich grundlegend unterscheiden. Lea und Ina liegen auf dem Lesesofa, Jannis und Nils sitzen an einem Tisch in der Leseecke und spielen das Spiel „Mikado“ und Ali und Jonas bauen am Boden mit Bauklötzen Türme. Die Situation kann demnach als „dezentriert“ (Rademacher 2017, S. 39) bezeichnet werden. Die Lehrerin Frau Müller führt in der beobachteten Szene am Lehrerpult ein Gespräch mit der Schulbegleitung, sodass die Schülerinnen und Schüler erneut unbeobachtet agieren können.

Werden die Tätigkeiten der Schülerinnen und Schüler jedoch genauer unter die Lupe genommen, so kannkonstatiert werden, dass Lea und Ina das Lesesofa als Ort nutzen, an welchem sich entspannt werden kann. Sie liegen ohne Buch in der Hand auf dem Sofa, wobei sie sogar ihre Schuhe ausgezogen haben. Das Lesesofa, das eigentlich dem Lesen dienen soll, wird somit zweckentfremdet genutzt und zwar als Erholungsort.

Im weiteren Handlungsverlauf betritt Theo die Leseecke, stellt sich hinter Jannis und Nils und fragt diese, ob er mitspielen kann. Die Wortwahl des Mitspielens macht deutlich, dass er förmlich den Peerkontakt sucht und bereitist, auch nach diesem zu fragen. Doch Jannis verneint mit den Worten „Das Spiel geht nur zu zweit“. Bei näherer Analyse des Spiels „Mikado“ fällt jedoch auf, dass das Spiel nicht nur zu zweit gespielt werden kann. Es deutet also darauf hin, dass die Regel „Das Spiel geht nur zu zweit“ in der Situation selbst von Jannis aufgestellt wurde,um Theos Partizipation bewusst abzulehnen.

Theo wendet sich schließlich von den beiden Jungen ab und beobachtet Ali und Jonas, die am Boden mit Bauklötzen spielen. Anschließend startet Theo einen neuen Versuch, bei einer Peertätigkeit mitzuwirken. Er kniet sich zwischen die beiden Jungen und wählt wie bereits bei dem ersten Versuch die Worte „Kann ich mitspielen“. Diesmal hat sich sein Bemühen ausgezahlt, denn Ali bejaht seine Frage. Ali involviert Theo sogar sehr schnell, indem er ihm die Spielregeln des selbstkonzipierten Spiels erläutert. Dabei handelt es sich um die Regel, dass die gebauten Türme anschließend wieder zerstört werden müssen. Dies ist zunächst eine charakteristische Handhabung des Materials. Denn um die Bauklötze wieder später in die Kiste einräumen zu können, müssen die gebauten Türmezerstört werden. Doch der weitere Verlauf der Szene zeigt, dass Ali mit dem Wort „Zerstörung“ tatsächlich eine Zerstörung assoziiert hat. Er nimmt Anlauf und tritt mit seinem Fuß den Turm um, sodass die Bausteine in der gesamten Leseecke verteilt werden. Die anschließende Reaktion des Kicherns von Theo und Jonas zeigt, dass sie seine Handlung offensichtlich sehr amüsant finden.

Als Theo die letzten Steine für seinen eigenen Turm sich sichern wollte, greift Jonas mit den Worten „Nein Theo. Wir brauchen auch noch Steine“ direktiv ein. Die Szene zeigt, dass die Schülerinnen und Schüler Aushandlungsprozesse tätigen müssen, die konstitutiv für die Freiarbeitsphase sind. Aufgrund des begrenzten Materials werden Fähigkeiten wie Kommunizieren und Teilen gelernt (vgl. Potthoff 1995, S. 68). Denn es gibt nur eine bestimmte Anzahl von Bauklötzen. Warum jedoch Jonas das Personalpronomen „Wir“ benutzt, wird nicht ganz deutlich. Denn als Theo auf seine Anweisung eingeht und die Steine zurück in die Kiste legt, nimmt sich Jonas alle zurückgelegten Steine für seinen eigenen Turm.

Die Situation spitzt sich weiter zu als Jonas verweigert, seinen eigenen Turm zu zerstören. Ali besteht jedoch auf die selbstkonzipierte Spielregel und fordert Jonas auf, seinen Turm zerstören zu müssen. Als dieser jedoch erneut die Forderung verweigert und sogar körperlich seinen Turm verteidigt, schubst ihn Theo, sodass der Turm umfällt. Es entstehen somit „Machtverhältnisse“ (Wagner-Willi 2005, S. 193) und körperliche Auseinandersetzungen zwischen den Peers, wobei die Machtverhältnisse sich auf die Macht über das Freiarbeitsmaterial beziehen. Die anschließende zornige Reaktion Jonas‘ und der zielstrebige Gang zu Frau Müller macht die eigentlich unentdeckte und illegitime Handlungspraktik der drei Jungen nun öffentlich. Denn Frau Müller geht in die Leseecke und teilt Theo und Ali mit, dass sie die Bauklötze sofort wegräumen und sich etwas anderes zum „Arbeiten“ suchen sollen. Die Lehrerin wählt in der Situation den Begriff des „Arbeitens“. Dieser Begriff wird somit von der Lehrerin funktional genutzt, um eine sachbezogene Tätigkeit (Bauen mit Bauklötzen) von einer Nebentätigkeit („Quatsch-machen“) auch verbal abzugrenzen. Doch die anschließende Tätigkeit von Ali und Theo lässt vermuten, dass diese nicht wissen, was die Lehrerin mit der Wortwahl des Arbeitens meint. Die beiden Jungen sitzen anschließend ohne Buch in der Hand auf dem Lesesofa und beobachten passiv die beiden Jungen Jannis und Nils, welche immer noch das Spiel „Mikado“ spielen. Da das Beobachten anderer Kinder innerhalb der Freiarbeitsphase je- doch keine sachbezogene Tätigkeit darstellt, wird in dieser Situation die Ambivalenz zwischen den realen Schülertätigkeiten und den von der Lehrkraft geforderten Schülertätigkeiten in der Freiarbeitsphase deutlich.

Auch bei der Gesamtbetrachtung der Tätigkeiten innerhalb der Leseecke fällt auf, dass die Tätigkeiten nicht unbedingt mit Arbeiten in Verbindung gebracht werden können, denn die Schülerinnen und Schüler nutzen ihreArbeitszeit für „nicht-sachbezogene oder sonstige Tätigkeiten“ (Lipowsky 1999, S. 149).

5.   Zusammenfassung, Diskussion und Fazit

Das Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die Tätigkeiten der Schülerinnen und Schüler in der Freiarbeitsphasegenauer zu untersuchen und dabei insbesondere den Fokus auf das Verhältnis zwischen sachbezogener Tätigkeit, Nebentätigkeit und Untätigkeit zu richten. Da das Feld der Nebenbeschäftigungen auf der Grundlage der aktuellen Forschungsliteratur noch sehr unerforscht ist (vgl. Breidenstein et al. 2017b, S. 206), sollten die dargestellten Beobachtungsanalysen einen Beitrag dazu leisten, sich diesem Desiderat genauer zu widmen. Esging dabei vorwiegend um die qualitative Analyse, wie die Freiräume, welche sich durch die Freiarbeit ergeben, von den Teilnehmenden im Feld der Leseecke genutzt werden.

Bei dem Vergleich der oben dargelegten Beobachtungsanalysen lassen sich folgende Handlungspraktikenableiten.

Zunächst einmal gilt festzuhalten, dass das Arbeiten innerhalb der Leseecke einen Arbeitsort darstellt, der im Kontrast zum lehrerzentrierten Unterricht steht und von den Schülerinnen und Schülern auch bevorzugt genutzt wird. Es gibt keinen anderen Ort innerhalb des Klassenraums, an welchem so viele Schülerinnen und Schüler auf einer kleinen Fläche agieren und interagieren. Die Beobachtungen zeigen, dass die Anzahl der Kinder, die sich in der Leseecke aufhalten dürfen, nicht limitiert ist, sodass der Ort der Leseecke flexibel aufgesucht, aber auch wieder verlassen werden kann. Lediglich in Bezug auf das Lesesofa gibt es eine maximale Begrenzung von vier Personen. Diese Regel wurde von Lisa bewusst ausgenutzt, um das Terrain des Lesesofas zu behaupten und die Partizipation einer Schülerin zu verweigern. Die Praktiken des Behauptens bestimmter Terrains konnten auch Breidenstein und Rademacher (2017b) in ihren ethnographischen Beobachtungen feststellen.

Wenn die Leseecke verlassen wird, so suchen die Probandinnen und Probanden in beiden Erhebungen jeweils ihren zugewiesenen Sitzplatz auf. Der Sitzplatz dient somit auch innerhalb der Freiarbeitsphase als Ausgangspunkt, der zwar verlassen, aber nach Beendigung einer Arbeit immer wieder aufgesucht wird.

Bei den beobachteten Tätigkeiten innerhalb der Leseecke handelt es sich vorwiegend um Spielaktivitäten und manuelle Tätigkeiten, wie beispielsweise das Bauen mit Bausteinen, Puzzlen oder auch das Hantieren mit Sand. Die Beobachtungen bestätigen somit die Ergebnisse Lipowskys (1999). Kognitiv anspruchsvollereTätigkeiten, welche das Problemlösen oder auch das entdeckende Lernen fördern, fehlen in den beobachteten Sequenzen gänzlich, sodass die Praktiken innerhalb der Leseecke eher dem „Freispiel“ (ebd., S. 21) als der Freiarbeit zugeordnet werden können. Da jedoch das Spielen in der Freiarbeit in der Klasse auch vonseiten der Lehrerin legitimiert wird und es sogar einen eigenen Bereich im Lernregal gibt, der explizit für Spiele eingerichtet ist, sollte das Spielen dennoch als sachbezogene Tätigkeit und weniger als Nebentätigkeit beschrieben werden. Denn im Spiel können Kompetenzen, wie beispielsweise das Warten, das Verlieren und die Einhaltung von Regeln erworben werden, die auch für das Arbeiten in der Freiarbeitsphase wichtig sind (vgl. Petillon 2002, S. 7).

Eine weitere Handlungspraktik, die in beiden Beobachtungsanalysen vermehrt auftrat, ist die zweckentfremdete Verwendung der Lernmaterialien und Gegenstände. Sandkisten wurden genutzt, um den Sand von einem Behälter in den anderen zu transportieren. Bauklötze wurden genutzt, um sie mit dem Fuß durch die Leseecke zu schießen. Das Lesesofa diente mehr der Entspannung und Peerkommunikation als dem Lesen, und auch das Buch taugte eher dem Blättern als dem Lesen. Die zweckentfremdete Verwendung von Requisiten stellte bereits Wagner-Willi (2005) während der Übergangsphase von der Pause zum Unterricht fest. Diese Praktiken „werden situativ ihrer institutionellen Funktion beraubt, zweckentfremdet und in einem antistrukturellen Rahmen von Fun und Action gestellt“ (ebd., S. 289). Die Autorin ordnet die zweckentfremdete Verwendung der Materialien den „konjunktiven Ritualen“ (ebd., S. 289) zu, welche der Differenzmarkierung gegenüber der sozialen Identität einerSchülerin oder eines Schülers dienen. Inwiefern die Ergebnisse Wagner-Willis auf die Probandinnen und Probanden innerhalb der Freiarbeitsphase übertragen werden können, ist aufgrund des bisher begrenzten Forschungsstandes noch nicht abschätzbar. Doch die oben aufgeführten Beobachtungsanalysen zeigen, dass eine zweckentfremdete Verwendung der Lernmaterialien auch in der Freiarbeit vorzufinden ist. Festgehalten werdenkann jedenfalls, dass es sich bei den zweckentfremdeten Praktiken weniger um sachbezogene Tätigkeiten handelt, sodass diese den Nebentätigkeiten zugeordnet werden können.

Außerdem konnten nicht-sachbezogene Peergespräche beobachtet werden. Vor allem in der ersten Beobachtungsbeschreibung bestimmt ein Thema den gesamten Handlungsvorgang der Schülerinnen und Schüler innerhalb der Leseecke, nämlich die Diskussion, ob der anstehende Ausflug mit dem Zug oder dem Bus erfolgt. Zunächst findet die Diskussion nur zwischen den beiden Mädchen statt. Doch aufgrund der räumlich kleinen Fläche der Leseecke erreicht die Diskussion auch andere Peers, die eigentlich mit anderen Tätigkeiten beschäftigt sind und diese anschließend stoppen, um an der Diskussion teilzunehmen. Lähnemann (2009, S.219) verweist im Kontext der Peerkommunikation auf den Begriff des „Quatschens“, „der gegenüber der Schule die Assoziation des Verbotenen hat; denn im konventionellen Unterricht ist ‚Quatschen‘ ein Regelverstoß.“ Die Autorin macht darauf aufmerksam, dass das Quatschen im Freiarbeitsunterricht notwendig ist, um sach- und inhaltsbezogen über die Lernmaterialien sich austauschen und unterstützen zu können (vgl. ebd., S. 219). Die oben dargelegten Beobachtungsanalysen zeigen jedoch, dass die Peerkommunikation zumindest innerhalb der Leseecke meist eher nicht-sachbezogene Gespräche hervorbrachte und somit den Praktiken der Nebentätigkeiten zugeordnet werden sollten.

Des Weiteren konnten passive Praktiken des Zuschauens aber auch Praktiken des Nicht-Tuns beobachtet werden. Die Beobachtungen bestätigen somit die Ergebnisse Garlichs (1990) und Lipowskys (1999). Auch in den oben dargelegten Beobachtungsanalysen gibt es Schülerinnen und Schüler, die aufgrund ihrer Körperhaltung antrieblos wirkten und kein Material aus dem Lernregal wählten. Es lässt sich festhalten, dass zwar passives Verhalten und Untätigkeit in den oben dargelegten Beschreibungen zu beobachten sind, jedoch sollte der Blick vor allem dahin ausgerichtet werden, warum die Schülerinnen und Schüler untätig sind. Aus den Beobachtungenkann geschlossen werden, dass einige Schülerinnen und Schüler tätig sein wollten und Peerkontakt und Partizipation gesucht haben, jedoch durch Zurückweisungen anderer Peers nicht teilnehmen konnten und erst danach ein passives untätiges Verhalten zeigten. Für einen lernförderlichen Unterricht bedeutet dies, dass die Lehrerinnen und Lehrer genau hinschauen müssen, um auch die Gründe für untätiges Verhalten in der Freiarbeitsphase verstehen zu können. Kritikerinnen und Kritiker der Freiarbeit schließen aus der Untätigkeit der Teilnehmenden, dass Grundschülerinnen und Grundschüler mit der Freiheit überfordert sind (vgl. Gervé 1997, S. 47f.). Allerdings wird bei dieser Kritik vergessen, dass auch im lehrerzentrierten Unterricht Schülerinnen und Schüler innerlich eine Arbeitspause einlegen (vgl. Bartnitzky 1989, S. 2). Jedoch fällt der Untätige in der Freiarbeitsphase eher auf als im traditionellen Unterricht (vgl. Potthoff 1995, S. 106f.).

In den Beobachtungen konnten zudem Praktiken der Zusammenarbeit unter den Peers festgestellt werden. Vor allem die freie Wahl der Sozialform eröffnet den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit, in Partnerarbeit oder sogar in Gruppenarbeit zu interagieren, wodurch in Anlehnung an Lähnemann (2009, S. 10) die Kooperationsfähigkeit gefördert wird. Doch die erhobenen Beobachtungen zeigen, dass die Partnersuche auch Ausgrenzungspraktiken hervorrufen kann. Vermehrt konnte in den dichten Beschreibungen festgestellt werden, dass die Frage nach der „Mitspielmöglichkeit“ von bestimmten Schülerinnen und Schülern explizit abgelehnt wurde. Diese Praktiken gilt es, ernst zu nehmen. Der Fall von Nadja zeigt, dass eine Ablehnung und Ausgrenzung anderer Peers die Motivation des Tätigseins und Kooperierens so beeinflussen kann, dass ein Kind aufgibt und in eine Passivität hineingelangt.

Auch wenn die Untersuchung der Praktiken der Lehrkraft nicht das vorrangige Ziel der vorliegenden Arbeit ist, so zeigen die Beobachtungen dennoch, dass die Lehrkraft oft mit anderen Tätigkeiten beschäftigt war und die Schülerinnen und Schüler vor allem in der Leseecke weitgehend unbeobachtet agierten. Zudem wurde die Lehrkraft auch von den Schülerinnen und Schülern nicht in Anspruch genommen. Die Schülerinnen und Schüleragierten selbsttätig, in Gruppenarbeit oder blieben passiv, wobei jede Hilfe- leistungen vonseiten der Lehrkraft ausblieben. Auch verbindliche Regeln wurden von den Schülerinnen und Schülern selbst zur Lösung von Problemen herangezogen, sodass die sachbezogenen Tätigkeiten, Nebentätigkeiten sowie Untätigkeiten innerhalb der Leseecke von der Lehrerin unbemerkt blieben. Lediglich in Erhebung 2 wurde die Lehrerin von einem Schüler involviert, da dieser geschubst wurde und anschließend sein selbstgebauter Turm umfiel. Erst jetztwurden die eigentlich unentdeckten und illegitimen Handlungspraktiken der Schülerinnen und Schüler innerhalb der Leseecke öffentlich. Der anschließende Verweis der Lehrkraft auf den Begriff der „Arbeit“ und die darauffolgende passive Schülerpraktik des Zuschauens macht das ambivalente Verhältnis zwischen sachbezogener Tätigkeit, Nebentätigkeit und Untätigkeit deutlich, welches von den Teilnehmenden zumeist different verstanden wird. Die Lehrerin fordert zwar sachbezogene Tätigkeiten auf, doch die realen Praktiken der Schülerinnen und Schüler weisen im Feld der Leseecke in der Regel Nebentätigkeiten und Untätigkeit auf.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass innerhalb der beobachteten Stichprobe und insbesondere in der Leseecke vermehrt untätiges, nebentätiges und zweckentfremdetes Verhalten beobachtet werden konnte, welches ohne die ethnographische Untersuchung vermutlich unentdeckt geblieben wäre. Bei den sachbezogenen Tätigkeiten handelte es sich vorwiegend um Spielhandlungen, die zwar vor allem soziale Fähigkeiten fördern, jedoch weniger entdeckende und problemlösende Prozesse ansprechen. Für die zukünftige Schulpraxis bedeutet dies, dass die Lehrkräfte gezielt darauf achten sollten, dass die Lernenden nicht nur Spielaktivitäten wählen, sondern sich auch zumuten, kognitiv anspruchsvollere Materialen zu bearbeiten. Es wichtig, dass die Lehrkraft auch innerhalb der Freiarbeitsphase als Lernbegleitung agiert und die Schülerinnen und Schüler bei ihren Tätigkeiten unterstützt. Dabei sollten die Erwartungen der Lehrkraft an die Schülerinnen und Schüler in Bezug auf die Freiarbeitsphase klar kommuniziert werden. Dies könnte auch dazu beitragen, dass untätiges bzw. nebentätiges Verhalten in der Leseecke minimiert werden kann.

Es sollte jedoch darauf hingewiesen werden, dass es sich bei der beobachteten Klasse um eine vergleichsweisekleine Stichprobe handelt, wodurch die Ergebnisse nicht sofort generalisiert werden dürfen. Dafür bräuchte es eine umfassendere Studie mit umfangreicheren Beobachtungserhebungen. Die Ergebnisse dürfen demnach nicht als allgemeingültig betrachtet werden. Jedoch zeigen die Gemeinsamkeiten der beiden Beobachtungsanalysen, dass die Ergebnisse auch keinen Einzelfall darstellen. Es wird demnach der Bedarf künftiger Langzeitstudien deutlich, die das Feld der Handlungspraktiken in der Freiarbeitsphase und speziell innerhalb der Leseecke weiter untersuchen und dabei die Mikroprozesse fokussieren. Denn es geht darum, die realen Tätigkeiten, Nebentätigkeiten aber auch die Untätigkeit der Schülerinnen und Schüler zu beobachten und zu verstehen, um auf dieser Grundlage didaktische Konsequenzen abzuleiten und den Freiarbeitsunterrichtlernförderlich weiterzuentwickeln.

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Wie „machen“ Kinder und Lehrkräfte den Unterrichtsanfang während der Corona-Pandemie? (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Inhalt

  • Einleitung
  • Dichte Beschreibung und analytische Dimensionierung
    • Die Situation
    • Dichte Beschreibung eines Unterrichtsbeginns einer ersten Schulstunde
    • Analytische Dimensionierung: Die Perspektive der „Kinder Akteur*innen“
  • Fazit
  • Literaturverzeichnis

Einleitung

„Sich mit dem schulischen Alltag aus der Perspektive von Kindern zu beschäftigen, bedeutet, den sozialen Prozessen in der Schulklasse eine größere Bedeutung bei zu messen“ (Heinzel, 2012, S.179). In dieser Arbeit soll anhand einer ethnographischen Analyse eines Unterrichtsbeginns einer ersten Stunde während des Wechselunterrichts in der Coronapandemie die Perspektive des Kindes als Akteur*in der Situation und dessen Interaktion innerhalb seiner Peergroup sowie mit der Lehrkraft genauer betrachtet werden. Es handelt sich um eine alltägliche Übergangssituation, die aktuell stark durch geltende Coronaschutzmaßnahmen geprägt ist. Obwohl es in der Forschung umstritten ist, ob es einem als Erwachsenen gelingt die Perspektive der Kinder überhaupt angemessen zu rekonstruieren (vgl. ebd. S.180, angelehnt an Honig, 1999; Hülst 2000), soll es in dieser Arbeit versucht werden.

Heinzel stellt heraus, dass die Aufmerksamkeit der Kinder im „Spannungsverhältnis zwischen der kommunikativ-generalisierten Unterrichtsordnung und der durch viele verschiedenen Dimensionen anders gekennzeichneten Peerkultur“ steht (Heinzel, 2012, S.178). Wagner-Willi bedient sich zur Beschreibung der Perspektiven einer Theatermetaphorik, der Vorder- und Hinterbühne (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.58ff.). Das Klassenzimmer kann hiernach als Vorderbühne dienen, wenn die Lehrkraft im Raum ist und die Unterrichtsordnung im Vordergrund steht, gleichzeitig kann im Klassenzimmer eine Hinterbühne entstehen, wenn die Lehrkraft abwesend ist oder peerkulturelle Rituale entstehen (vgl. ebd.).

Dem Beginn des Unterrichts geht meist ein rituelles Signal als Auslöser für einen „Szenenwechsel“ voraus (Wagner-Willi, 2001, S.60), denn Unterricht beginnt nicht direkt nach Eintreten der formalen Kriterien, dem Beginn der Unterrichtszeit oder dem Eintritt in den Klassenraum, sondern muss zudem durch soziale Interaktionen handlungspraktisch hergestellt werden (vgl. Wolf, 2020, S.9; Wagner-Willi, 2018, S.59). Diese Übergangsphase vom Ankommen in der Schule hin zur Herstellung der Unterrichtsbereitschaft nennt Wagner- Willi nach Victor Turner „Schwellenphase“ (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.120). In dieser Schwellenphase treffen die peerkulturell geprägten Handlungen und Normen der Schüler*innen auf der Hinterbühne auf die schulischen Unterrichtsanforderungen der Vorderbühne, und es entsteht ein „Durcheinander“, in dem weder die Regeln der Peergroup noch die des Unterrichts vollständig gelten (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.59). In der Schwellenphase lassen sich Praktiken erkennen, die der Herstellung der Unterrichtsbereitschaft dienen. Von Seiten der Schüler*innen ist dies beispielsweise das Einnehmen des eigenen Sitzplatzes (vgl. Rabenstein/Rehe, 2010, S.71). Eine Praktik der Lehrkräfte ist es, sich vor die Tafel zu stellen und den Blick auf die Schüler*innen zu richten (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.60; Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.144ff.). Häufig dienen Rituale oder ritualisierte Handlungen als Unterstützung um die unterrichtliche Ordnung herzustellen. Hierrunter versteht man wiederkehrende, interaktive Handlungsmuster, die die unterrichtliche Ordnung hervorbringen und festigen (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2010, S.120).

Dichte Beschreibung und analytische Dimensionierung

Die Situation

Die Beobachtung findet in einer jahrgangsübergreifenden Schuleingangsklasse statt, in der Kinder der ersten und zweiten Jahrgangsstufe gemeinsam unterrichtet werden. Aktuell findet Wechselunterricht statt, weshalb die Klasse gemäß der Jahrgangsstufen in zwei Lerngruppen geteilt ist. Die Lerngruppen werden tageweise abwechselnd in der Schule oder Zuhause unterrichtet. Zum Zeitpunkt der Beobachtung beginnt der Schultag der Erstklässler*innen in ihrem Klassenraum, der am Vortag von den Zweitklässler*innen der Klasse genutzt wurde. Zum Beobachten sitze ich hinten rechts in der Ecke des Klassenraumes an dem freien Tisch eines Zweitklässlers. Die Tür und das Waschbecken sind vorne in der rechten Ecke, die Fensterfront ist an der linken Seite des Raumes. Vorne befindet sich die Haupttafel und hinten gibt es eine weitere Tafel, an der der Tagesplan hängt. Die Tische stehen nach vorne ausgerichtet in Reihen, sowie je eine Reihe entlang der linken und rechten Wand. Es sitzen Erst- und Zweitklässler*in abwechselnd, so dass immer ein Platz zwischen den Kindern einer Lerngruppe frei bleibt. Die Klassentür ist geöffnet und alle Fenster sind gekippt. Obwohl gelüftet wird, ist es so warm im Klassenraum, dass ich keine Jacke benötige. Alle Personen tragen aufgrund der Coronaschutzregeln eine Maske. Die dichte Beschreibung der Beobachtung betrachtet die Handhygiene beim Eintritt in den Klassenraum und die ersten Minuten bis zum Beginn der Tagesplanvorstellung.

Dichte Beschreibung eines Unterrichtsbeginns einer ersten Schulstunde

  • Zuerst betritt die Lehrkraft den Raum, nimmt den Desinfektionsmittelspender von einem kleinen Tisch nahe der Tür und dreht sich zu den Kindern. Diese stehen in einer Zweierreihe auf dem Gang vor der Tür. Die ersten beiden Kinder bleiben im Türrahmen stehen und strecken ihre Hände zu einer Schüssel geformt nach vorne. Die Lehrkraft gibt jedem Kind einen Pumpstoß Desinfektionsmittel auf die entgegengestreckten Hände. Ein Großteil der Kinder geht händereibend und untereinander unterhaltend oder stillschweigend weiter zu den eigenen Plätzen. Manche Kinder wischen ihre Hände nur kurz aneinander oder schütteln sie nachdem sie an der Lehrkraft vorbei gegangen sind, statt das Desinfektionsmittel länger zu verreiben. Janosch und Ben1 biegen, als sie in der Tür stehen, zum Waschbecken neben der Tür ab. Anstatt zu desinfizieren, waschen sie nacheinander ihre Hände und gehen auch zu ihren Plätzen, während sie sich miteinander unterhalten. Die Klasse wirkt entspannt und es werden keine Fragen zum Ablauf an die Lehrkraft gerichtet. Jedes Kind nimmt zuerst seinen Stuhl vom Tisch und stellt seinen Ranzen neben oder hinter den eigenen Stuhl. Ein paar Kinder ziehen ihre Jacken aus und hängen sie über ihren oder den benachbarten leeren Stuhl. Drei lassen sie auf den Boden neben den Ranzen fallen. Viele Kinder stellen die Stühle der Sitznachbarn herunter, die heute im Distanzunterricht sind. Es herrscht ein allgemeines Gemurmel in der Klasse. Ich kann die einzelnen Gespräche nicht verstehen. Nachdem alle Kinder eingetreten sind schließt die Lehrkraft die Klassenzimmertür, geht vor die Tafel und sagt mit schweifendem Blick durch die Klasse: „So, dann zieht mal bitte alle eure Jacken aus“. Die meisten Kinder sitzen auf ihren Stühlen. Ein paar stehen neben oder vor ihren Stühlen und lehnen sich auf den Tisch. Ein Kind setzt sich schnell auf den eigenen Platz, als die Lehrkraft beginnt zu sprechen. Fast alle verbleibenden Kinder in einer Jacke, ziehen diese jetzt aus. Die Gespräche der Kinder untereinander werden weniger. Janosch, der in der ersten Reihe zwischen seinem Tisch und Stuhl steht, ruft mit Blick auf die Tafel: „Warum sind da so Zahlenhäuser?“ und zeigt auf die bunten Zahlenhäuser an der Tafel. Die Lehrkraft antwortet, dass diese die Zweitklässler*innen gestern gemacht hätten, die hätten nämlich auch Zahlenhäuser. Die meisten Kinder unterhalten sich nun nicht mehr, sondern schauen ruhig zur Lehrkraft. Die Lehrkraft blickt durch die Klasse und sagt „Ich wünsche euch einen guten Morgen!“. Alle Kinder schauen nach vorn, stellen ihre Gespräche ein und antworten leicht versetzt gemeinsam: „Guten Morgen alle zusammen“. Anschließend geht die Lehrkraft auf die andere Seite der Klasse, an welcher der Tagesplan hängt. Die Blicke der meisten Kinder folgen ihr. Olaf und Lisa reden kurz leise miteinander und schauen sich dabei gegenseitig an. Die Lehrkraft schaut auf die laminierten Karten des Tagesplans und anschließend in die Klasse. Das Gespräch der Kinder endet. Die Lehrkraft fragt: „Wer kann uns denn sagen, welcher Tag heute ist?“ Fünf Kinder melden sich.

Analytische Dimensionierung: Die Perspektive der „Kinder Akteur*innen“

In der folgenden Analyse soll der Blick auf das Handeln und die möglichen Motive der Akteur*innen in der Situation mit dem Schwerpunkt auf die Kinder als Akteur*innen gerichtet werden. Die Verwendung und Rolle, der Tür, des Sitzplatzes, der Stühle und Jacken, als Requisiten auf der Bühne des Klassenzimmers werden genauer betrachtet und mit den Erkenntnissen von Göhlich und Wagner-Willi verglichen (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.128ff.). Allgemein steht der Szenenwechsel von der Hinter- zur Vorderbühne im Zentrum der Analyse.

Die beschriebene Situation befindet sich in der Schwellenphase zwischen dem Treffen der Schüler*innen auf dem Schulhof und dem Beginn des Unterrichts. Die Beobachtung beginnt mit dem Eintritt der Lehrkraft in den Klassenraum. Die Lehrkraft betritt zuerst den Klassenraum und macht ihn damit zur Vorderbühne, mit dem Ziel die unterrichtliche Ordnung herzustellen (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.58). Hierbei wird die „Tür als Schwelle und Grenze“(Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.128) zwischen dem Gang und dem Klassenraum zu einem „rituellen Signal“ (Wagner-Willi, 2018, S.60), welches einen „Szenenwechsel“ (ebd.) ankündigt. Die Schüler*innen reagieren darauf, indem sie erste Praktiken zum Wechsel auf die von der Lehrkraft eröffneten Vorderbühne zur Herstellung der Unterrichtsbereitschaft durchführen, ohne dass die Lehrkraft diese explizit mündlich einfordert. Die Lehrkraft beginnt das Eintrittsritual der Schüler*innen, indem sie den Desinfektionsmittelspender in die Hand nimmt und sich mit diesem den Schüler*innen in der Tür zuwendet und verteilt. Hier findet die erste aktive Interaktion zwischen den Schüler*innen und der Lehrkraft statt. Die Situation an der Tür unterscheidet sich von den Beobachtungen von Göhlich und Wagner-Wille, denn die Türschwelle als Grenze wird durch die zum Coronaschutz vorgeschriebene Handhygiene und vorgegebene Abtrennung jeder Lerngruppe in der Schule wesentlich deutlicher markiert und eine Zutrittsvoraussetzung in Form der Handdesinfektion oder -wäsche geschaffen (vgl. Zeile 1-12 und Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.128ff.). Der Ablauf der Handhygiene wirkt wie ein Ritual, ist jedoch auf eine vom Bundesland vorgeschriebenen Regel zurückzuführen, demnach ist die Definition als Ritual umstritten (vgl. Rabenstein/Rehe, 2010, S.72). Das Durchschreiten der Tür löst seitens der Schüler*innen eine Abfolge von Handlungen aus.

Die meisten Kinder zeigen ein schulaffirmatives Verhalten, indem sie ihre Hände waschen oder das Desinfektionsmittel gründlich verreiben (vgl. Zeile 4-7) und anschließend ihre Unterrichtsbereitschaft herstellen, indem sie ihren „Arbeitsplatz“ an ihrem zugeteilten markierten Sitzplatz vorbereiten. Sie nehmen die Stühle von den Tischen herunter, um diese nutzen zu können, stellen ihren Ranzen in der Reichweite von ihrem Stuhl ab, ziehen ihre Jacken aus und hängen sie an ihren rituellen Platz. Dies ist der eigene Stuhl oder der freie des*der abwesenden Sitznachbar*in (vgl. Zeile 13-18; vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.156f., S. 161f. S.173f.). Mit diesem Verhalten zeigen die Schüler*innen, dass sie sich länger im Klassenraum aufhalten werden und signalisieren mit ihrem Arbeitsplatz und ihrer Kleidung eine hergestellte Unterrichtsbereitschaft (vgl. ebd. S.173f.). Janosch und Ben nutzen zudem ihre Partizipationsmöglichkeit, die ihnen die Lehrkraft auf der Vorderbühne gewährt, indem sie sich für das Händewaschen entscheiden und weichen dadurch gemeinsam als Peer von dem Verhalten der Klasse ab (vgl. Zeile 9-11).

In Zeile 7-9 wird eine bestehende Hinterbühne außerhalb des Sichtfeldes der Lehrkraft sichtbar, auf der manche Schüler*innen bewusst die geforderte Handhygiene unzureichend ausführen, indem sie das Desinfektionsmittel nicht ausreichend verreiben oder sogar abschütteln. Ob es sich um ein peerkulturelles Verhalten (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.61) handelt, lässt sich nicht nachvollziehen, denn bestehende Blickkontakte zu Peers oder die genaue Zugehörigkeit einer Peergroup wurde nicht ausreichend beobachtet.

Die Gespräche zwischen den Schüler*innen, welches auch als Gemurmel beschrieben wird, zeigt den Charakter der Schwellenphase, denn „das Ordnungssystem Unterricht hat noch keine Oberhand“ (Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S. 196). Gleichzeitig lässt sich aber „das Aktivitätssystem der Peergroup […] nicht ungebrochen fortsetzen“ (ebd.). Es entsteht das in der Einleitung beschriebene „Durcheinander“ (Wagner-Willi, 2018, S.59) während des Wechsels zwischen der Vorder- und Hinterbühne. Die Schüler*innen setzen ihre Gespräche mit ihren Peers von der Hinterbühne fort, während sie gleichzeitig ihre Bereitschaft für das Handeln auf der Vorderbühne vorbereiten. Die Trennung zwischen der Vorder- und Hinterbühne im Klassenraum wirkt unklar (vgl. Zeile 1-18).

Die Lehrkraft scheint ein zweites „rituelle[s] Signal“ (Wagner-Willi, 2018, S.60) zu setzen, indem sie die Tür schließt und ihre Position und Aufmerksamkeit von der Tür, vor die Tafel verlagert, den Schüler*innen zugewandt. Die Vorderbühne dehnt sich vom Türbereich auf den Klassenraum aus (vgl. Zeile 19-24). Die Schüler*innen reagieren auf die Ansprache und Aufmerksamkeit der Lehrkraft, indem sie die Gespräche mit ihren Peers teilweise einstellen und ihre von der Lehrkraft zugeschriebenen Sitzplätze einnehmen (vgl. Zeile 22f). Der Tafelbereich wird zur „Bühne institutioneller Autorität“ (Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.152) der Lehrkraft. Die Anweisung der Lehrkraft die Jacken auszuziehen zeigt, wie sie versucht die unterrichtliche Ordnung weiter herzustellen. Die Reaktion der Schüler*innen betont gleichzeitig ihre Weisungsbefugnis gegenüber der Schüler*innen. Das Anbehalten der Jacken von einzelnen Schüler*innen und erst verzögerte Ausziehen nach der Aufforderung durch die Lehrkraft deuten Göhlich und Wagner-Willi als „unterrichtsoppositionelles Ritual“ (ebd. S.176.), welches der Verzögerung des Unterrichtsbeginns dienen soll (vgl. Zeile 23f; und ebd.).

Janoschs Frage (vgl. Zeile 26) kann ebenfalls als Unterrichtsverzögerung gedeutet werden, zeigt aber auch, wie er seine Aufmerksamkeit von seiner Peergroup auf den Unterrichtsbeginn richtet, dabei aber noch nicht alle unterrichtlichen Normen der Vorderbühne erfüllt. Er richtet seine Frage an die Lehrkraft, die im Unterricht die erste Ansprechperson für Nachfragen ist, hält sich dabei allerdings nicht an die Regel sich zuvor zu melden. Die Lehrkraft beachtet diesen Regelverstoß nicht, sondern antwortet. Dies zeigt, dass für sie die Schwellenphase wahrscheinlich auch nicht als abgeschlossen gilt und somit noch nicht alle Regeln eingefordert werden. Janoschs Frage nach den Zahlenhäusern kann aus der„Unterrichtsperspektive“ (Heinzel, 2012, S.179) einerseits seine Neugierde auf den bevorstehenden Unterrichtsinhalt zeigen, andererseits aus der „Peerperspektive“ (ebd.) ein Interesse an den unterrichtlichen Aktivitäten der Schüler*innen seiner Peergroup aus der anderen Lerngruppe darstellen.

Die Begrüßung der Lehrkraft ist durch „Ich wünsche euch […]“ (Zeile 30) direkt an die Schüler*innengruppe gerichtet, kann jedoch universell für jede Gruppe vertrauter Personen verwendet werden. Die weitestgehend parallele Antwort der Schüler*innen hat eine doppelte Wirkung. „Guten Morgen alle zusammen“ (Zeile 32) antwortet sowohl der Lehrkraft und begrüßt gleichzeitig auch alle anderen Klassenmitglieder. Diese ritualisierte Formulierung der Begrüßung kann von der Lehrkraft der Herstellung der Unterrichtsgemeinschaft dienen (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S. 120), denn die Schüler*innen haben vermutlich ihre Peers in den Privatgesprächen zuvor begrüßt. Erst nach dem gemeinsamen Begrüßungsritual (vgl. Zeilen 30-32) scheint die Schwellenphase und das „Ordnungssystem Unterricht“ (Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.196) von den Schüler*innen akzeptiert zu sein, denn alle Schüler*innen richten ihre Aufmerksamkeit auf die Lehrkraft, reden nicht mehr mit ihren Peers, antworten gemeinsam auf ihre Begrüßung und folgen ruhig ihrem Gang durch die Klasse zu dem Tagesplan.

Während die Lehrkraft die Klasse durchquert, wechseln Olaf und Lisa nochmal kurz auf die Hinterbühne und folgen aus der Peerperspektive dem Drang sich nochmal außerunterrichtlich auszutauschen (vgl. Zeile 34-36 und Heinzel, 2012, S.179). Für Olaf und Lisa scheint die Schwellenphase nach der Begrüßung noch nicht abgeschlossen zu sein. Vermutlich reagieren sie darauf, dass die Lehrkraft die unterrichtliche Bühne vor der Tafel wechselt und währenddessen den Gang zwischen den Tischen nutzt, der nicht klar der Funktion des Unterrichtens zugeordnet ist (vgl. Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.144ff.). Olaf und Lisa kehren auf die Vorderbühne zurück, nachdem die Lehrkraft wieder vor einer Tafel steht und das Ritual der Tagesvorstellung weiterführt (vgl. Zeile 36).

Fazit

In der Analyse wird das in der Einleitung beschriebene „Durcheinander“ (Wagner-Willi, 2018, S.59) in der Schwellenphase deutlich, denn die Handlungen der Akteur*innen beziehen sich teilweise gleichzeitig sowohl auf die Vorder- als auch auf die Hinterbühne. Göhlich und Wagner-Willi beschreiben die Schwellenphase als „durch Strukturschwäche charakterisiert“ (Göhlich/Wagner-Willi, 2001, S.196). Jedoch werden in der Analyse einige Rituale und ritualisierte Signale identifiziert, die die Frage aufwerfen, ob die Schwellenphase nicht einer eigenen Struktur zwischen der Vorder- und Hinterbühne unterliegt, nach dessen festen Normen die Schüler*innen und die Lehrkraft sich richten. Um dieser Vermutung nachzugehen sind jedoch weitere ethnographische Beobachtungen notwendig.

Das Verhalten der Schüler*innen und der Lehrkraft zu Unterrichtsbeginn ist stark von den zum Beobachtungszeitpunkt geltenden Coronaschutzmaßnahmen vorgegeben. Diesbezüglich wäre es interessant einen Vergleich ohne diese Maßnahmen mit der gesamten Klasse zu haben.

In der Analyse wird die Annahme bestätigt, dass der Unterrichtsbeginn erst handlungspraktisch erzeugt werden muss (vgl. Wolf, 2020, S.9). Außerdem wird anhand der Interpretation der Kinder als Akteur*innen sichtbar, dass dieser Beginn von den Schüler*innen zu unterschiedlichen Zeitpunkten innerhalb der Schwellenphase praktiziert wird. Die Schwellenphase wird abschließend von allen als beendet wahrgenommen, als die Lehrkraft nach den Tag fragt und somit den Unterricht dieser Stunde beginnt.

Rückblickend auf die gesamte Arbeit bleibt die Frage offen, die auch Forscher kritisieren, ob es mir als Erwachsenem hier gelingen kann die Perspektive der Kinder überhaupt angemessen zu rekonstruieren (vgl. Heinzel, 2012, S.180, angelehnt an Honig, 1999; Hülst 2000). Die Deutung des unterrichtsverzögernden Verhaltens einiger Kinder durch das Anbehalten der Jacken unterstellt den Schüler*innen ein absichtliches Verhalten (vgl. 2.3.). Dieses fällt mir jedoch nur auf, wenn ich zuerst aus einer Erwachsenenperspektive die Situation als problematisch identifiziere und dann nach möglichen Absichten der Kinder suche und ihnen diese dann begründet aus einer „Kinderperspektive“ unterstelle. Außer Betracht gelassen wird hierbei beispielsweise, dass es viele weitere Ursachen für das Verhalten geben kann, wie z.B. die Möglichkeit, dass der*die Erstklässler*in unbeabsichtigt vergessen hat die Jacke auszuziehen, oder es ihm*ihr kalt war. An diesem kurzen Beispiel wird deutlich, dass in der Analyse die Gefahr besteht Absichten zu pauschalisieren, die man aus einzelnen Beobachtungen schließt ohne die Möglichkeit zu haben, sie überprüfen zu können. Zusätzlich erschwert wird es dadurch, dass man als Erwachsener die Perspektive der Kinder auf den Unterricht nur hypothetisch einnehmen kann, dabei aber sehr wahrscheinlich zusätzlich die eigene Perspektive als Erwachsener mit einfließen lässt. Bereits mit der Beschreibung der Beobachtung ist die Situation einmal von mir als Erwachsenem interpretiert worden. Dieses Dilemma ist allerdings der verwendeten Methode geschuldet und könnte mittels einer Video- oder Tonaufnahme etwas abgeschwächt werden. Die Aufnahmen würden jedoch neue Verfälschungen zu Beginn der Beobachtung erzeugen (vgl. Schelle, 2018, S. 86).

Literaturverzeichnis

  • Göhlich, M.; Wagner-Willi, M. (2001): Rituelle Übergänge im Schulalltag – Zwischen Peergroup und Unterrichtsgemeinschaft. In Wulf, C. (Hrsg.): Das Soziale als Ritual – Zur performativen Bildung von Gemeinschaften (S. 118 -204). Opladen: Leske + Budrich.
  • Heinzel, F. (2012): Der Blick auf Kinder. In H. de Boer & S. Reh (Hrsg.): Beobachtungen in der Schule – Beobachten lernen (S. 173-188). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Rabenstein, K.; Rehe, S. (2010): Unterricht als Interaktion: Unterrichtsanfänge und das Setting der Institution und die Ordnung des Unterrichts. In Schelle, C.; Rabenstein, K.; Rehe, S.: Unterricht als Interaktion – Ein Fallbuch für die Lehrerbildung (S.71-98). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
  • Schelle, C. (2018): Unterricht anfangen. In M. Proske & K. Rabenstein (Hrsg.): Kompendium Qualitative Unterrichtsforschung: Unterricht beobachten – beschreiben – rekonstruieren (S. 85-102). Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt.
  • Wagner-Willi, M. (2018): Rituelle Praktiken auf den schulischen Vorder- und Hinterbühnen. In J. Brühlmann & D. Conversano (Hrsg.): Rituale an Schulen: wirksam und unterschätzt (S. 58-63). Zürich: LCH.
  • Wolf, E. (2020): Unterrichtsbeginn – Zur Entzauberung des Anfangs. In: falltiefen – Beiträge aus der kasuistischen Lehrerbildung am Institut für Erziehungswissenschaft, 06/2020, (S. 7- 15). Hannover: Institut für Erziehungswissenschaft der Leibniz Universität Hannover.

Die Perspektive der „Kinder-AkteurInnen“ – Wie zeigt sich Peerverhalten während des Unterrichts? (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Inhalt

  • Einleitung
  • Methodische Vorgehensweise
    • Ethnographische Forschungsmethode
    • Die Rolle als Forscher im Feld
    • Reaktionen des Feldes
  • Beschreibung der Lernkultur
  • Die Beobachtungen
    • Situation 1
    • Dichte Beschreibung
    • Analytische Dimensionierung
    • Situation 2
    • Dichte Beschreibung
    • Analytische Dimensionierung
  • Fazit
  • Literatur

Einleitung

In der Schule werden Kinder und Jugendliche im gleichen Alter über einen langen Zeitraum zu Gruppen formiert. Durch den täglichen Kontakt entstehen und entwickeln sich Peerkulturen, deren Praktiken Schule und Unterricht bedingen (vgl. Otto 2015, S. 27). Zschach, Zitzke und Schirner (vgl. 2010, S. 105) stellen heraus, dass Schule grundsätzlich positiv bewertet wird als Raum für Peerkontakte. Am Lernort Schule entstehen Freundschaften und Interaktionen mit Gleichaltrigen, weshalb diesem Ort eine hohe Bedeutung in diesem Kontext beigemessen wird. Die Zugehörigkeit zu funktionierenden Gleichaltrigengruppen und einer Klassengemeinschaft gilt als die wichtigste Schulerfahrung der jungen Lerner1. Dabei kann die innerschulische Interaktion der Peers mit der schulischen Ordnung in ein Spannungsverhältnis geraten. Häufig entwickeln die Gleichaltrigen mit der Schule divergierende soziale Normen und Verhaltenserwartungen (vgl. ebd., S. 106). Schüler bewegen sich deshalb ständig in einem Balanceakt zwischen der Doppelrolle des Schülers und des Peers (vgl. Otto 2015, S. 27).

Peerverhalten wirkt sich im zunehmenden Alter immer mehr auf das Unterrichtsgeschehen aus. Auch Grundschüler legen bereits viel Wert auf die Meinung ihrer Peergroup und passen ihr Verhalten häufig an die Erwartungen ihrer Freunde an. Deshalb macht sich Peerverhalten nicht nur in Pausenzeiten bemerkbar, sondern findet die Kommunikation mit den Peers und die Anpassung an die Verhaltenserwartungen der Gleichaltrigen auch innerhalb des Unterrichts statt (vgl. Zschach et al. 2010, S. 106ff.).

Wagner-Willi (vgl. 2018, S. 58) beschreibt den Lernort Schule als eine öffentliche Bühne, auf der Praktiken teilweise auf Vorder- oder Hinterbühnen stattfinden. So ordnet sie beispielsweise das Schulzimmer zu Unterrichtszeiten eher der Vorderbühne zu, wobei auch diese zur Hinterbühne werden kann, wenn Schülerhandlungen unbemerkt bleiben oder die Lehrkraft den Raum verlässt. Toilettengänge oder Aktivitäten in Pausen hingegen finden überwiegend auf der Hinterbühne statt und bleiben ungesehen. Dort können sich „Subkulturen entfalten […] oder auch Unterrichtssituationen vorbereitet und verarbeitet werden […]“ (ebd., S. 58). Wagner-Willi führt weiterhin auf, dass etablierte Unterrichtssituationen durch peerkulturelle Rahmungen, welche auf der Vor- oder der Hinterbühne stattfinden können, zu Umgestaltungen führen können (vgl. ebd., S. 61).

Die im Rahmen meines Studienprojektes verfasste Seminararbeit setzt sich aus den oben aufgeführten Gründen mit Peerverhalten während der Unterrichtszeiten auseinander und legt den Schwerpunkt auf die Fragestellung, inwiefern sich Peerverhalten während des Unterrichts zeigt. Zunächst wird die methodische Vorgehensweise erläutert, wobei sowohl die ethnographische Forschungsmethode als auch die Rolle des Forschers im Feld vorgestellt wird. Außerdem wird auf die Reaktion der kindlichen Akteure eingegangen. Im Anschluss daran folgt die Vorstellung der Lernkultur der beobachteten Klasse. Danach werden zwei dichte Beschreibungen aufgeführt, welche analytisch dimensioniert werden. Am Ende wird ein Fazit gezogen, welches einen kurzen Ausblick inkludiert.

2 Methodische Vorgehensweise

2.1 Ethnographische Forschungsmethode

Der Unterrichtsalltag lässt sich durch die Ethnographie, welche eine sozial- wissenschaftliche Forschungsstrategie darstellt, untersuchen. Ethnographische Forschung findet sowohl in der Erziehungswissenschaft als auch in der Unterrichtsforschung zunehmend Anwendung (vgl. Breidenstein 2012, S. 27f.). Ihren Ursprung hat die Ethnographie in der wissenschaftlichen Disziplin der Ethnologie, welche ihren Interessensschwerpunkt auf fremde Länder und Kulturen legt. Ziele der Ethnologie liegen darin, dass der Forscher das für ihn fremde Land bereist, sich in die Kultur einlebt und versucht, diese vorerst fremde Lebensweise zu verstehen (vgl. ebd., S. 27ff.). Die Sicht und Perspektive der Einheimischen sollte dabei vordergründig erfasst und rekonstruiert werden. Dabei sollte der Forscher keine eigenen Werturteile und Erklärungen an das einheimische Volk herantragen, sondern gilt dabei die Distanzgewinnung zu den etablierten Gewissheiten der eigenen Kultur (vgl. ebd., S. 29).

Der schulische Kontext scheint auf den ersten Blick zunächst ungeeignet für die oben beschriebene ethnographische Forschungsmethode, da das Umfeld Schule für den Forscher weniger eine fremde Welt, sondern vielmehr ein vertrautes Erfahrungsfeld ist (vgl. ebd., S. 29f.). Amann und Hirschauer entwickelten jedoch das methodologische Programm „Befremdung der eigenen Kultur“. Dabei geht es nicht darum, sich dem Fremden zu widmen, sondern „[…] ein neues, befremdetes Verhältnis zu dem (scheinbar) Bekannten und (allzu) Selbstverständlichen einzunehmen […]“ (ebd., S. 30). Demnach sollte der Forscher einen neuen Blick auf Gewohnheiten des eigenen Alltags erlangen.

Ethnographische Forschung zielt also darauf ab, alltägliche, selbstverständlich erscheinende Situationen aus einem fremden Blickwinkel zu betrachten. Dafür ist eine forschend-distanzierte Grundhaltung seitens des Forschers erforderlich (vgl. Lindner und Rosenberger 2019, S. 63). Methodisch wird sich dabei vor allem der teilnehmenden Beobachtung bedient (vgl. Breidenstein 2012, S. 27). Der Ethnograph beobachtet das Unterrichtsgeschehen möglichst objektiv, mit dem Interesse an einer präzisen und verallgemeinerungsfähigen Beschreibung (vgl. ebd. S. 31). Während der Beobachtung werden möglichst viele Notizen angefertigt, welche unmittelbar im Anschluss zu dichten Beschreibungen ausgearbeitet werden. Die Beobachtungen werden demnach in Sprache überführt, damit auch Außenstehenden die Situation nachvollziehbar erscheinen kann. Gleichzeitig ermöglicht die Verschriftlichung Distanzierung und Befremdung, indem das Geschehene in Zeitlupe genauer betrachtet wird (vgl. ebd., S. 32). Dabei sollte dem Forscher bewusst sein, dass die Verschriftlichung von Beobachtungen eine sprachliche Erschließung darstellt und somit bereits Deutungen und möglicherweise subjektive Verzerrungen enthält (vgl. Lindner und Rosenberger 2019, S. 63f.).

Das schulische Umfeld wird also insgesamt zu einem Entdeckungsfeld, wobei die Mikrostrukturen des sozialen Geschehens vordergründig sein sollen. Ethnographische Forschung ist um das wissenschaftlich begründete Verstehen-Lernen des gemeinsam hervorgebrachten Alltags mit all seinen Routinen und Ordnungen bemüht (vgl. Wiesemann 2011, S. 167f.). Diese Regeln und Strukturen des alltäglichen Handelns sind den Akteuren häufig nicht bewusst, auch wenn sie das Miteinander im Schulalltag unterbewusst organisieren. Der Forscher beabsichtigt, die Akteure dabei zu beobachten, wie sie ihre Handlungen aufeinander beziehen und gemeinsam den schulischen Alltag bewältigen (vgl. ebd., S. 169). Eine intensive Beobachtung lässt sich nur dann tätigen, wenn die Langfristigkeit der Teilnahme seitens des Forschers gegeben ist. Die Beobachterrolle setzt Vertrauen seitens der Lehrkraft und der Schüler voraus, damit Unterrichtssituationen möglichst unauffällig und unaufdringlich beobachtet werden können. Da viele Merkmale und Details erst nach einigen Anläufen entdeckt werden und sich auch das Vertrauen der T eilnehmer immer weiter ausbaut, sollte der Forscher ausreichend Zeit für seine ethnographische Erhebung einplanen (vgl. Breidenstein 2012, S. 31f.).

Die Rolle als Forscher im Feld

Der Forscher muss eine forschend-distanzierte Haltung einnehmen, da die verschiedenen Sinnebenen schulischer Phänomene nur dann sichtbar werden können. Spezifisches Alltagswissen oder Vorwissen über einzelne Schüler sollte bei der Beobachtung daher unbedingt ausgeblendet werden (vgl. Lindner und Rosenberger 2019, S. 64). Der Forscher muss um einen Rückzug aus dem Geschehen bemüht sein, welcher der eigentlichen Rolle als Praktikant gegenübersteht. Normalerweise signalisieren Praktikanten gegenüber Schülern und Lehrern stets ihre Hilfsbereitschaft und Eigeninitiative. Als ethnographischer Forscher jedoch sollte man während der Beobachtungen darum bemüht sein, nicht in die Handlungen einbezogen zu werden und möglichst einen objektiven, unvoreingenommenen Blick auf das Gesamtgeschehen zu haben (vgl. ebd., S. 64f.). Gleichzeitig kann sich das durch den Praktikantenstatus bereits bestehende Vertrauensverhältnis jedoch auch positiv auf die Forschung auswirken. Als fester Bestandteil des Schulalltags der Kinder wird meine Anwesenheit von den Schülern nicht hinterfragt und akzeptiert, sodass ich mich direkt im Forschungsfeld befinde. Die Schüler erhielten genügend Zeit, mich als Praktikantin kennenzulernen, weshalb sie Hemmungen und mögliche Ängste bereits ablegen konnten.

Reaktionen des Feldes

Zu Beginn gestaltete es sich schwierig, Freiräume zu schaffen, in denen man nicht in das Unterrichtsgeschehen integriert wurde. Mir war bewusst, dass die Qualität der teilnehmenden Beobachtung nachlässt, wenn ich zeitgleich Aufgaben von Kindern kontrolliere oder Hilfestellungen anbiete. Auch wenn ich der Lehrkraft vorher mitteilte, dass ich mich für Beobachtungen aus dem Geschehen zurückziehen werde, gab es immer wieder Schüler, die meine Hilfe einforderten oder die kurzzeitig ihren Platz verließen, um mich gezielt anzusprechen. Es herrschte Unverständnis darüber, warum ich nicht wie gewohnt als Ansprechpartner und Unterstützer zur Seite stehe. Mein Rückzug wurde weiterhin dadurch erschwert, dass mein Beobachterplatz der gleiche Sitzplatz vorne im Klassenraum war, den ich auch in meiner Praktikantenrolle einnahm. Von dort konnten mich die Schüler sehen und teilweise einsehen, wenn ich Notizen anfertigte. Dennoch war ich stets bemüht darum, Notizen unbemerkt zu machen. Durch die anfänglichen Schwierigkeiten waren meine ersten Beobachtungen unbrauchbar. Ich wurde häufig abgelenkt und konnte mich nicht auf das Beobachten und Beschreiben fokussieren.

Ich entschied mich schließlich dafür, immer wieder kleinere Sequenzen von Unterrichtsgesprächen gezielt zu beobachten, da die Schüler mich in diesen Momenten am wenigstens wahrnahmen. Während die Lehrkraft Erklärungen anführte nahm ich generell meinen Sitzplatz vorne ein, sodass dies nicht ungewöhnlich für die Klasse war. Die meisten Kinder fokussierten die Lehrkraft und die Beiträge der Mitschüler und bemerkten die Anfertigung meiner Notizen deshalb nicht.

Beschreibung der Lernkultur

Die ethnographische Forschung wurde im Rahmen des Praxissemesters an einer kleinen Verbundgrundschule durchgeführt. Der Teilstandort beinhaltet lediglich vier Klassen (einzügig), die von etwa sechs Lehrkräften unterrichtet werden. Das Schulgebäude ist auf acht Klassen ausgelegt, sodass momentan jede Klasse einen eigenen Nebenraum hat, in dem bei Bedarf kleinere Schülergruppen arbeiten können. Eine Besonderheit der Schule ist es, dass die Klassen 1 und 2 jahrgangsübergreifend unterrichtet werden, sodass es zwei Klassen mit Erst- und Zweitklässlern gibt. In diesen Klassen wird das Voneinander Lernen durch ein Helfersystem besonders gefördert. Kinder, die Unterstützung benötigen oder eine Frage zu einer Aufgabe haben sollen zunächst ihren Sitznachbarn oder ein besonders schnelles Kind um Rat fragen, bevor sie die Hilfe der Lehrkraft einfordern. In der dritten Klasse vereinen sich schließlich die ehemaligen Zweitklässler, sodass eine neue Klassenkonstellation entsteht. Die Kinder werden jedoch auch in der zweiten Klasse bereits aneinander gewöhnt, indem der Englisch- und der Musikunterricht mit allen Zweitklässlern (getrennt von den Erstklässlern) gemeinsam stattfindet. Mein Praktikum absolvierte ich zum Großteil in einer dritten Klasse, welche aus 23 Schülern bestand. Seit Beginn der Coronapandemie wird in dieser Klasse überwiegend Wochenplanarbeit durchgeführt. Die Kinder erhalten montags ihren Arbeitsplan für die gesamte Schulwoche. Dort wird kenntlich gemacht, welche Aufgaben an welchem Tag erledigt werden sollten. Aufgaben, die am Schultag nicht erledigt wurden, müssen im Nachmittagsbereich als Hausaufgabe gemacht werden. Manche Kinder erhalten Zusatzaufgaben, die auf Freiwilligkeit beruhen und über das normale Pensum hinausgehen. Außerdem gibt es hinten im Klassenraum Ablagefächer, in denen zusätzliche Aufgaben für Mathe und Deutsch, unterteilt in leichtere (Symbol einer Feder) und schwierigere Aufgaben (Symbol eines Gewichts), ausliegen. Der Beginn einer Unterrichtsstunde erfolgt meist gemeinsam im Plenum. Es werden für die Aufgaben relevante Grundlagen eingeführt oder wiederholt. Nur selten werden Inhalte am Ende der Stunde reflektiert. Die Stunde wird von der Lehrkraft durch ein Klangsignal beendet, welches den Kindern verdeutlicht, dass die Aufgaben weggepackt werden sollen und eine neue Unterrichtsstunde beginnt. Es bedarf dabei nur selten einer zusätzlichen Aufforderung.

Der Beginn meines Praxissemesters war von Wechselunterricht geprägt, sodass immer nur die halbe Klassenstärke anwesend war und jeder Tisch nur von einem Kind besetzt wurde. Viele Kinder konnten sich deshalb monatelang nicht sehen im schulischen Kontext. Die letzten zwei Wochen vor meinen getätigten Beobachtungen fand schließlich wieder Präsenzunterricht für alle Schüler statt. Generell herrscht eine rege Beteiligung am Unterrichtsgeschehen. Es gibt nur wenige Kinder, die sich bei Gesprächen gerne zurückziehen. Alle Kinder können sich der deutschen Sprache sowohl mündlich als auch im Schriftbild ausreichend bedienen. Nur wenige Kinder weisen einen Förderbedarf auf.

Coronabedingt finden keine Gespräche im Sitzkreis statt, sondern erfolgt der Unterricht lediglich frontal und überwiegend in Einzelarbeit. Es werden jedoch immer wieder Partnerarbeitsaufträge erteilt, damit die Kinder auch ohne Anleitung in den Austausch geraten. Die Tische sind alle frontal zu der Lehrkraft ausgerichtet. Es ergeben sich insgesamt vier Tischreihen, wobei immer drei Tische hintereinander angeordnet sind.

Die Beobachtungen

Bei den Beobachtungen handelt es sich aufgrund der begrenzten Wörteranzahl nur um Ausschnitte aus dem Gesamtgeschehen. Die Namen der Kinder wurden anonymisiert.

Situation 1

Ich befinde mich vorne im Klassenraum der dritten Klasse (alle 23 Kinder anwesend) an einem Einzeltisch, der unmittelbar neben dem Lehrerpult steht. Ich habe meinen Notizblock sowie mein Mäppchen mit Stiften vor mir auf dem Tisch liegen. Den Kindern habe ich zu Tagesbeginn mitgeteilt, dass ich an diesem Tag Korrekturen für die Lehrkraft vornehme und mich weitestgehend aus dem Unterrichtsgeschehen zurückziehe. Daher wurde mir auch in der ersten Unterrichtsstunde wenig Aufmerksamkeit geschenkt und ich konnte bereits unauffällig Beobachtungen vornehmen und Notizen dazu anfertigen.

Die Kinder sitzen alle an ihren Zweiertischen, die frontal nach vorne gerichtet sind. Lediglich ein Kind sitzt vorne an einem Einzeltisch. In der ersten Unterrichtsstunde handelte es sich um eine Mathematikstunde, welcher der Morgenkreis vorangestellt wurde. Um 08:30 Uhr beginnt die Deutschstunde. Die Schüler werden pünktlich um diese Uhrzeit durch ein Klangsignal dazu aufgefordert, ihre Mathematiksachen von den Tischen zu räumen und die Deutschunterlagen bereit zu legen. Dieser Vorgang läuft ritualisiert ab und bedarf keiner weiteren Aufforderung. Die Lehrkraft wartet ab, bis dies von allen Schülern erledigt ist und die Klasse die Aufmerksamkeit nach vorne richtet. Dieser Vorgang dauert etwa drei Minuten. Danach kehrt Ruhe ein und der Beobachtungszeitraum beginnt. Er erstreckt sich von 08:33 bis 08:40 Uhr.

Dichte Beschreibung

Aus den folgenden dichten Beschreibungen werden nur die Analysepunkte hervorgehoben, die mir für die Beantwortung meiner Forschungsfrage bedeutsam erscheinen.

Die Lehrkraft klappt die zuvor vorbereitete Tafel auf. Sie stellt sich mit verschränkten Armen seitlich neben die Tafel und fragt, wer den Satz an der Tafel vorlesen kann. Nina, Mona, Maja, Ina, Julia und Lina strecken ihren Arm in die Höhe. Ina dreht sich dabei um und schaut zunächst in Richtung von Nina, dann wendet sie ihren Blick Mona zu. Luca wackelt mit seinen Beinen und richtet seinen Blick auf den Tisch vor ihm. Benedikt spielt mit zwei Stiften. Als er die Lehrkraft ansieht, legt er die Stifte in seine Mappe. Lisa dreht mit ihrem rechten Zeigefinger eine Haarsträhne. Sina schreibt einen Satz auf einen kleinen Zettel. Als Adrian den Satz auf Sinas Zettel zu lesen versucht, hält diese die Hand davor.

Die Lehrkraft schaut durch die Klasse und wählt Lina aus, die den Satz an der Tafel mit lauter und deutlicher Stimme vorliest. Die Lehrkraft fragt daraufhin, wie viele Satzglieder der Satz an der Tafel beinhaltet. Es entsteht eine kurze Pause von ca. 30 Sekunden. Manche Kinder schauen sich zu ihren Mitschülern um. Olaf meldet sich schließlich und sagt mit leiser Stimme: „Drei?“ Er legt den Kopf dabei schief. Die Lehrkraft nickt und erfragt die einzelnen Satzglieder: „Mit welcher Frage fragt man nach dem Subjekt in diesem Satz?“ Nina meldet sich nach ca. zwei Sekunden und sagt in einer ruhigen und sicheren Stimmlage die passende Subjektfrage. Nina schaut kurz in Monas Richtung, welche ihr einen hochzeigenden Daumen entgegenstreckt. Die Lehrkraft wendet sich der Tafel zu, an der sie die passende Frage verschriftlicht. Während sie sich von der Klasse abwendet, schreibt Sina erneut ein paar Wörter auf ihren kleinen Zettel. Adrian lehnt sich zurück und blickt dabei auf den kleinen Zettel. Sina zieht ihre Stirn kraus, setzt einen auf mich ernst wirkenden Blick auf, mit welchem sie Adrian fixiert und sagt leise: „Adrian, das geht dich nichts an.“ Anschließend knüllt sie den Zettel zusammen und legt ihn mit ihrer Hand unter ihrem Tisch auf dem Schoß ab.

Luca dreht sich kurz zu Sina um, richtet seinen Blick aber dann wieder nach vorne als die Lehrkraft zu der Klasse gewandt wissen möchte, wie man das nächste Satzglied erfragt. Maja meldet sich etwas zögerlich. Sie sagt, dass sie sich nicht sicher sei und äußert ihre Vermutung. Als die Lehrkraft mit einem Lächeln ruft: „Genau richtig!“, nimmt Maja eine entspannte Sitzhaltung ein. Sie lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. Die Lehrkraft schreibt auch diese Frage mit farblichen Markierungen und Einkreisungen an die Tafel. Sina ruft leise: „Jasmin!“ Diese lässt die Schultern hängen und fragt auf mich genervt wirkend: „Was ist?“ Sina schaut sich kurz nach links und rechts um, dann übergibt sie ihr den kleinen Zettel mit dem Zusatz, dass der Zettel für Nina sei. Jasmin versteckt den Zettel schnell in ihrer Mappe als die Lehrkraft noch eine kurze Rückfrage stellt. Sie wackelt dabei mit den Beinen. Olaf tippt Jasmin auf den Rücken und flüstert kaum hörbar: „Jetzt, schnell.“ Jasmin blickt zu der Lehrkraft, welche noch den Satz zu Ende schreibt. Danach überreicht sie den Zettel Olaf. Sina, die das mit ihren Blicken mitverfolgt, flüstert: „Der ist nicht für dich.“ Olaf lässt dies unkommentiert und reicht den Zettel zu Mona. Diese schenkt dem Zettel zunächst keine Beachtung und streckt ihren Arm in die Höhe. Die Lehrkraft dreht sich um und sagt mit lauter Stimme: „Das ist mir zu laut hier. Sobald ich mich der Tafel zuwende, höre ich nur Gemurmel!“ Als die Lehrkraft Monas Meldung sieht fragt sie: „Hast du eine Frage oder möchtest du das letzte Satzglied bestimmen?“ Mona stellt ihre Frage, welche die Lehrkraft an die Klasse weitergibt. Sie fordert Mona dazu auf, selbst ein Kind dranzunehmen, welches die Frage beantworten darf. Ina, Julia und Anton melden sich. Mona schaut kurz zu allen drei Kindern, entscheidet sich dann für Julia.

Sina schaut sich währenddessen mit den Beinen wippend zu mehreren Kindern um. Jasmin wendet sich ihr zu und zuckt mit den Schultern. Die Lehrkraft spricht Sina an: „Sina, ist irgendwas?“ Diese zuckt zusammen und winkt kurz angebunden ab. Sie setzt sich auf ihre Hände und lehnt sich gegen die Stuhllehne. Das Unterrichtsgeschehen wird weiter fortgeführt. Es werden noch ein paar farbliche Einkreisungen von der Lehrkraft an der Tafel vorgenommen. Olaf stößt Mona mit dem Ellenbogen in die Seite. Diese wendet sich ihm zu, verdreht die Augen und legt den kleinen Zettel auf den Tisch von Nina und Lennox. Lennox guckt auf mich ratlos wirkend auf den Zettel, auf dem der Name von Nina steht. Er zeigt mit einem Finger auf den Zettel und guckt dabei in Ninas Richtung. Diese greift nach dem Zettel und guckt sich gleichzeitig in der Klasse um. Als die Lehrkraft sieht, dass Nina etwas in der Hand hält, sagt sie: „Egal was das ist, pack es bitte weg.“ Nina folgt der Anweisung, legt den Zettel in ihre Mappe und macht den Reißverschluss zu. Der Blickkontakt zwischen den Akteuren bricht ab. Sina nimmt eine aufrechte Körperhaltung ein, legt ihre Hände auf dem Tisch ab und richtet ihren Blick auf die Lehrkraft.

Analytische Dimensionierung

Es ist möglich, dass sich Ina während des Meldens zu Nina und Marie umdreht, um zu schauen, ob diese ebenfalls für die Beantwortung der Frage aufzeigen. Die drei Mädchen verbindet eine enge Freundschaft. Während meiner ethnographischen Forschung ist mir immer wieder aufgefallen, dass die Beteiligung am Unterrichtsgeschehen für diese Peergroup eine große Bedeutung hat. Auch Noten und Rückmeldungen durch die Lehrkraft spielen häufig eine Rolle. In den Momenten des Blickkontaktes verständigen sich die drei Mädchen auf Peerebene. Durch das Aufzeigen sichern sie sich womöglich ihren Status innerhalb der Gruppe (vgl. Zschach et al. 2010, S. 108). Die passende Antwort, die Nina auf die Frage der Lehrkraft anbringt, wird von Mona durch einen hochzeigenden Daumen wertgeschätzt. Nina nimmt nach ihrer Antwort direkt den Blickkontakt zu Mona auf, was darauf hindeuten könnte, dass ihr die Anerkennung durch ihre Peers wichtig ist. Als Mona schließlich eine Rückfrage zu unterrichtlichen Themen hat, darf sie selbst einen Schüler für die Beantwortung auswählen. Sie entscheidet sich für ein Kind außerhalb ihrer Peergroup. Eine mögliche Begründung dafür wäre, dass sie ihren eigenen Status innerhalb der Gruppe nicht herabsetzen möchte.

Ein weiteres Kommunikationsmedium auf Peerebene ist das Schreiben von kleinen Briefchen, welches für Schüler häufig eine große Bedeutung hat. Sie treten damit während des Unterrichts in Kontakt zu ihren Peers, wodurch eine Praxis zwischen Peer- und Schülerkultur entsteht (vgl. Bennewitz 2009, S. 119). Die schriftliche Kommunikation bietet den Schülern den Vorteil, dass auch Kinder, die weit entfernt voneinander sitzen, miteinander kommunizieren können (vgl. ebd., S. 122). Außerdem hat das Schreiben am Lernort Schule einen hohen Stellenwert, da diese zentrale Kulturtechnik dort erlernt wird (vgl. ebd., S. 121). Unterrichtliche Anforderungen, wie die Beteiligung an Gesprächen oder das aufmerksame Zuhören, werden für die involvierten Schüler häufig zu einer Nebensache (vgl. ebd., S. 123). Das Geschehen bleibt zunächst unbemerkt und findet auf der Hinterbühne statt. Inoffizielle Peeraktivitäten bilden eine Antistruktur zu der Vorderbühne Unterricht, da die Erwartungen an die Schülerrolle im Kontrast du denen der Peergroup stehen (vgl. Wagner-Willi 2018, S. 61f.). Es besteht außerdem durchgehend die Gefahr entdeckt zu werden, was das Zetteln jedoch für viele Schüler noch interessanter und aufregender macht (vgl. Bennewitz 2009, S. 123). Sina nutzt die bei den Kindern weit verbreitete unterrichtliche Praktik des Briefchenschreibens. In der Beobachtung stellt sich heraus, dass der Zettel an ihre Freundin Nina adressiert ist. Das Zettelschreiben über die räumliche Distanz kann auch als Beziehungszeichen gesehen werden, welches vor der Klasse öffentlich gezeigt wird (vgl. ebd., S. 124f.). Das Zetteln stellt eine intime Kommunikation zwischen den Schreibenden dar, es schließt Dritte bewusst aus und hierarchisiert das Beziehungsgepflecht (vgl. ebd., S. 126).

Sina verhindert mit ihrer Hand, dass Adrian den von ihr verfassten Zettel lesen kann. Eine mögliche Begründung dafür wäre, dass es sich um ein privates Anliegen handelt, welches Sina nicht mit Adrian teilen möchte. Es könnte allerdings auch sein, dass Sina dadurch lediglich noch mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen möchte oder sie einfach einen geheimnisvollen Akt vollziehen möchte. Adrian richtet seinen Blick weiterhin auf den Zettel. Es könnte sein, dass dies bei ihm zu einer Ablenkung von dem Unterrichtsgeschehen führt, wodurch seine Schülerrolle in den Hintergrund geraten würde. Auch wenn das Zetteln bereits bekannt ist in der beobachteten Klasse, liegt in dieser Praktik immer wieder etwas Geheimnisvolles, das für das Publikum attraktiv ist. Es weckt den Anreiz erkennen zu wollen, was dort niedergeschrieben wurde (vgl. ebd., S. 126). Sina schreibt und verschickt häufiger Zettelchen während des Unterrichts, was vermuten lässt, dass ihr die erzeugte Aufmerksamkeit bei den Mitschülern durchaus bewusst ist. Sina nutzt die Momente aus, in denen die Lehrkraft der Klasse den Rücken zukehrt, was darauf hindeuten könnte, dass sie nicht von ihr entdeckt werden möchte (vgl. ebd., S. 127). Als sie bemerkt, dass Adrian erneut einen Blick auf den Zettel werfen möchte, verbalisiert sie ihm klar, dass der Zettel nicht an ihn adressiert ist und sie ihm keine Einsicht gewähren möchte. Möglicherweise liegt es daran, dass die beiden Kinder unterschiedlichen Freundeskreisen angehören, die auch in Pausenzeiten häufig den Kontakt meiden. Es besteht kein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Sina und Adrian. Eine weitere mögliche Erklärung für Sinas Verhalten wäre, dass sie weiterhin das Interesse von Adrian auf sich und den Zettel richten möchte, welches eventuell verloren gehen würde, wenn er den Inhalt des Zettels kennen würde.

Dass sich das Geschehen auf der Hinterbühne abspielt wird erneut deutlich, als sich die Lehrkraft der Klasse zuwendet und Sina den Zettel in ihrer Hand versteckt. Die Tarnung, Verhüllung und das Verstecken sind feste Bestandteile der Zettelpraktik. Dadurch wird dem Verfasser sowie auch dem Publikum ein Beleg für die geheimnisvolle Bedeutung geliefert (vgl. ebd., S. 127).

Luca dreht sich neugierig wirkend zu den Akteuren um, was darauf hindeuten könnte, dass er inzwischen auf das Briefchenschreiben aufmerksam geworden ist. Zettelaktivitäten geben den Kindern häufig Hinweise über aktuelle Beziehungskonstellationen, wodurch auch das Interesse von Außenstehenden schnell geweckt wird (vgl. ebd., S. 125). Das nicht-involvierte Publikum erfüllt die Aufgabe, überhaupt erst Gemeinschaft inszenieren zu können (vgl. ebd., S. 127).

Neue Situationen entstehen dann, wenn Zuschauer zu Akteuren werden. Zu der Praktik des Zettelns gehört neben dem Schreiben bei längeren Wegen auch die Weitergabe durch die Mitschüler, die dadurch zu Boten werden (vgl. ebd., S. 125). Sie erhalten damit eine verantwortungsvolle Aufgabe, die für das Gelingen entscheidend ist. Die Weitergabe der Zettelchen ist für viele Kinder ein Zeichen dafür, dass sie Teil der Klassengemeinschaft sind. Durch die wiederholte Ausführung der gemeinsamen Handlungsgepflogenheiten bilden sich soziale Praktiken (vgl. ebd., S. 120).

Jasmins Reaktion lässt vermuten, dass sie sich nicht gerne an der Praktik des Zettelns beteiligen möchte (siehe Beobachtung: „Diese lässt die Schultern hängen und fragt auf mich genervt wirkend: „Was ist?“). Ihre Stimmlage lässt mutmaßen, dass sie genervt ist, dennoch gibt sie den Zettel weiter. Die Peers können sich der Aufforderung, einen Brief weiterzugeben, nicht entziehen. Kinder, die auf dem Postweg sitzen, müssen die Aufgabe annehmen und sich dem Risiko, entdeckt zu werden aussetzen. Dafür müssen eigene Aktivitäten möglicherweise unterbrochen werden. Postboten sind zwar durch die Weiterleitung aktiv eingebunden, gehören aber dennoch nicht der Gemeinschaft der Zettelnden an. Eine Verweigerung der Weitergabe könnte einen Imageschaden zur Folge haben (vgl. ebd., S. 127). Jasmins Verhalten deutet darauf hin, dass sie nicht aus der Klassengemeinschaft ausgeschlossen werden möchte (vgl. ebd., S. 127). Sie passt sich an die Verhaltenserwartungen ihrer Mitschülerin an, wodurch die Schülerrolle kurzzeitig in den Hintergrund gerät. Jasmin hält sich an die Spielregel, den Brief entweder während einer unruhigen Phase oder wenn die Lehrkraft abgelenkt ist, weiterzugeben (vgl. ebd., S. 130). Olaf, der das Zetteln von hinten zu verfolgen scheint, fordert sie dazu auf, den Zettel weiterzureichen. Olaf tritt als pflichtbewusster Bote auf, dem die peerkulturelle Praktik vermutlich wichtig erscheint. Er leitet den Zettel direkt weiter, ohne die Lehrkraft dabei im Blick zu halten. Es wird deutlich, dass für ihn die Zugehörigkeit zu der Klassengemeinschaft eine große Rolle spielen könnte und dem Unterrichtsgeschehen in dem Moment vorangestellt wird. Alternative Erklärungen für Olafs Verhalten könnten sein, dass er lediglich daran interessiert ist, den Empfänger ausfindig zu machen oder dass er Eindruck schinden möchte bei Sina. Weiterhin wäre es möglich, dass er das Unterrichtsgeschehen langweilig findet und er eine alternative Beschäftigung sucht.

Die aufkeimende Unruhe in der Klasse bleibt von der Lehrkraft nicht unbemerkt. Es wird deutlich, dass das Peergeschehen der Hinterbühne auf die Vorderbühne tritt und zu einer Umgestaltung des eigentlichen Unterrichts führt (vgl. Wagner-Willi 2018, S. 61). Die Lehrkraft verbalisiert ihre Verärgerung vor der Klasse. Sie gibt der peerkulturellen Rahmung jedoch zunächst nicht zu viel Aufmerksamkeit. So verliert sie die Anknüpfung an den Unterricht nicht. Sina sichert mit ihrem umschweifenden Blick möglicherweise ab, dass ihr Zettel nicht sichtbar für die Lehrkraft auf einem Tisch liegt. Außerdem könnte es sein, dass Sina verhindern möchte, dass ein Kind außerhalb ihrer Peergroup die Inhalte des Zettels liest und der Zettel bei der von ihr bestimmten Person ankommt. Jasmin scheint weiterhin auf die Zettelpraktik fokussiert zu sein. Sie wendet sich Sinas suchenden Blicken mit einem Schulterzucken zu. Die Geste soll womöglich zeigen, dass sich auch Jasmin nicht sicher ist, wer den Zettel in dem Moment aufbewahrt. Die von Sina hervorgebrachte Praktik des Zettelns tritt erneut auf die Vorderbühne, als die Lehrkraft Sina direkt auf ihr Verhalten anspricht. Sina zuckt zusammen, was darauf hindeuten könnte, dass sie sich ertappt fühlt. Dass sich Sina auf ihre Hände setzt und auf ihrem Stuhl zurücklehnt, soll der Lehrkraft möglicherweise zeigen, dass sie keiner außerunterrichtlichen Tätigkeit nachgeht und sie aufnahmebereit für die Unterrichtsinhalte ist.

Auch Mona wird in die Weitergabe des Zettels eingebunden. Ihre Reaktion lässt vermuten, dass für sie die Schülerrolle während des Unterrichts oberste Priorität hat und sie sich regelkonform verhalten möchte (siehe Beobachtung: „Diese schenkt dem Zettel zunächst keine Beachtung und streckt ihren Arm in die Höhe.“). Mona stellt eine Frage zu unterrichtlichen Themen, was verdeutlicht, dass sie dem Unterrichtsgeschehen folgt. „Olaf stößt Mona mit dem Ellenbogen in die Seite. Diese wendet sich ihm zu, verdreht die Augen und legt den kleinen Zettel auf den Tisch von Nina und Lennox.“ Die Beobachtung legt die Vermutung nahe, dass sie den Ausschluss aus der Gemeinschaft verhindern möchte. Lennox wird durch seinen Platz hinten in der Ecke selten in die soziale Praktik des Zettelns eingebunden. Er schaut zunächst ratlos wirkend auf den Zettel. Nina, die als Empfängerin des Briefes auftritt, hält sich an das Gebot, den Zettel beim Öffnen und Lesen vor dem Lehrer zu verstecken (vgl. Bennewitz 2009, S. 130). Sie hält ihn in der verschlossenen Hand. Als der Zettel dennoch von der Lehrkraft in ihrer Hand bemerkt wird, wird die Interaktion auf Peerebene abgebrochen. Nina kommt der Aufforderung und den Erwartungen der Lehrkraft vermutlich mit dem Blick auf ihre Verpflichtungen als Schülerin nach und packt den Zettel weg. Alle zuvor beteiligten Schüler richten ihren Blick nach vorne zu der Lehrkraft, sodass ein Bruch in der Peerinteraktion entsteht. Es wird der Eindruck erweckt, dass sich alle Akteure fortan auf ihre Schülerrolle zu fokussieren versuchen.

Situation 2

Ich befinde mich vorne im Klassenraum der dritten Klasse (alle 23 Kinder anwesend) an einem Einzeltisch, der unmittelbar neben dem Lehrerpult steht. Die Tische sind weiterhin wie in der ersten Beobachtung angeordnet. Ich habe meinen Notizblock sowie mein Mäppchen mit Stiften vor mir auf dem Tisch liegen. Es ist der Beginn der vierten Unterrichtsstunde. Zuvor fand eine Religionsstunde bei einer anderen Lehrkraft in dem gleichen Klassenraum statt. In der Übergangssituation tauschten sich die beiden Lehrkräfte für ca. zwei Minuten über einen anstehenden Gottesdienst aus. In dieser Zeit verließen einige Schüler ihren Sitzplatz, um mit anderen Mitschülern ins Gespräch zu kommen. Zwei Kinder suchten die Toilette auf und betreten nun kichernd den Raum. Es ist 10:32 Uhr als die Religionslehrkraft den Klassenraum verlässt.

Dichte Beschreibung

Die Lehrkraft schließt die Tür, was nur von wenigen Kindern gesehen wird. Sie stellt sich vor die Tafel und schaut sich in der Klasse um. Einige Kinder laufen noch durch den Raum und unterhalten sich mit ihren Mitschülern. Tobias sitzt bereits sehr ruhig mit aufrechter Körperhaltung auf seinem Platz. Lisa holt Süßigkeiten aus ihrer Tasche und legt sie in ihre Mappe. Leander und Ina stellen ihre Unterhaltung ein. Leander legt seine Hände auf dem Tisch ab. Ina hebt den rechten Arm und macht mit ihren Fingern das „Leisefuchszeichen“, wobei der kleine Finger und der Zeigefinger in die Höhe zeigen, die anderen drei Finger werden leicht gegeneinandergedrückt. Tobias schaut in Inas Richtung und hebt ebenfalls seinen rechten Arm und macht das Zeichen. Daraufhin folgen auch Elias, Julia und Nina. Olaf und Mona hören auf zu flüstern, Anton und Susanne nehmen ihre Plätze ein. Die Lehrkraft schaut in Inas Richtung und sagt kopfnickend: „Danke Ina und Tobias.“ Mika und Leander drehen sich in Inas Richtung und machen ebenfalls das Zeichen. In der gesamten Klasse stellen sich die Gespräche ein. Es ist inzwischen 10:34 Uhr. Die Lehrkraft sagt mit erhobener Stimme: „So, das hat jetzt aber lange gedauert.“ Tobias nimmt seinen Arm herunter, die anderen Kinder ziehen damit nach. Ina nimmt erst etwa fünf Sekunden später den Arm herunter. Sie blickt dabei die Lehrkraft an.

Die Lehrkraft leitet zu dem Englischspiel „lebendiges Memory“ über. Julia wackelt mit ihrem Arm in der Luft und fragt, ob sie das Spiel erklären darf. Martin und Maja drehen sich zu ihr um während sie das Spiel erklärt. Julia erklärt die Spielregeln mit lauter Stimme, gestikuliert dabei unterstützend mit ihren Händen und schaut dabei abwechselnd zu Lina und der Lehrkraft. Im Anschluss wählt die Lehrkraft zwei Kinder aus (Lina und Julius), die in der ersten Runde gegeneinander lebendiges Memory spielen dürfen. Die Auswahl wird von einigen Kindern mit einem Stöhnen kommentiert. Julius stemmt seine Hände in die Hüften und ruft zu Mika gewandt: „Ich gewinne bestimmt.“ Lina und Julius verlassen für etwa sieben Minuten den Klassenraum. Die Lehrkraft fordert dazu auf, dass sich immer zwei Partner zusammen einen englischen Satz zum Thema „Körper“ überlegen sollen. Manche Kinder bleiben auf ihren Plätzen sitzen und schauen sich zu ihren Mitschülern um. Mona ruft Nina zu, ob sie sich einen Satz zusammen ausdenken wollen. Andere Kinder springen direkt von ihrem Stuhl und gehen gezielt auf ein bestimmtes Kind zu. Melina geht auf Susanne zu, tippt dieser auf die Schulter und fragt, ob sie zusammen ein Paar bilden wollen. Susanne dreht sich zu Maja um und nickt ihr zu. Danach sagt sie zu Melina gewandt, dass sie schon mit Maja zusammenarbeiten möchte. Es wird unruhiger in der Klasse, viele Kinder laufen durcheinander. Manche Kinder finden keinen Partner und wenden sich an die Lehrkraft.

Lisa sitzt immer noch auf ihrem Platz. Ich vermute, dass sie nicht weiß, welches Kind sie ansprechen soll. Die Lehrkraft kündigt mit lauter Stimme an, dass sich die Kinder, die keinen Partner gefunden haben, vorne vor der Tafel versammeln sollen. Lisa erhebt sich und geht mit langsamen Schritten zu der Tafel, auch Melina, Luca und Lennox finden sich vorne ein. Die Lehrkraft teilt die letzten vier Kinder in zwei Zweierteams ein. Es ist 10:40 Uhr und alle Kinder sind dabei, sich mit ihren Partnern einen Satz zu überlegen. Manche Kinder fordern Hilfestellung von der Lehrkraft ein, andere schreiben ihren Satz auf ein Blatt Papier. Möglicherweise wollen sie sich damit vergewissern, dass sie ihren Satz während des Spiels nicht vergessen. Um 10:43 Uhr finden sich alle Schüler auf ihren Plätzen ein.

Lina und Julius betreten schnellen Schrittes den Raum und platzieren sich vorne vor der Tafel. Julius tritt im Stehen abwechselnd mit dem linken und rechten Fuß auf den Boden, er verlagert dabei sein Gleichgewicht hin und her. Außerdem verschränkt er seine Arme vor dem Oberkörper. Die Lehrkraft legt eine Strichliste an, mit der der Punktestand für beide Kinder dokumentiert wird. Die Lehrkraft sagt: „Julius darf beginnen.“ Dieser fragt leise mit dem Kopf schiefgelegt: „Was muss ich denn noch mal machen?“ Benedikt ruft laut: „Oh Julius, das haben wir doch schon einmal gespielt!“ Die Lehrkraft schaut kurz zu Benedikt, danach erinnert sie Julius in Kurzform an die normalen Memoryspielregeln. Julius sagt: „Achja, jetzt weiß ich es wieder!“ Er schaut sich in der Klasse um. Mika wackelt unter dem Tisch mit den Füßen. Anton schaut nach hinten zu seinem Spielpartner und nickt diesem zu. Julius folgt dem Blick und wählt Anton aus, welcher dann seinen Satz vor der Klasse vorträgt. Anton beißt sich auf die Unterlippe. Er muss seinen Satz zweimal von vorne beginnen, um ihn vollständig richtig aufzusagen. Im Anschluss wählt Julius Martin aus, der ebenfalls seinen Satz vorträgt. Es handelt sich dabei um den gleichen Satz. Die beiden Spielpartner müssen sich nun auf ihren Stuhl setzen und können nicht mehr am Spiel teilnehmen. Julius ruft: „Wusste ich es doch, dass ihr zusammen macht!“ Die Lehrkraft fügt den Punkt in der Liste hinzu, was von einigen Kindern in der Klasse mit einem Jubelruf kommentiert wird. Julius setzt ein lächelndes Gesicht auf, nimmt eine aufrechte Körperhaltung ein und stemmt seine Arme dabei seitlich gegen seine Hüfte. Die Lehrkraft gibt den Schülern den Tipp, nicht immer nur Freunde als Spielpartner auszuwählen, da diese Paare sonst zu schnell von den Spielern vorne aufgedeckt werden. Im Anschluss ist Lina an der Reihe. Sie wählt Benedikt und Sina aus. Benedikt schaut in die Luft und sagt: „Oh, jetzt habe ich den Satz wieder vergessen.“ Julius haut sich leicht mit der Handfläche seiner linken Hand vor die Stirn und sagt im Flüsterton kaum hörbar: „Ist der dumm.“ Benedikt greift nach einem Zettel in seiner Hosentasche, holt ihn hervor und liest langsam und leise seinen Satz vor. Lina wählt außerdem Sina aus. Sina trägt ihren Satz laut und deutlich vor. Da sich der Satz von dem vorherigen unterscheidet, erhält Lina keinen Punkt. Mika ruft: „Die Jungs sind eh besser!“ Sein Zwischenruf bleibt von der Lehrkraft und den Mitschülern unkommentiert. Lina nimmt keinen Blickkontakt zu Mika auf. Sie dreht sich ein kleines Stück und wendet sich dabei verstärkt der rechten Klassenhälfte zu. Julius erhält erneut die Wortführung.

Analytische Dimensionierung

Die Beobachtung lässt vermuten, dass Ina die Unruhe im Klassenzimmer sowie die Erwartungshaltung der Lehrkraft sieht. Ina macht das Leisefuchszeichen, was in der Klasse häufig eingesetzt wird, damit Ruhe im Raum einkehrt. Es handelt sich hierbei um ein non- verbales Signal, welches normalerweise von der Lehrkraft ausgehend bei Störungen oder um Aufmerksamkeit zu erzeugen genutzt wird (vgl. Niermann 2017, S. 137). Es könnte sein, dass Ina, die immer wieder als engagierte Schülerin auftritt, die Aufmerksamkeit und Wertschätzung der Lehrkraft sucht. Julia und Nina blicken in Inas Richtung und nehmen dann ebenfalls wortlos die Leisefuchshaltung ein. Es liegt die Vermutung nahe, dass die Reaktion ihrer Peers durch Ina hervorgerufen wird. Die beiden Mädchen stellen ihre Gespräche dabei ein. Die Nachahmung durch die Peers könnte Ina zeigen, dass sie sie unterstützen. Die Reaktion könnte außerdem als eine indirekte Wertschätzung und Akzeptanz ihrer Position innerhalb der Gruppe gedeutet werden.

Auch Tobias, der ein sehr ruhiger und zurückhaltender Schüler ist, welcher sich selten am unterrichtlichen Geschehen beteiligt, greift die von Ina gezeigte Fingerhaltung auf. Er steht in keinem freundschaftlichen Verhältnis zu Ina. Daher liegt die Vermutung nahe, dass er damit mehr auf Anerkennung durch die Lehrkraft abzielt. Es könnte allerdings auch sein, dass Tobias Ina als Person schätzt und er deshalb die gleiche Haltung einnimmt. Tobias löst eine Reaktion innerhalb seiner eigenen Peergruppe aus. Elias, sein enger Freund und Sitznachbar, betrachtet Tobias Fingerhaltung und nimmt diese ebenfalls ein. Andere Peers stellen ihre Unterhaltung ein. Das von Ina ausgehende Leisefuchszeichen verdeutlicht zum einen Macht und Einfluss der eigenen Peergruppe während des Unterrichts, zum anderen wird die große Bedeutung von bereits eingeführten Ritualen und Zeichen deutlich. In dieser Situation findet die Peerinteraktion deutlich sichtbar auf der Vorderbühne statt (vgl. Willi- Wagner 2018, S. 62f.). Inas durchgeführte Handlung erzeugt bei einigen Mitschülern sowie der Lehrkraft Aufsehen, das durch Blicke und einen kurzen Dank durch die Lehrkraft zum Ausdruck gebracht wird.

Für das anschließende Spiel wählt die Lehrkraft zwei Kinder aus, die den Klassenraum für kurze Zeit verlassen müssen. In der Zeit sollen sich Kinder zu Paaren zusammenfinden. Es ist deutlich erkennbar, dass sich viele Kinder direkt in die Richtung ihres guten Freundes bewegen. Auch hier spiegelt sich Peerverhalten deutlich wider. Besonders Mona sticht dabei durch ihren verbalen Zuruf an Nina gerichtet heraus. Melina, die keiner Peergroup innerhalb der Klasse angehörig ist, wird sichtbar von Susanne zurückgewiesen. Diese entscheidet sich dafür, mit einer Freundin zusammenarbeiten (siehe Beobachtung: „Susanne dreht sich zu Maja um und nickt ihr zu. Danach sagt sie zu Melina gewandt, dass sie schon mit Maja zusammenarbeiten möchte“). Thiel (vgl. 2016, S. 45) hebt hervor, dass Ab- und Ausgrenzungsprozesse im Unterricht nicht nur Einfluss auf das Klassenklima nehmen, sondern Folgen für die kognitiven und affektiven Lernerträge sowie für das Verhalten schlecht integrierter Schüler entstehen. Durch die unzureichende Integration, die häufig als mangelnde Akzeptanz verspürt wird, können Lern- und Verhaltensprobleme für die ausgegrenzten Schüler entstehen (vgl. ebd., S. 45f.). Auch Lisa bleibt zunächst auf ihrem Platz sitzen und umgeht die Partnersuche. Für die beiden Mädchen wäre es wahrscheinlich einfacher gewesen, wenn die Paarbildung von der Lehrkraft zugewiesen worden wäre. In Zweiergruppen herrscht eine intimere Arbeitsbeziehung als in einer größeren Gruppe, welche wiederum eine gewisse Öffentlichkeit repräsentiert. Die Aufnahme in eine größere Arbeitsgruppe ist selten an eine Zustimmung durch alle Mitglieder gebunden, wohingegen die Bildung einer Partnerschaft die beiderseitige Zustimmung voraussetzt (vgl. Breidenstein 2006, S. 160f.).

Julius macht durch sein abwechselndes Auftreten mit dem rechten und linken Fuß einen nervösen Eindruck als er sich vorne vor der Klasse platziert. Er erfragt leise die Spielregeln, obwohl lebendiges Memory bereits mehrmals in unterschiedlichen Fächern und Kontexten zum Einsatz kam. Den Bereich der Tafel vorne einzunehmen kostet viele Schüler Überwindung, da man den „öffentlichen Raum“ betritt, an dem man von allen Schülern fokussiert wird. Eine Besonderheit besteht darin, dass es vorne keine Sitzplätze gibt, sondern dass man im Stehen den Blicken der Mitschüler ungeschützt ausgesetzt ist. Es wird dort für kurze Zeit die Lehrerrolle übernommen (vgl. Breidenstein 2006, S. 108). Wer vorne vor der Klasse steht „[…] wird potentiell zum Gegenstand von Kommentierung und zur Quelle von Amüsement“ (ebd., S. 109). Dies zeigt sich auch in der Beobachtung, als die Unwissenheit von Julius durch Benedikt kommentiert wird. Mit seiner Aussage beschädigt Benedikt für kurze Zeit das öffentliche Image von Julius (vgl. ebd., S. 110). Die vorne stehenden Kinder werden besonders durch die eigenen Freunde mit Blicken fokussiert. Den Platz der Lehrkraft vorne einzunehmen kann Chancen mit sich bringen, da die Kinder die Möglichkeit erhalten, ihr Können und Wissen vor der Klasse unter Beweis zu stellen. Möglicherweise wird den entsprechenden Kindern Anerkennung und Wertschätzung für ihre Leistung entgegengebracht (vgl. Thiel 2016, S. 45f.).

Vor Beginn des Spiels legt die Lehrkraft für alle sichtbar an der Tafel eine Strichliste an, in der die Punkte der beiden Kinder festgehalten werden. Möglicherweise werden dadurch der Konkurrenzkampf der Freundeskreise sowie der Anreiz, als für alle Kinder sichtbarer Gewinner vor der Gruppe auftreten zu können, verstärkt. Auch wenn offiziell nur die beiden vorne im Fokus stehenden Kinder gegeneinander antreten, kristallisiert sich schnell ein Wettkampf der beiden Peergruppen der Klasse heraus. Dies macht sich dadurch bemerkbar, dass die engsten Freunde den jeweiligen Freund anfeuern und jubeln, sobald der eigene Freund einen Punkt erzielt hat. Auch Thiel betont, dass nicht nur die Zugehörigkeit zu einer Gruppe (Ingroup) für die Kinder bedeutsam ist, sondern dass gleichzeitig auch immer eine Abgrenzung von anderen Gruppen (Outgroups) stattfindet. Diese sei ebenfalls wichtig für die Entwicklung und Stabilisierung der sozialen Identität. Durch die Jubelrufe erfährt Julius Anerkennung von seinen Peers (vgl. Thiel 2016, S. 45f.). Vermutlich wird ein Gefühl des Stolzes hervorgerufen, was dadurch sichtbar wird, dass Julius ein lächelndes Gesicht aufsetzt sowie eine aufrechte Körperhaltung einnimmt (siehe Beobachtung).

Es liegt die Vermutung nahe, dass der vor Spielbeginn geäußerte herabsetzende Kommentar von Benedikt an Julius gerichtet dazu führt, dass Julius die Vergesslichkeit von Benedikt ebenfalls für alle Kinder sichtbar mit einer Gestik unterstreicht (s.o. […] „Julius haut sich leicht mit der Handfläche seiner linken Hand vor die Stirn […]“). Möglicherweise erhofft sich Julius, dass seine eigene Beschämung vor der Klasse so in Vergessenheit gerät und sein eigenes Image wieder aufgewertet wird.

Die Zwischenrufe von Mika an Lina gerichtet stellen eine Zurückweisung dar, wodurch sich Mika gleichzeitig von der anderen Peergruppe abgrenzt (Outgroups). Thiel führt an, dass eine ausbleibende Anerkennung oder Zurückweisung beschämend wirken kann (vgl. ebd., S. 45f.). Es ist möglich, dass Lina deshalb eine von Mika wegweisende Position einnimmt. Es könnte gleichzeitig ein nonverbales Zeichen für die Inakzeptanz der Aussage „Die Jungs sind eh besser“ sein.

Fazit

Zusammenfassend kann gesagt werden, dass sich Peerverhalten während des Unterrichts sowohl auf der Vorder- als auch auf der Hinterbühne zeigt. Der Einfluss der eigenen Peergroup ist nicht nur in Pausenzeiten besonders ausgeprägt, sondern wird die Rolle als Peer auch in den Unterrichtsstunden häufig der Schülerrolle vorangestellt. Dabei bleiben einige Verhaltensweisen und Interaktionen der Kommunikation von Lehrkräften unentdeckt. Dennoch können diese den Unterricht maßgeblich beeinflussen und verändern, da sich Schüler schnell durch die verschiedenen Nebenshowplätze ablenken lassen und häufig auch eine Mitwirkung von Außenstehenden für das Gelingen der Interaktion erforderlich ist (vgl. Bennewitz 2009, S. 123ff.). Aus Sicht des Unterrichts handelt es sich bei den Peertätigkeiten um Hinterbühnen oder Nebentätigkeiten, für Schüler hingegen „[…] geht es um die hohe Kunst der Gleichzeitigkeit und eine ausgefeilte Ökonomie der Aufmerksamkeit“ (Breidenstein 2006, S. 121). Die divergierenden Erwartungen an die Schüler- und die Peerrolle verlangen einen ständigen Balanceakt, dessen Austarierung individuell stattfindet. Die Schwerpunkte der Aufmerksamkeit verlagern sich permanent. Es erfolgt eine Suche nach interessant erscheinenden Ereignissen, sodass das frontale Unterrichtsgeschehen nur einen möglichen Punkt der Fokussierung darstellt (vgl. ebd., S. 121f.). Dem laufenden Unterricht wird häufig ein Minimum an Aufmerksamkeit gewidmet, um den Faden nicht zu verlieren und anschlussfähig zu bleiben. Die Verweildauer der Aufmerksamkeit hängt zum einen von der Attraktivität des aktuellen Unterrichtsgeschehens ab. Zum anderen ist die Anziehungskraft der konkurrierenden Nebentätigkeit entscheidet. Auch die Unterhaltung mit dem Sitznachbarn oder das Zetteln können von Leerlauf und Langeweile geprägt sein und sind nicht immer per se spannend. Nebentätigkeiten sind oftmals so geschickt in den Ablauf integriert, dass sie von der Lehrkraft nicht als Störung wahrgenommen werden (vgl. ebd., S. 121f.).

Die in der ethnographischen Beobachtung vernommene Praktik des Zettelns läuft vermutlich mit zunehmender Klassenstufe immer ritualisierter ab, sodass sie dann von vielen Lehrkräften nicht mehr bemerkt wird. Die Schüler wachsen in ihre Rolle als Boten hinein und verhalten sich deshalb wahrscheinlich immer weniger auffällig. In der Beobachtung wurde deutlich, dass einzelne Schüler die Botenrolle noch nicht richtig verinnerlicht hatten, sodass Störungen im Ablauf aufkamen (siehe beispielsweise die Reaktionen von Lennox und Jasmin). Ich vermute, dass sich auch in dieser Klasse die Praktik des Zettelns immer weiter festigen wird, sodass es auch für viele Schüler zunehmend leichter werden könnte, die Aufmerksamkeit gleichzeitig auf die verschiedenen Showplätze zu richten.

Die Interaktion auf Peerebene kann positive Auswirkungen auf die einzelnen Schüler haben, wenn diese Anerkennung und Wertschätzung durch die eigenen Peers erfahren. Dadurch wird gleichzeitig das Gemeinschaftsgefühl der Gruppe gestärkt. Dennoch kann die Peerinteraktion auch negative Folgen für das Selbstwertgefühl einzelner Schüler haben, sobald Ausgrenzungserfahrungen gemacht werden oder eine Bloßstellung vor der Klasse stattfindet (siehe beispielsweise Beschämung von Lina in der Beobachtung: Mika ruft: „Die Jungs sind eh besser!“ ) (vgl. Thiel 2016, S. 45f.).

Insgesamt ist erkennbar, dass sich Peerverhalten an ganz unterschiedlichen Stellen im Unterricht widerspiegeln kann. Lehrkräften sollte dieser Fakt stets bewusst sein. Sie sollten Peerverhalten nicht grundsätzlich zu unterbinden versuchen, da der Lernort Schule ein grundlegender Ort für Peerkontakte ist und viele Schüler nur deshalb ein positives Bild von Schule entwickeln können (vgl. Zschach 2010, S. 105f.). Es ist wichtig, Zeiträume für gemeinschaftsstärkende Aktivitäten in die Unterrichtsplanung einzubauen, damit sich auch Einzelgänger dem Klassengefüge zugehörig fühlen und Ausgrenzung entgegengewirkt werden kann.

Für die weitere Forschung wäre es aus meiner Sicht interessant, Peerverhalten nicht nur während des Unterrichts, sondern auch während der Pausenzeiten zu beobachten. So würde ein eher auf der Hinterbühne stattfindendes Peergeschehen sichtbar und es könnten Vergleiche angestellt werden. Ein weiterer aufschlussreicher Forschungsansatz könnte sich ergeben, wenn Peerverhalten während des Unterrichts in verschiedenen Klassenstufen betrachtet würde. Da viele Peerinteraktionen mit zunehmendem Alter ritualisierter ablaufen und sich die einzelnen Peergruppen in ihren Konstellationen immer mehr festigen, wäre es spannend, Vergleiche zwischen den einzelnen Altersgruppen anzustellen. Außerdem verändert sich bei vielen Schülern vermutlich je nach Alter die Verlagerung der Aufmerksamkeit mehr auf die Peer- oder die Schülerrolle, weshalb der Vergleich zwischen den Altersgruppen sicherlich aufschlussreiche Ergebnisse liefern würde.

Literatur

  • Bennewitz, H. (2009): Zeit zu Zetteln! – Eine Praxis zwischen Peer- und Schülerkultur. In H. de Boer & H. Deckert-Peaceman (Hrsg.): Kinder in der Schule: Zwischen Gleichaltrigenkultur und schulischer Ordnung (1. Aufl., S. 119-136). Wiesbaden: VS Verlag.
  • Breidenstein, G. (2012): Ethnografisches Beobachten. In H. de Boer & S. Reh (Hrsg.): Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen (S. 27-44). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Breidenstein, G. (2006): Teilnahme am Unterricht – Ethnographische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Lindner, D. & Rosenberger, K. (2019): Ethnografisches Beobachten und Schreiben im Lehramtsstudium. Journal für LehrerInnenbildung, 19(4), S. 62-70. Klinkhardt.
  • Niermann, A. (2017): Professionswissen von Lehrerinnen und Lehrern des Mathematik- und Sachunterrichts. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Otto, A. (2015): Positive Peerkultur aus Schülersicht – Herausforderungen (sonder-) pädagogischer Praxis. Wiesbaden: Springer VS.
  • Thiel, F. (2016): Interaktion im Unterricht – Ordnungsmechanismen und Störungsdynamiken. Opladen & Toronto: Budrich.
  • Wiesemann, J. (2011): Ethnographische Forschung im Kontext der Schule. In H.-U. Grunder; K. Kansteiner-Schänzlin & H. Moser (Hrsg.): Professionswissen für Lehrerinnen und Lehrer (S. 167-185). Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren.
  • Wagner-Willi, M. (2018): Rituelle Praktiken auf den schulischen Vorder- und Hinterbühnen. In J. Brühlmann & D. Conversano (Hrsg.): Rituale an Schulen: wirksam und unterschätzt (S. 58-62). Zürich: LCH.
  • Zschach, M.; Zitzke, C. & Schirner, M. (2010): Schule als Kontext und Thema von Freundschaftsgruppen in einer Längsschnittperspektive. In H.-H. Krüger; S.-M. Köhler; M. Zschach (Hrsg.): Teenies und ihre Peers – Freundschaftsgruppen, Bildungsverläufe und soziale Ungleichheit. Opladen & Farmington Hills: Budrich.

Peerkultur in der Schule – Eine ethnographische Analyse peerkultureller Verhaltensweisen während der Frühstückspause (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Inhalt

  • Einleitung
  • Methodische Vorgehensweise
    • Ethnographie als methodische Vorgehensweise
    • Meine Rolle als Forscherin und die Reaktion des Feldes
  • Beschreibung der Lernkultur der Klasse
  • Dichte Beschreibungen
    • Die Situation
    • Beschreibung 1
    • Die Situation
    • Beschreibung 2
  • Analytische Dimensionierung
    • Zur 1. Beschreibung – Soziale Räume und kindliche Selbstdarstellung
    • Zur 2. Beschreibung – Spielkultur und Geschlecht
  • Fazit
  • Literaturverzeichnis

Einleitung

Schule ist geprägt durch peerkulturelle Handlungen. Der Begriff Peerkultur bezeichnet die Kultur der Gleichaltrigen, also ihre Praktiken, ihr Wissen und ihr soziales Beziehungssystem (vgl. Breitenstein, 2008, S. 945). Die Peerkultur einer Schulklasse unterscheidet sich dabei noch einmal stark von der einer Clique, Bande oder einem Freundeskreis, da ihre Zugehörigkeit unfreiwillig ist und durch staatliche Zuteilung erzeugt wurde (vgl. Bennewitz und Meier, 2010, S. 98). Die Mitglieder einer Klasse verbringen über viele Jahre einen Großteil ihrer Tageszeit miteinander (vgl. ebd.). So entwickeln sich auch im Rahmen von Schule und innerhalb eines Klassenverbandes soziale Beziehungen und Freundschaftsgruppen (vgl. Breitenstein, 2008, S. 945) und es entstehen soziale Praktiken, mit denen die Schülerinnen und Schüler1 ihre unterrichtliche Umwelt sowie ihre Beziehungen gestalten (vgl. Bennewitz und Meier, 2010, S. 98). Es bildet sich innerhalb des Klassenverbands eine eigenständige Peerkultur, die weitgehend unabhängig von schulischen Zielsetzungen ist (vgl. Breitenstein, 2008, S. 945). Dennoch befinden sich SuS während eines Schultages in einem Spannungsverhältnis zwischen den vorgeschriebenen institutionellen- und unterrichtlichen Ordnungssystemen und denen der durch die Peerkultur vorgegebenen Dimensionen (vgl. Wagner-Willi, 2005, S. 65). Besonders die Pause, als strukturschwacher Übergang zur nächsten Unterrichtsstunde, zeigt ein Spannungsfeld zwischen den Peers, der Klassengemeinschaft und der Institution, „in denen vor allem durch Ritualisierungen Grenzziehungen und Gemeinsamkeiten in Gruppen hergestelltwerden“ (Tervooren, 2001, S. 205). Peers haben innerhalb der Schulzeit Räume und Zeiten, die von ihnen eingenommen werden können. Dazu gehören insbesondere der Pausenhof und die Pausen im Allgemeinen (vgl. Heinzel, 2012, S. 183). Die Schulpausen spielen also bei der Entwicklung der Peerkultur eine entscheidende Rolle. Sie dient als Rückzugsort der SuS, in denen sie ihre Rolle als Schüler/in teilweise ablegen und intensiv mit ihren Peers in den Austausch treten können. Wagner-Willi (2018) beschreibt die Pause als eine Art Hinterbühne, die den SuS als Entlastung und zum Bilden von Gemeinschaften innerhalb der Peers dient und knüpft dabei an die Theatermetaphorik Victor Tuners an (Breitenstein, 2008, S. 948). In dem Zusammenhang wird Schule als eine offene Bühne betrachtet, auf der das Lehr-Lern- Geschehen aufgeführt wird (vgl. Wagner-Willi, 2018, S.58). Diese Bühne wird aufgeteilt in eine Vorder- und Hinterbühne, wobei die Vorderbühne den Unterricht zeigt und die Hinterbühne (z.B. Toiletten oder Pausenplätze) der Entfaltung von Subkulturen wie den Peers oder auch zum Vor- und Nachbereiten von Unterrichtssituationen dient (vgl. ebd.). Die SuS bewegen sich also während eines Schultages auf den Bühnen des Klassenraums ständig zwischen der Peerkultur und der Unterrichtsordnung (vgl. Heinzel, 2012, S.178).

Im Fokus meiner Arbeit stehen Peerkulturelle Verhaltensweisen sowie Handlungen von SuS einer dritten Schulklasse während der Frühstückspause innerhalb der Schule als ihre alltägliche Lebenswelt. Die im Folgenden aufgeführten Beobachtungen stammen aus meinem Praxissemester. Während diesem fiel mir die Frühstückspause der SuS, also eine Phase am Tag, auf, die sich von den anderen Phasen während eines Unterrichtsmorgens stark unterschied. Wichtig dabei und bei den in dieser Arbeit noch folgenden Beobachtungen, ist zu erwähnen, dass das Schuljahr von der Corona Pandemie geprägt war. Aus dieser Lage heraus gab es Besonderheiten und veränderte Regeln im Schulalltag. Durch das Hygienekonzept der Schule waren besonders die soziale Interaktion der SuS untereinander eingeschränkt. Die Pausen eigneten sich also am besten, um Peerinteraktionen zu beobachten. Die Frühstückspause hob sich in der Zeit meines Praxissemesters von den anderen Pausen deutlich ab, da die SuS während dieser Zeit ihre Mund-Nasenschutze ablegen durften. Das ermöglichte mir, als Forscherin, ein ganz neues Beobachtungsspektrum, da ich somit auch die Mimik der SuS untersuchen konnte. Zudem führte das Ablegen der Maske und das Frühstücken zu einer angenehm entspannten Stimmung, die mich in kürzester Zeit etliche Interaktionen und Handlungsformen peerkulturellen Verhaltes beobachten ließen.

Methodische Vorgehensweise

Ethnographie als methodische Vorgehensweise

Die ethnographische Feldforschung beschäftigt sich mit der Untersuchung von Interaktions- und Lebensformen, Praktiken und Ritualen sowie einer (Alltags-)Kultur (vgl. Kuhlmann, o.J.). Dieser Forschungszugang verbindet vorwiegend qualitative Forschungsmethoden, um eine (Alltags-)Kultur möglichst genau untersuchen zu können (vgl. ebd.). Der ethnographische Forschungsansatz basiert auf der im frühen 20. Jahrhundert getätigten Erkundung fremder Kulturen im Zuge der Kolonialisierung europäischer Staaten (vgl. Breitenstein, Hirschauer, Kalthoff & Nieswand, 2015, S. 15). Die zentrale Methode der Ethnographie ist die teilnehmende Beobachtung, mit der auch in dieser Arbeit gearbeitet wurde (vgl. Kuhlmann, o.J.). Dabei nimmt der Forscher/ die Forscherin am Alltag der Beforschten teil, um auch Eigenlogiken des Feldes identifizieren zu können. Dabei ist das Einnehmen einer forschend- distanzierten Haltung des Ethnographen/der Ethnographin eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Untersuchung sozialer Praxen (vgl. Lindner und Rosenberger, 2019, S.64). Die Beobachtungen werden in „dichten“ Beschreibungen verschriftlicht. Die „dichten“Beschreibungen werden darauf folgend in analytischen Dimensionierungen untersucht. Diese setz eine analytisch-reflexive Leistung des Forschers/der Forscherin voraus, die dazu beiträgt, keine vorschnellen Schlüsse sowie Interpretationen zu ziehen (vgl. ebd., S.66). In meiner Arbeit zum Thema „Peerkultur in der Schule- Eine ethnographische Analyse peerkultureller Verhaltensweisen während der Frühstückspause“, habe ich mich, wie bereits erwähnt, mit peerkulturellen Interaktions- und Handlungsformen währen der Frühstückspause beschäftigt. Erst eine konsequente Beobachtung und anschließende Analyse des Schülerhandelns ermöglichte mir, die Frage zu beantworten. Dabei begegneten mir die Akteure in der Frühstückspause außerhalb eines unterrichtlichen Kontextes, durch den sich mir repräsentative Beobachtungen für die dichte Beschreibung ergaben.

Meine Rolle als Forscherin und die Reaktion des Feldes

Im Rahmen der ethnographischen Forschung und im Kontext meines Studienprojekts zu meinem Praxissemester habe ich das peerkulturelle Verhalten der SuS während der Frühstückspause beobachtet. Für die im weiteren Verlauf der Arbeit noch folgenden dichten Beschreibungen sowie deren Analyse ist es von Bedeutung, nicht nur das beobachtete „Feld“sondern auch sich selbst als Ethnograf/in zu reflektieren. Somit muss ich meinen Blick auch auf meine Rolle als Forscherin und die Reaktion des Feldes auf meine Anwesenheit als Forscherin bzw. Praxissemesterstudentin richten. Meine Beobachtungen habe ich gegen Ende meines Praxissemesters getätigt. Ich habe mir bewusst mit dem Start meiner Beobachtungen Zeit genommen, um die Klasse sowie deren Besonderheiten zunächst einmal genau kennenzulernen, ein Vertrauen zu den SuS aufzubauen und mir als Forscherin klar zu machen, was genau ich in meinen Beobachtungen beleuchten möchte. Somit war ich zum Zeitpunkt meiner Beobachtungen schon bereits ca. drei Monate ausschließlich in der Klasse drei, der Klasse meiner Mentorin, eingesetzt. In diesen ersten drei Monaten habe ich überwiegend die Rolle der Praktikantin übernommen. Diese Rolle zeichnete sich dadurch aus, dass ich zum Unterrichtsbeginn im hinteren Teil der Klasse saß. Während den Arbeitsphasen setzte ich mich dann unterstützend neben ausgewählte SuS. Vor allem im Fach Sachunterricht durfte ich nach kürzester Zeit auch in die Rolle einer Lehrkraft schlüpfen und den Unterricht ohne Begleitung durchführen. Die SuS konnten mich also in verschiedenen Rollen innerhalb ihrer Klasse kennenlernen. Kurz vor Ende meines Praxissemesters habe ich noch eine dritte Rolle innerhalb der Klasse eingenommen und zwar die der Ethnografin. Besonders in der Frühstückspause unterschied sich dabei mein Rollenverhalten als Praktikantin von dem der Ethnographin. In den ersten drei Monaten habe ich während der Frühstückspause versucht, eine Verbindung zu den SuS meiner Praxissemesterklasse aufzubauen. Ich habe stets gemeinsam mit den SuS gefrühstückt und mich mit den Kindern über schulische sowie außerschulische Dinge unterhalten. In der Rolle als Ethnographin habe ich mein Verhalten diesbezüglich verändert. Ich habe angefangen, vor der Frühstückspause, also wenn die SuS noch in ihrer Hofpause waren, zu frühstücken, damit ich während der Frühstückspause ausschließlich Zeit für die Beobachtungen hatte. Ich habe mich während der Frühstückspause mit meinem Notizblock auf meinen Platz im hinteren Teil der Klasse zurückgezogen, um alle SuS währen der Pause im Blick zu haben. Die Lehrerin sowie die SuS bemerkten mein verändertes Rollenverhalten, indem sie mich fragten, warum ich nicht mehr mitfrühstückte und was ich in meinen Notizblock schriebe. Ich erklärte den SuS meinen Beobachtungsschwerpunkt und warum ich das machte. Das Interesse der SuS als auch der Lehrkraft flachte nach kürzester Zeit merklich ab und sie agierten sich in den ethnografisch festgehaltenen Szenen authentisch.

Beschreibung der Lernkultur der Klasse

Die folgenden ethnographischen Ergebnisse wurden von mir im Rahmen meines Praxissemester an einer großen Schule im Kreis Siegen-Wittgenstein gesammelt. Aufgrund ihres großen Einzugsgebietes kommen SuS aus allen Sozialschichten zusammen, um gemeinsam unter einem Dach zu lernen. Die Schule zeichnet sich vor allem durch ihre hohe Heterogenität aus. Diese Heterogenität spiegelt sich auch in meiner Praxissemester Klasse wider. Ich habe mein ganzes Praxissemester in der Klasse drei, der Klasse meiner Mentorin, verbracht und in dieser auch meine Beobachtungen durchgeführt. Die Klasse besteht aus 23 SuS, davon zehn Jungen und 13 Mädchen. Davon haben elf Kinder einen Migrationshintergrund. Neben der Klassenlehrerin und mir, der Praxissemesterstudentin, befinden sich in der Klasse noch zwei Integrationskräfte, wobei die eine für einen Jungen mit Förderbedarf Lernen und die andere für einen Jungen mit Diabetes zuständig ist. Während meiner Zeit im Praxissemester waren die SuS, aufgrund der Corona Pandemie und den einhergehenden Regelungen, mehrere Monate im Wechselunterricht. Die SuS waren dafür in zwei Lerngruppen A (elf Kinder) und B (zwölf Kinder) eingeteilt, und hatten somit einen Tag Unterricht in der Schule und den nächsten Tag Homeschooling zu Hause, wo sie an einem Arbeitsplan arbeiten mussten. Aufgrund der schwierigen Corona Lage lässt sich die Lernkultur der Klasse, in der Zeit meines Praxissemesters, als eher geschlossen beschreiben. Das Hygienekonzept der Schule schrieb vor, dass alle SuS an Einzeltischen sitzen mussten und Gruppenarbeiten aus Infektionsschutzgründen untersagt waren. Zudem war das Tragen eines Mund-Nasenschutzes für alle SuS sowie LuL vorgegeben. Aufgrund der eingeschränkten Möglichkeiten habe ich in der Zeit des Wechselunterrichts ausschließlich Frontalunterricht der Klassenlehrerin gesehen. Hervorzuheben ist dabei die autoritäre Präsenz der Klassenlehrerin. Bei ihrer Anwesenheit arbeiten die Lerngruppen, während den Arbeitsphasen, ruhig und konzentriert. Für Unterstützung, aber auch für Vertretungssunden, war noch eine Vertretungslehrerin in der Klasse drei eingesetzt. Bei ihr als auch bei mir waren die SuS während des Unterrichts lebhafter und lauter, zum Teil auch unkonzentriert. Durch das hohe Maß an Unterstützung durch zum Zeil fünf Erwachsene in der Klasse (zwei I-Kräfte, Klassenlehrerin, Vertretungslehrerin und Praxissemesterstudentin) konnte optimal auf Lernschwierigkeiten der SuS eingegangen werden. Die SuS der Klasse waren die vielen Erwachsenen von Beginn ihrer Schulzeit an gewöhnt und fühlten sich in der Klasse gut aufgehoben. Sie scheuten sich nicht davor, auch Fragen zu stellen und offen zu kommunizieren, bei welchen Inhalten sie noch Schwierigkeiten hatten und sich so Unterstützung bei einem der Erwachsenen oder bei ihren Mitschüler/innen zu holen. Die Klassenlehrerin legte großen Wert darauf, dass jedes Kind in seinen Möglichkeiten bestmöglich betreut wurde. Eine angepasste und individuelle Beschulung der Kinder durch die Klassenlehrerin, mit individuellen Arbeitsblättern und Materialien, sollte die Leistungsbereitschaft der SuS erhalten und diese weiter fördern. Zum Ende des Praxissemester hatte sich die Corona Lage insoweit wieder etwas entspannt, dass kurz vor den Sommerferien wieder alle SuS in Präsenz zur Schule gehen konnten. Erst zu dem Zeitpunkt fiel mir auf, dass der Klassenraum für 23 SuS sehr klein war. Die Tische standen frontal zur Tafel ausgerichtet. Mein Platz war in der hinteren Ecke des Klassenraums direkt neben einem Waschbecken und vor der Eingangstür an einem kleinen Tisch, da sonst kein Platz in der Klasse mehr frei war. Zudem saßen im hinteren Bereich der Klasse die Vertretungslehrerin sowie die I-Kraft des Jungen mit der Diabetes Erkrankung direkt vor Regalen für die Schulranzen der SuS. Aufgrund der beengten Situation musste man immer aufstehen, wenn die SuS zum Waschbecken oder zu ihren Schulranzen wollten. Von der Klassenlehrerin war es erwünscht, dass alle Erwachsenen sich während der frontalen Phasen im hinteren Bereich der Klasse aufhalten sollten, um die Kinder nicht abzulenken. Während der Arbeitsphasen durften wir dann durch die Klasse gehen und uns als Unterstützung neben einzelne Kinder setzen.

Dichte Beschreibungen

Die Situation

Die Beobachtung wurde am Donnerstag, den 01.06.2021, ab 9:45 Uhr durchgeführt und dauerte bis 10:00 Uhr an. Beobachtet wurde das Peerverhalten der SuS einer dritten Klasse während der Frühstückspause zum Unterricht der dritten Stunde. Bei den beobachteten Personen handelte es sich um die Klasse drei und ihre Klassenlehrerin. Aufgrund der aktuellen Corona Regeln und dem damit einhergehenden Wechselunterricht, befand sich im Klassenraum lediglich die Hälfte der Schülerschaft. Es handelte sich um die Lerngruppe A mit insgesamt elf SuS. In den letzten Wochen hatte die Klassenlehrerin den SuS in der Frühstückspause aufgrund von Corona stets ein Kapitel aus einem Buch vorgelesen, da die SuS, aufgrund des von der Schule vorgegebenen Hygienekonzepts, alleine an Einzeltischen sitzen und sich ohne Maske nicht mit einem in der Nähe sitzenden Kind unterhalten sollten. Vor einer Woche wurde das letzte Kapitel des Buches vorgelesen und die Lehrkraft hat bis dato noch kein neues Buch angefangen. Die Frühstückspausen haben sich also insoweit von einer geordneten Atmosphäre zu einem ziemlichen Chaos verändert. Die Lehrkraft verlässt die Klasse während der Frühstückspause häufig und ich sitze oftmals alleine mit den SuS in der Klasse, da auch die I- Kräfte sich aktuell zum Frühstücken in einen an den Klassenraum benachbarten Besprechungsraum begeben. Während des Frühstücks dürfen die SuS ihren Mund-Nasenschutz abziehen, sich aber nicht ohne Maske im Klassenraum bewegen. Die Kinder sollten also ausschließlich an ihrem Sitzplatz frühstücken. Die SuS dürfen während der Pause jederzeit ihr Frühstück aus ihrem Schulranzen, der sich in einem Regal im hinteren Teil der Klasse befindet, holen oder wieder zurückbringen. Aufgrund von Corona hat die Schule versetzte Pausenzeiten, damit sich nicht alle SuS auf dem Schulhof begegnen. Somit findet die Frühstückspause nun immer nach der Hofpause ab 09:45 Uhr bis 10:00 Uhr statt. Währen der Beobachtung sitze ich an meinem üblichen Platz, an einem Einzeltisch im hinteren Teil der Klasse. Hinter mir befindet sich unmittelbar die Eingangstür und direkt rechts neben mir die Mülleimer sowie das Waschbecken der Klasse.

Beschreibung 1

Es ist 9:45 Uhr und der Schulgong ertönt. Ich packe mein Frühstück zusammen und ziehe meine FFP 2 Maske wieder auf. Auf dem Flur wird es laut. Ich höre Kinderstimmen und Schritte näher kommen. Mit einem Ruck wird die Klassentür aufgerissen. Mit einem lauten „Erster!“ steht Anna2 in der Tür. Sie wirkt außer Atem und etwas erschrocken als sie beim Aufreißen der Klassentür direkt in mein Gesicht blickt. Anna rennt an mir vorbei zu dem Schrank, in dem alle Schulranzen stehen, und holt ihre Brotdose sowie ihre Trinkflasche aus dem Rucksack. Sie schiebt den Rucksack wieder zurück in den Schrank, geht an ihren Platz und packt ihr Frühstück aus. In der Zwischenzeit kommen noch drei weitere Kinder in die Klasse gerannt. Die drei gehen auch an den Schrank mit den Schulranzen und holen ihre Brotdose aus der Tasche, mit der sie sich dann, immer noch rennend, an ihren Tisch setzen. Aus dem Flur höre ich jemanden rufen. Benjamin kommt zusammen mit Nina in die Klasse geschlendert und ruft „Händewaschen!“. Ich muss aufstehen, damit die Kinder an das Waschbecken kommen können. Vor dem Waschbecken und dem Desinfektionsspender neben der Tür bildet sich ein Getümmel. Auch die vier bereits frühstückenden Kinder stehen wieder von ihrem Platz auf und stellen sich vor das Waschbecken oder desinfizieren sich ihre Hände am Desinfektionsspender. Kurz danach erscheint die Klassenlehrerin in der Klassentür. Mit einem Kaffee in der Hand drängt sie sich durch das Getümmel an der Tür und hebt dabei die Kaffeetasse mit beiden Händen über ihren Kopf. Mit großen Schritten geht sie zum Pult, stellt den Kaffee ab, hebt ihre Tasche vom Boden auf, stellt sie auf das Pult und holt ein DIN A 4 Blatt aus ihrer Tasche. Mit großen Schritten verschwindet sie wieder aus der Klasse und ruft, noch während sie geht, „Ich muss nochmal kurz in die Notbetreuung.“ dabei wedelt sie mit dem von ihr zuvor aus der Tasche geholte DIN A 4 Blatt. Ich schaue durch die Klasse und sehe Sonida und Ayla. Ayla sitzt an ihrem Einzeltisch vor Sonida. Die beiden haben ihren Blick jeweils nach vorne zur Tafel ausgerichtet. Ayla dreht sich jedoch alle paar Sekunden zu Sonida um, grinst diese an, zeigt ihr Pausenbrot und beißt herein. Sonida macht dasselbe. Beiden Mädchen reden nicht miteinander, aber zeigen sich vor jedem Biss, was sie als Nächstes essen werden und lachen dabei. In der Klasse ist es laut, einige Kinder reden miteinander. Erst jetzt tauchen plötzlich Pia, Tom und Lukas im Türrahmen der Klassentür auf. Ich schaue auf die Uhr oberhalb der Klassentür, es ist 9:52 Uhr. Ich denke mir, dass die Kinder ganz schön spät sind und frage mich, wo sie noch so lange geblieben sind. Lukas hält einen Fußball unter dem rechten Arm. Die drei haben hochrote Köpfe und ich sehe, wie Tom sich Schweiß von seiner Stirn mit dem Arm an seinem T-Shirt abwischt. Während Lukas den Fußball zurück in die Spielkiste legt, ruft er „Man! Was ein Spiel!“ durch die Klasse. Pia, die am Waschbecken steht, und Tom, der gerade sein Frühstück aus seinem Schulranzen holt, nicken und bejahen die Aussage von Lukas. Ich bemerke, dass die Lautstärke in der Klasse leiser geworden ist und die meisten SuS ihre Köpfe in Richtung der drei drehen. Pia, Lukas und Tom beginnen sich, noch während sie zu ihren Sitzplätzen gehen, über das Fußballspiel in der Pause zu unterhalten. Nach kurzer Zeit ist das Fußballspiel das dominierende Gesprächsthema in der Klasse. Lukas erzählt den Mitschüler/innen von dem Spiel und gestikuliert dabei wild mit den Armen. Er erzählt, dass er die gegnerische Mannschaft „platt“ gemacht habe und dabei vier Tore geschossen habe. Immer wieder treten andere Kinder dem Gespräch mit einem Wortbeitrag bei. Andere Kinder schauen währenddessen sie frühstücken in Richtung der Gruppe, lächeln ab und zu und nicken. Plötzlich ruft Pia: „Lukas, du hast ja noch gar nichts gegessen!“. Lukas wirkt erschrocken, fängt dann an zu lachen und sagt, dass er das ganz vergessen habe. Er steht lachend von seinem Platz auf, zieht seine Maske auf und geht in die Richtung seines Schulranzens. Die Klasse lacht und schaut hinter Lukas her. In dem Moment kommt die Klassenlehrerin zurück in die Klasse. Sie wirkt verwundert, schaut auf ihre Armbanduhr und fragt die Kinder, was denn los sei. Nachdem ihr ein Mädchen aus der ersten Reihe die Situation erklärt hat, schüttelt sie den Kopf und setzt sich an ihr Pult. Anna beginnt als Erste ihr Frühstück einzupacken. Sie zieht ihre Maske auf und bringt ihre Brotdose zurück in ihren Schulranzen. Vereinzelt packen auch andere Kinder ihr Frühstück zusammen und räumen ihren Tisch auf. Sie ziehen ihre Masken auf und gehen in Richtung Schulranzenregal in den hinteren Teil der Klasse. Am Regal bildet sich ein Getümmel. Einige Kinder reden miteinander und andere versuchen, sich an ihnen vorbeizudrücken und an ihre Schulranzen zu kommen. Lachend schlendern Hannah und Pia gemeinsam vom Regal zurück zu ihren Plätzen, indem sie bis zur Mitte des Klassenraums gehen und sich dann zuwinken, als jede in eine andere Richtung abbiegen muss. Um 9:59 Uhr schaut die Lehrerin auf ihre Armbanduhr und bittet die Kinder langsam zum Ende zu kommen. Die meisten Kinde haben ihr Frühstück bereits weggeräumt. Lukas ist der Letzte, der Schulgong ertönt erneut. Lukas beißt noch einmal einen großen Bissen von seinem Brot ab, bevor er es wieder zurück in seine Brotdose legt und ebenfalls sein Frühstück wegpackt.

Die Situation

Die Beobachtung wurde am Dienstag den 15.06.2021, ab 9:50 Uhr durchgeführt und dauerte bis 10:00 Uhr an. Es handelte sich hier wieder um denselben Beobachtungsschwerpunkt wie in der ersten Beschreibung. Bei den beobachteten Personen sind es ebenfalls die Klasse drei und ihre Klassenlehrerin, wobei sich diesmal alle 23 SuS im Klassenraum befanden, da seit dem 07.06.2021 wieder alle SuS der Schule am Präsenzunterricht teilnehmen durften. Der Ablauf der Frühstückspause hat sich seit der letzten Beobachtung nicht verändert. Auch die Hygieneregeln sind gleichgeblieben, Hände waschen oder desinfizieren nach der Pause und die Maskenpflicht besteht weiterhin, allerdings sitzen die SuS nun nicht mehr alleine an Einzeltischen, sondern haben wieder Sitznachbarn. Aufgrund der zu der Zeit sehr niedrigen Inzidenzwerte dürfen die SuS ihre Masken nun auch seit einem Tag auf dem Schulhof abnehmen. Deswegen dürfen sich die SuS jetzt auch, nach ihrem Frühstück und mit Mundschutz, während der Frühstückspause frei in der Klasse bewegen.

Beschreibung 2

Es ist 9:50 und ich sitze an meinem üblichen Platz im hinteren Teil der Klasse. Die meisten Kinder haben ihr Frühstück schon aus ihrem Schulranzen geholt. Ich habe meinen Stuhl ein Stück zur Seite gerückt, da noch fünf Kinder neben mir vor dem kleinen Waschbecken stehen, Hände waschen und sich dabei unterhalten. An den Schulranzenregalen stehen ebenfalls noch Kinder und unterhalten sich, während sie ihre Brotdose sowie ihre Trinkflasche aus dem Schulranzen kramen. Es ist laut in der Klasse. Die meisten SuS sitzen neben ihrem Sitznachbarn und unterhalten sich oder frühstücken und schauen dabei in der Klasse herum. Pia, die neben mir am Waschbecken steht, schaut, während sie sich die Hände wäscht, in Richtung Klasse. Sie zieht ihre Hände aus dem Wasserstrahl des Wasserhahns zurück, trocknet diese an ihrem T- Shirt ab und läuft währenddessen in Richtung Schulranzenregal. Dabei ruft sie laut „Ich habe Pop its3 dabei!“. Sie zieht ihren Schulranzen aus dem Regal, stellt ihn auf den Boden und kramt daraus ihre Brotdose, Trinkflasche und sechs bunte Förmchen. Vollbepackt läuft sie in Richtung ihres Sitzplatzes. Mia, die neben Pia sitzt, hat ihren Blick zu Pia gewandt und hüpft, mit ihrem Po, auf ihrem Stuhl auf und ab und klatscht dabei in ihre Hände, während Pia in Richtung ihres Sitzplatzes geht. Pia lässt ihr „Gepäck“ auf ihren Tisch fallen, zieht ihre Maske aus und ruft laut „Wer will eins?“ in die Klasse wobei sie in jeder Hand ein Förmchen hält, Pop its sind ein Jugendkulturelles Fidget Spielzeig, das in den letzten Monaten aufgekommen ist und schnell an Beliebtheit gewonnen hat. Pop its sind bunte Formen aus Silikon, die viele runde, daumengroße Noppen haben. Diese Noppen können nach innen gedrückt werden. Ähnlich des vor einigen Jahren populären Fidget Spinners, sollen Pop its dem Abbau von Stress oder innerer Unruhe dienen (vgl. Grüneberg, 2021).

mit dem sie hin und her wedelt. Verschiedene Kinder aus der Klasse reagieren auf Pias Frage mit einem „Ich, ich, ich!“ und heben eine Hand. Mehmet und Tom springen von ihren Plätzen auf und laufen zu Pia, dabei haben sie keinen Mund-Nasenschutz auf und werden von einigen Kindern direkt ermahnt, indem diese „MASKE!“ rufen. Mehmet und Tom schauen sich gegenseitig mit weit aufgerissenen Augen an, sie wirken erschrocken, dann fangen sie an zu lachen, halten sich eine Hand vor den Mund und rennen wieder in Richtung ihrer Sitzplätze. An Pias Tisch hat sich in der Zwischenzeit ein Getümmel gebildet. Acht Kinder stehen um ihren Tisch herum und fragen, ob sie ein Pop It haben dürfen. Pia verteilt die Pop its an ihre Mitschüler/innen und behält eins für sich und gibt das andere Mia, ihrer Sitznachbarin. Die Kinder laufen mit dem Spielzeug zurück an ihren Platz und fangen sofort an, die kleinen Noppen der Pop its zu drücken. In der ganzen Zeit frage ich mich, was das für ein Spielzeug ist und wende mich an Yasmin, die vor mir sitzt. Auch sie hat ein Pop It von Pia ergattert und drückt mit der rechten Hand die Noppen des Förmchens nach unten und hält mit der anderen Hand einen Apfel. Ich frage sie, was das sei und sie erklärt mir, was man mit dem Pop It machen könne. Dabei gibt sie mir ihres in die Hand und lässt mich das Spielzeug auch einmal ausprobieren. Ich bemerke, dass das Förmchen ganz weich ist, es fühlt sich an wie eine Silikonform zum Backen. Einige Kinder in der Umgebung haben meine Frage an Yasmina anscheinend auch gehört, oder meinen fragenden Blick gesehen, denn sie stehen von ihrem Plätzen auf und kommen zu Yasmins Tisch oder drehen ihre Stühle zu diesem um und steigen direkt in das Gespräch mit ein. Ich frage die Kinder, wofür man das Spielzeug braucht. Daraufhin beginnt in der Gruppe eine Diskussion über die Sinnhaftigkeit der Pop Its, bei der sich immer mehr Schüler/innen mit Wortbeiträgen beteiligen. Nach kürzester Zeit sind die Pop Its das Hauptgesprächsthema innerhalb der Klasse, da sich nun mehrere Gruppen von vier bis sechs Kindern im Raum verteilt gebildet haben und ich hören kann, wie sie darüber sprechen. Im vorderen Teil der Klasse stehen einige Kinder um den Tisch von Elodie und Sascha herum. Es scheint so als würden die beiden miteinander spielen und ich höre, wie die um den Tisch herum stehenden Kinder rhythmisch ihre Namen rufen. Elena, die in einer Gruppe mit Linn, Mila, Pia und Yasmin vor mir steht, sagt, dass die Pop Its „voll cool“ sind und dass sie auch welche zu Hause habe, daraufhin sagt Tom, der in einer Jungsgruppe mit Anton, Emre und Mehmet neben den Mädchen steht, dass er mindestens zehn Stück zu Hause habe. Die nächsten Minuten beginnt zwischen den beiden Gruppen eine weiter Diskussion, wer die meisten Pop its zu Hause habe. Tom schlägt vor, das Ganze mit einem Spiel Mädchen gegen Jungs zu entscheiden. Elena dreht sich zu ihrer Gruppe um, die Mädchen nicken und Elena bejaht das Duell. Die SuS fragen mich ,ob ich Schiedsrichterin sein könne und setzen sich vor mich an Yasmins Tisch. Als Erstes setzen sich Elena und Tom nebeneinander, beide haben ein Pop It vor sich liegen. Auf „Los“ versuchen sie so schnell wie es geht, alle Noppen ihres Pop Its runterzudrücken. Tom ruft als Erster „Fertig!“ und streckt beide Arme in die Luft. Emre haut Tom darauf auf die Schulter und sagt, dads die Jungs besser seien als die Mädchen. Das Ganze wird von der Mädchengruppe mit einem „Gaar nicht!“ kommentiert wobei alle lachen. Tom und Elena stehen von ihren Plätzen auf. Linn und Emre setzen sich dafür auf ihre Plätze und ein weiteres Spiel beginnt. Ich gebe meinen Schiedsrichterposten an Elena ab. Ich widme mich wieder meinen Beobachtungen und versuche, mich im Gewusel der Klasse auf einzelne Kinder zu konzentrieren. Mir fällt Gizem auf. Sie sitzt alleine an ihrem Platz, hat ein Mandala vor sich liegen und malt dieses, während sie ab und zu in ihr Brot beißt, aus. Als Anna, ihre Sitznachbarin, aus einer der Diskussionsgruppen wieder an ihren Platz geht, schaut Gizem nur kurz auf, lächelt und widmet sich dann wieder dem Ausmalen des Bildes. Anna setzt sich neben Gizem, zieht ihre Maske aus und fängt an, mit einem der Pop Its zu spielen. Es ist 09:57, die Klassenlehrerin kommt mit einem Kaffee in der Hand durch die weit offenstehende Eingangstür der Klasse. Sie bleibt vor einer, mit den Pop Its spielenden Gruppen stehen, schaut den Kindern einige Sekunden beim Spielen zu und geht dann durch die Klasse in Richtung ihres Pults. Währenddessen erinnert sie die SuS, dass sie nicht nur spielen, sondern bitte auch frühstücken sollen. Am Pult angekommen zieht sie ihre FFP2 Maske aus legt sie auf den Tisch, lehnt sich in ihrem Stuhl zurück, überschlägt die Beine und beginnt von ihrem Kaffee zu trinken, während sie ihren Blick durch die Klasse wandern lässt. Um 09:58 erinnert die Klassenlehrerin die SuS langsam zum Ende zu kommen und ihr Frühstück zurück in ihren Schulranzen zu räumen. In der Klasse wird es wieder unruhig. Die Spielgruppen lösen sich langsam auf. Überall laufen Kinder umher und setzen sich wieder auf ihre Sitzplätze oder räumen ihr Frühstück in ihren Schulranzen am Schulranzenregal. Dabei höre ich, wie die Kinder miteinander sprechen, kann aber, aufgrund der Lautstärke innerhalb der Klasse, kein konkretes Gespräch mehr raushören. Pia steht von ihrem Platz auf, zieht ihre Maske auf, klemmt ihre Trinkflasche unter ihren linken Arm, nimmt ihre Brotdose in eine Hand und beginnt mit der anderen ihr und Mias Pop It auf ihrer Brotdose zu stapeln. So bepackt läuft sie durch die Klasse und sammelt ihre an ihre Mitschüler/innen verteilten Pop Its ein und bringt diese sowie ihr Frühstück zurück in ihre Schultasche. Als der Pausengong ertönt, rennen alle Kinder, die noch nicht auf ihren Plätzen sitzen, zurück zu ihren Tischen und es kehrt langsam Ruhe ins Klassenzimmer ein.

Analytische Dimensionierung

Der Übersicht halber beziehe ich mich in den folgenden analytischen Dimensionierungen auf die folgenden vier Beobachtungsschwerpunkte: soziale Räume, kindliche Selbstdarstellung, Spielkultur und Geschlecht. Diese sind mir bei der Analyse der dichten Beschreibungen besonders aufgefallen, da sie eine besondere Bedeutung bei der Interaktion von Peers einnehmen. Die Auswahl der eben genannten Kategorien schließt natürlich andere wichtige Punkte nicht aus, die allerdings in dieser Arbeit nicht weiter oder nur bedingt analysiert werden.

Zur 1.Beschreibung – Soziale Räume und kindliche Selbstdarstellung

Der Schulgong ertönt und läutet somit als akustisches Signal einen Szenenwechsel ein und kündigt den Beginn der Frühstückspause an. Die SuS der dritten und vierten Klassen stürmen vom Schulhof zurück in das Schulgebäude und in ihre Klassen. Das ruckartige Aufreißen der Schultür durch Anna und ihre Aussage „Erster!“ zu sein macht den Anschein eines Wettkampfs. Möglicherweise eines Wettkampfes, der zwischen den Peers auf dem Flur ausgetragen wurden. Dabei gehört das sich gegenseitige Herausfordern der Peers untereinander zu typischen peerkulturellen Handlungen, die sich im Laufe meiner Analyse noch das ein oder andere Mal wiederfinden. Annas direkter Gang zu ihrem Schulranzen, um ihre Brotdose und ihre Trinkfalsche herauszuholen, lasst sich als eine ritualisierte Handlung deuten, aus der sich schließen lasst, dass Anna genau weiß, welche Phase des Schultages nun erreicht ist und dass in dieser Phase gefrühstückt wird. Ihre Mitschüler/innen tun es ihr in den nächsten Minuten gleich, auch ihnen ist der Phasenwechsel dem Anschein nach bewusst. Das Geschehen in der nächsten Szene weckt meine Aufmerksamkeit. Benjamin kommt in die Klasse geschlendert und erinnert seine Mitschüler/innen lautstark an das Händewaschen. Dabei schlüpft Benjamin in die Rolle der Klassenlehrerin, die diese Handlung in den letzten Wochen auch das ein oder andere Mal getan hat, und weist seine Peers auf bestehende Regeln hin. Seine Ermahnung bewirkt, dass seine Peers tatsächlich auf ihn hören, aufstehen und zum Waschbecken oder zum Desinfektionsspender gehen. Möglicherweise, weil sie wissen, dass es diese Regel gibt und wissen, dass sie wichtig ist. Man könnte aber auch vermuten, dass Benjamin hier eine Art Anführerrolle einnimmt und die Peers alleine deswegen auf ihn hören. Kurz danach erscheint die Klassenlehrerin in der Tür. Ihr daraufhin wieder schnelles Verlassen der Klasse bewirkt, dass der Klassenraum plötzlich zur Hinterbühne wird, in der die Peerkultur Überhand gewinnt und Zeit hat, sich zu entfalten (vgl. Wagner-Willi, 2018, S. 58). Die darauffolgenden Szenen sind durch das Entstehen von sozialen Räumen unterhalb der Peers, innerhalb des Klassenraums, geprägt. Als Erstes fällt mir das Verhalten der beiden Mädchen Sonida und Ayla auf. Die beiden Mädchen sitzen voreinander an ihren Einzeltischen. Dabei dreht Ayla sich immer wieder zu Sonida um und zeigt ihr bei jedem Bissen, was sie als nächstes essen werde. Die beiden Mädchen kommunizieren dabei ausschließlich nonverbal miteinander. Sie bilden ihren eigenen sozialen Raum innerhalb der Peerkultur der Klasse, der sich als eine Art Fernraum beschreiben lässt (vgl. Bennewitz und Meier, 2010, S. 104). Dass Ayla ihren Stuhl nicht einfach zu Sonida umdreht und mit ihr so in Kontakt tritt, könnte an den Hygieneregeln der Klasse liegen. Das Eintreten Pias, Toms und Lukas in die Klasse lässt einen ganz neuen sozialen Ort entstehen. Und zwar den der Bühne. Offensichtlich kommen die drei gerade von einem anstrengenden Fußballspiel auf dem Pausenhof, zurück. Vermuten lässt sich dies durch ihren mit sich geführten Fußball und ihren hochroten Köpfen. Lukas eröffnet seine „Show“, indem er mit seinem Satz „Man! Was ein Spiel!“ seine Peers auf ein vermutlich spannendes Erlebnis in der Pause aufmerksam macht. Er schafft es so, die Aufmerksamkeit seiner Peers auf sich und sein Erlebnis zu richten. Viele der Peers richten ihren Blick zu Lukas und erzeugen somit eine Bühne, die Lukas nutzt, um seine Geschichte zu erzählen (vgl. ebd.). Die Bühne und das Publikum bedingen sich hier also wechselseitig, da nur durch die Aufmerksamkeit des Publikums die Bühne entstehen kann (vgl. ebd., S. 103). Lukas und seine Geschichte werden für seine Peers zur Vorderbühne und zum dominierenden Gesprächsthema. Dabei steht die soziale Identität des Peers Lukas, noch lange nach der Hofpause im Vordergrund. Er nutzt die Möglichkeit, seine Pausenaktivität zu verarbeiten, in dem er seine Erlebnisse mit seinen Peers teilt. Es ist auch möglich, dass Lukas durch seine Erzählung und seine Aussage, die gegnerische Mannschaft „platt“ gemacht zu haben, nach sozialer Anerkennung durch seine Peers sucht. Thiel beschreibt dies als ein typisches Peerverhalten und von zentraler Bedeutung für die Identitätsentwicklung der Kinder (vgl. Thiel, 2016, S. 49). Lukas Bühne verschwindet wieder als Pia anmerkt, dass er noch gar nichts gegessen habe und die Klassenlehrerin die Klasse betritt. Somit beendet das Einmischen des Publikums Lukas Bühnenaufführung (vgl. Bennewitz und Meier, 2010, S. 104). Die Peers wechseln wieder zurück aus ihrer Rolle als Publikum und wenden ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge. Das Eintreten der Klassenlehrerin in die Klasse, deutet auf ein baldiges Ende der Frühstückspause hin. Die ersten SuS beginnen schon, ihr Frühstück wegzupacken, ob dies nun geschieht, da die Klassenlehrerin die Klasse betreten hat oder weil die Kinder satt sind und fertig gefrühstückt haben, lässt sich in diesem Zusammenhang nicht eindeutig erklären. Durch das Wegräumen des Frühstücks und das daraus folgende Umherlaufen der SuS durch die Klasse, kommt es vor dem Schulranzenregal zu einem Getümmel und zu einem deutlichen Anstieg der Lautstärke in der Klasse. Hier lässt sich erneut die Entstehung von sozialen Orten innerhalb der Peerkultur erkennen. Durch den Standortwechsel begegnen sich nun auch Peers, die in der Klasse nicht unmittelbar nebeneinandersitzen. Der Anstieg der Lautstärke lässt vermuten, dass sich hier der flüchtige soziale Räum der Begegnung ergibt, in dem die SuS den Standortwechsel verwenden, um Kommunikationsgelegenheiten mit Peers zu nutzen und mit diesen in Kontakt zu treten (vgl. Bennewitz und Meier, 2010, S. 105). Zu sehen ist dieser soziale Ort vor allem an den beiden Mädchen Hannah und Pia, die sich am Schulranzenregal begegnen und daraufhin gemeinsam zurück zu ihren Plätzen laufen, sich aber in der Mitten des Klassenraums trennen, um zu ihren Sitzplätzen zu gehen. Dabei winken sich die beiden Mädchen so lange zu, bis sie auf ihren Plätzen sitzen, was zudem wieder auf einen Fernraum als sozialer Ort mit seiner nonverbalen Kommunikation hinweist (vgl. ebd.). Die Beobachtung endet mit dem Ertönen des Schulgongs.

Zur 2. Beschreibung – Spielkultur und Geschlecht

Die dichte Beschreibung beginnt mit Beobachtungen am Waschbecken und am Schulranzenregal, an denen noch SuS stehen und sich unterhalten, während sie Hände waschen oder ihr Frühstück auspacken. Anknüpfend an die erste Beschreibung lässt sich auch hier wieder der flüchtige soziale Ort Begegnung erkennen (vgl. Bennewitz und Meier, 2010, S. 105). Die Kinder nutzen den kurzen Moment der Begegnung, um mit ihren Mitschüler/innen Kontakt aufzunehmen. Die darauffolgende Szene weist eine ganz neue Analysekategorie auf, die sich in der ersten Beschreibung nicht beobachten ließ und zwar die der Spielkultur der Peers. Pia läuft nach dem Händewasche zu ihrem Schulranzen und holt mehrere Pop Its aus ihrer Tasche. Dies verkündet sie der Klasse unverzüglich und lautstark. Da kein Kind fragt, was das sei, lässt sich vermuten, dass das Spielzeug Pop It bereits Teil ihrer Peerkultur ist und aufgrund dessen alle Kinder mit dem Spielzeug vertraut sind. Hier lässt sich eine Verschmelzung der konjunktiven Erfahrungswelt der Peers mit der der Schule erkennen. Die Spielzeit innerhalb der Schulzeit ist begrenzt. Dabei gibt die Frühstückspause ein Zeitkontingent von 15 Minuten vor, das die Kinde zum Spielen und zum Frühstücken nutzen dürfen. Die schnellen Bewegungen Pias, ihr Rennen und ihr hektisches Kramen im Schulranzen lässt vermuten, dass sie diese ihr zur Verfügung stehende „Spielzeit“, optimal nutzen möchte und dabei keine Zeit verschwenden will. Das Verteilen der Pop Its an ihre Mitschüler/innen kann hier auch wieder als Wunsch nach sozialer Anerkennung gedeutet werden, wie es in der ersten Beschreibung bei Lukas der Fall war sowie als eine Form des sozialen Austauschs. Während Pia die Pop Its verteilt, laufen Mehmet und Tom ohne Maske durch die Klasse. Dabei werden sie von ihren Peers direkt ermahnt. Trotz Pause gelten hier also, wie auch schon in der ersten Beobachtung beschrieben, Regeln. die anscheinend von allen SuS akzeptiert werden, denn die beiden holen ihre Maske unverzüglich nach der Ermahnung von ihren Plätzen. Als ich Yasmin frage, was das für ein Spielzeug sei und wofür man dies brauche erklärt sie mir das Ganze ausführlich. Sie lässt mich für kurze Zeit ein Teil ihrer Peerwelt sein, gibt mir das Pop It in die Hand und lässt mich auch einmal damit spielen. Dabei erklärt sie mir die Funktion und Sinnhaftigkeit. In der Zwischenzeit bilden sich verschiedene Gruppen, wobei eine Gruppe im vorderen Teil der Klasse auffällt. Einige Kinder stehen um den Tisch von Elodie und Sascha herum. Die beiden haben angefangen, miteinander und mit zwei Pop Its von Pia zu spielen und werden von ihren Zuschauern angefeuert. Für das Spiel von Elodie und Sascha braucht es dem Anschein nach also nur zwei Mitspieler/innen. Ihr Tisch ist dabei zum Spielfeld geworden. Innerhalb der Spielgemeinschaft haben sich zwei Gruppen gebildet. zum einen die der Spieler und zum anderen die der Zuschauer. Die Zuschauer bilden dabei den Rahmen des spezifischen und unwiederholbaren Ereignisses und werden auf diese Weise zu einem Teil der Spielgemeinschaft (vgl. Tervooren, 2001, S. 234). Ein ähnliches Verhalten des „miteinander Spielens“ zeigt sich auch in der darauffolgenden Szene. Elena und Tom unterhalten sich darüber, wer mehr Pop Its zu Hause habe. Dabei wird die Diskussion durch Tom, mit seinem Vorschlag, das Ganze in einem Duell auszutragen, in ein Spiel überführt. Hier gilt es anzumerken, dass der Ausgang dieses Spiels keine Antwort auf diese Frage bietet. Möglicherweise nutzt Tom den Vorschlag nur als Vorwand, um endlich mit dem Spielen anzufangen und damit die Diskussion zu beenden. Dabei organisiert das Spiel eine Entscheidung mithilfe eines Wettkampfes (vgl. ebd., S.228). Bei der Szene kommt aber noch eine andere Kategorie, die bis jetzt noch nicht berücksichtigt wurde, zum Tragen. Die Kategorie des Geschlechts. Zum einen ist erkennbar, dass Tom und Elena in geschlechterhomogenen Gruppen beieinander stehen, die zunächst in keiner Interaktion zueinander stehen. Die Gruppen unterhalten sich zunächst in ihrer eigenen Kleinwelt, deren Kommunikation ausschließlich auf die Teilnehmer dieser Gruppe begrenzt ist (vgl. Bennewitz und Meier, 2010, S. 105). Eine Erklärung für die geschlechterhomogenen Gruppen könnte Freundschaft sein. Diese Vermutung ergibt sich durch andere Beschreibungen außerhalb dieser Arbeit und basiert darauf, dass sowohl die genannten Mädchen als auch die genannten Jungen oft die Pause miteinander verbringen und miteinander spielen. Zudem scheint Geschlecht eine Art interessengeleitete Gruppe zu sein. Wobei an den Pop Its beide Geschlechter gleich viel Interesse zeigen. Der Kontakt zwischen den beiden Geschlechtergruppen wird erst durch Toms Einmischen in Elenas und mein Gespräch hergestellt, als er behauptet, mehr Pop Its zu Hause zu haben als Elena. Diese Bemerkung könnte man als eine Art Prahlen vor den eigenen Peers interpretieren, ob diese eventuell nur geschieht, um der Mädchengruppe zu imponieren, lässt sich an dieser Stelle nicht sagen. Tom schlägt ein Duell Jungen gegen Mädchen vor. Dieses Duell beinhaltet eine Konkurrenz der beiden Geschlechter. Das plötzliche Beziehen Toms auf das Geschlecht zwingt die Kinder automatisch, sich an Geschlechternormen zu orientieren (vgl. Tervooren, 2001, S. 243). Nach dem Beschluss, das Duell durchzuführen, schlägt Tom mich als Schiedsrichterin vor. Möglicherweise, weil er der gegnerischen Gruppe nicht vertraut oder einfach nur, weil ein/ein Schiedsrichter/in zu einem „richtigen“ Spiel dazugehört. Der erste Wettkampf wird zwischen Tom und Elena ausgerichtet. Toms Sieg kommentiert Emre. Die Aussage Emres impliziert, dass Jungs in allen Sachen besser seien als Mädchen, allerdings lässt sich vermuten, dass Emre die Aussage ausschließlich im Kontext des Spiels gewählt habe und diese nicht als allgemeingültig verstanden werden muss. Dennoch lässt er mit seinen Worten eine Hierarchie zwischen den beiden Geschlechtern entstehen. Es scheint aber, als sei das der Mädchengruppe egal, denn sie reagieren nicht wütend auf die Aussage. Ganz im Gegenteil, sie lachen die ganze Zeit und verteidigen sich ausschließlich verbal. Auch fahren sie danach gleich mit einem Platzwechsel und somit mit dem Spiel fort. Nach Elena und Tom sind Linn und Emre an der Reihe. Sie werden so vom Zuschauer zum Mitspieler. Durch das Spiel bildet sich eine temporäre geschlechterheterogene Gemeinschaft zwischen den beiden Gruppen (vgl. ebd., S. 230). Das Verhalten von Gizem habt sich von dem Verhalten ihrer Peers ab. Sie hat weder die Rolle einer Zuschauerin noch die einer Mitspielerin eingenommen. Sie sitzt alleine an einem Doppeltisch und malt ein Mandala aus. Hier lässt sich noch ein weiterer sozialer Raum erkennen, der in der ersten Beschreibung nicht beobachtet werden konnte. Der soziale Ort der„Für-Sich-Welt“ (vgl. Bennewitz und Meier, 2010, S. 102). Gizem weist keine Interaktion mit ihren Peers auf und es scheint, als würde sie das auch nicht anstreben. Als Anna sich neben Gizem setzt, lächelt sie diese nur kurz an und widmet sich dann wieder ihrer eigenen Welt, dem Mandala. Es scheint, als sei Gizem kein Teil der Peerkultur innerhalb der Klassengemeinschaft. Es lässt sich nicht erkennen, warum das so sein sollte. Beobachtungen außerhalb dieser Arbeit haben allerdings gezeigt, das Gizem sehr wohl einen Platz innerhalb der Klassengemeinschaft hat, sich aber oft sehr ruhig und zurückhaltend verhält. Sie wirkt jedoch dennoch sehr zufrieden und glücklich. Ob sie sich nun in der von mir beobachteten Szene aus der Peergemeinschaft zurückzieht, weil sie vielleicht einen Streit mit ihren Freunden hatte oder einfach nur, weil sie die Pause zum Frühstücken nutzen möchte, lässt sich nicht sagen. Als die Klassenlehrerin kurz vorm Ende der Stunde in die Klasse kommt, schenken die meisten SuS ihr keine Aufmerksamkeit. Nur wenige Kinder der Spielgruppen schauen kurz auf und fahren danach direkt wieder unbeirrt fort. Es scheint so, als seien die meisten SuS in ihre besondere Welt des Spiels versunken, und als würden sie das Geschehen um sie herum kaum mehr wahrnehmen. Trotz dem Eintreten der Klassenlehrerin halten die Peers die Vorderbühne aufrecht und der institutionelle Kontext wird durch sie in der Zwischenzeit ausgeblendet. Es lässt vermuten, dass sie sich in einer Art Spielrausch befinden, der sie alles um sich herum vergessen lässt (vgl. Tervooren, 2001, S. 247). Dieser Spielrausch hält noch so lange an, bis die Klassenlehrerin die SuS daran erinnert, langsam zum Ende der Frühstückspause zu kommen. Gefrühstückt hat in dieser Pause kaum jemand, die meisten Brotdosen sind noch gefüllt, als die SuS diese wieder zurück in ihre Schulranzen räumen. Pia läuft durch die Klasse und sammelt ihre Pop Its wieder ein. Ihre Mitschüler/innen geben ihr diese unaufgefordert zurück. Was zeigt, dass die SuS sehr wahrscheinlich wissen, dass die Pop Its Eigentum von Pia sind. Mit dem Pausengong und dem Wegpacken der letzten Spielzeuge beginnt die Klassenlehrerin den Unterricht.

6. Fazit

In meiner Arbeit lassen sich viele peerkulturellen Handlungen beobachten. Ich habe mit meinen Beobachtungen versucht, einen groben Überblick über das Feld Peerkultur in der Schule zu schaffen. Während meiner Analysen haben sich mit der Zeit vier spezifische Analysekategorien, soziale Räume, kindliche Selbstdarstellung, Spielkultur und Geschlecht, entwickelt. Diese habe ich in meiner Aufgabe als Ethnographin aus den Beobachtungen ausgewählt. Die Auswahl schließen selbstverständlich andere Analysekategorien nicht aus, diese bleiben allerdings erst einmal nur durch meinen individuellen Blick auf das Feld unberücksichtigt. In der Analyse zur ersten Beobachtung stachen vor allem die sozialen Räume und die kindliche Selbstdarstellung durch die Szene mit Lukas heraus. Innerhalb meiner Beobachtungen ließen sich verschiedene Typen von sozialen Räumen erkennen. Angelehnt an die sieben von Bennewitz und Meier vorgeschlagenen sozialen Orte Für-Sich-Welt, Nahraum, Kleinwelt, Bühne, Publikum, Begegnungen und Fernraum, konnte ich in meinen Beobachtungen fünf eindeutig identifizieren (vgl. Bennewitz und Meier, 2010, S. 105). Das Soziale Miteinander innerhalb der Klasse ist geprägt durch Begegnung und dem Rückzug der handelnden Peers also einer Herstellung von Nähe und Distanz zwischen den Mitschüler/innen. Dabei entstehen innerhalb der Frühstückspause, durch Interaktionen der Peers untereinander, stets soziale Orte. In meiner Arbeit ließen sich dabei die folgenden fünf sozialen Orte, Für- Sich-Welt, Bühne, Publikum, Begegnungen und Fernraum, eindeutig erkennen. In der ersten Beobachtung ließ sich zudem noch das typische Peerverhalten der kindlichen Selbstdarstellung erkennen. In der Szene sucht Lukas vermutlich nach sozialer Anerkennung bei seinen Peers, in dem er von seiner bedeutenden Rolle im Fußballspiel in der Pause berichtet. In der zweiten Beschreibung ließ sich vor allem die Spielkultur der Peers und dabei ihr Umgang mit dem andern Geschlecht beobachten. Es war gut zu erkenne, dass die Frühstückspause nicht nur zum Frühstücken, sondern gleichermaßen auch zum Spielen und zum Austausch unter den Peers genutzt wurde. Die Frühstückspause gibt den SuS Zeit zum frühstücken und sich von den ersten beiden Unterrichtsstunden zu erholen. Sie ermöglicht es den SuS aber auch, sich ein Stück weit alleine mit den eigenen Vorlieben zu beschäftigen. Dabei gibt das Spielzeug Pop It einen kleinen Einblick in eine Kinderkultur und zeigt, dass sich diese Kultur noch einmal stark von der eines Erwachsenen unterscheidet. Durch den konjunktiven Erfahrungsraum der Peers schafft das Spielzeug Pop It eine Gemeinsamkeit innerhalb der Klassengemeinschaft und sorgt dafür, dass sich temporäre Spielgemeinschaften bilden, in denen sich sogar geschlechterhomogene Gruppen auflösten und das Spielen mit dem andern Geschlecht akzeptiert wird. Alles in allem lässt sich in meinen Beobachtungen erkennen, dass Schule als Institution nicht nur aus Unterricht, sondern gleichermaßen aus Aktionen zwischen den Kindern besteht. Innerhalb des Klassenverbands kommen die SuS mit Peers in Kontakt, tauschen sich aus und halten ihre Peerkultur aufrecht. Innerhalb der Frühstückspause ereignet sich die alltägliche, schulische Kinder- und Jugendkultur. Sie tauschen sich über peerkulturelle Ereignisse aus und lassen die Institution Schule, durch peerkulturelle Interaktionen, in den Hintergrund rücken. Im weiteren Verlauf der Forschung wäre es interessant, zu untersuchen, wie peerkulturelle Handlungen im Unterricht ablaufen und wie diese den Unterricht beeinflussen. Dafür wäre eine Verschiebung der Beobachtung von der Pause in den Unterricht notwendig.

Literaturverzeichnis

  • Bennewitz, H. & Meier, M. (2010). Zum Verhältnis von Jugend und Schule. Ethnographische Studie zur Peerkultur und Unterricht. In A. Brake & H. Bremer (Hrsg.), Alltagswelt Schule. Die soziale Herstellung schulischer Wirklichkeiten (S.97-110). Weinheim und München. Juventus Verlag.
  • Breitenstein, G. (2008). Peer-Interaktion und Peer-Kultur. In W. Helsper & J. Böhme (Hrsg.), Handbuch der Schulforschung (S.945-964). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. Breitenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H., Nieswand, B. (2015). Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung. Tübingen: UVK Verlag München.
  • Grüneberg, A. (2021). Pop ist: Der neue Spielzeugtrend für unruhige Hände. RND- Redaktionswerk Deutschland. Abgerufen von https://www.rnd.de/wirtschaft/pop-its-der-neue-spielzeugtrend-fuer- unruhige-haende-Z7XN5AFMBNG2BGVTPJ433ITBC4.html [Datum des Zugriffs: 19.08.2021]
  • Heinzel, F. (2012). Der Blick auf Kinder. In H. de Boer & S. Reh (Hrsg.), Beobachtung in der Schule- Beobachten lernen (S.173-188). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Kuhlmann, N. (o.J.). Ethnographie als Forschungsparadigma. RUB Methodenzentrum. Abgerufen von https://methodenzentrum.ruhr-uni-bochum.de/e-learning/qualitative-erhebungsmethoden/qualitative- beobachtungsverfahren/ethnographie-als-forschungsparadigma/ [Datum des Zugriffs: 18.08.2021]
  • Lindner, D., Rosenberg, K., (2019). Ethnografisches Beobachten und Schreiben im Lehramtsstudium. In Journal für LehrerInnenbildung, 19 (4), S.62-70.
  • Tervooren, A (2001). Pausenspiele als performative Kinderkultur. In C. Wulf, B. Althans, C. Bausch, M. Göhlich, S. Sting, A. Tervooren … J. Zirfas (Hrsg.), Das Soziale als Ritual. Zur performativen Bildung von Gemeinschaften (S.205-248). Opladen: Leske + Budrich.
  • Thiel, F. (2016). Interaktion im Unterricht. Opladen & Toronto: Barbara Budrich Verlag. Wagner-Willi, M. (2005). Kinder-Rituale zwischen Vorder- und Hinterbühne. Der Übergang von der
  • Pause zum Unterricht. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Wagner-Willi, M. (2018). Rituelle Praktiken auf den schulischen Vorder- Hinterbühnen. In J. Brühlmann & D. Conversano (Hrsg), Rituale an Schulen. Wirksam und unterschätzt (S. 58-63). Zürich: LCH Verlag.

Das Meldeverhalten in unterschiedlichen Unterrichtssituationen in der Grundschule (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Inhalt

  • Einleitung
  • Meine Rolle im Feld als Forscherin und Praktikantin – Reflexion
  • Beschreibung der Lernkultur der Klasse
  • Dichte Beschreibungen
  • Analytische Dimensionierung
  • Fazit
  • Literaturverzeichnis

Einleitung

Die folgende Arbeit basiert auf Beobachtungen, die innerhalb des Praxissemesters im Sommersemester 2021 für eine ethnografische Studie zum Thema „Das Meldeverhalten in unterschiedlichen Unterrichtssituationen der Grundschule“ getätigt wurden. In der sozialen Ethnografie geht es um die Befremdung der eigenen Kultur und einer darauffolgenden distanzierten Beobachtung, um einen neuen Blick auf gewöhnliche und alltägliche Phänomene zu entwickeln und sie soziologisch-analytisch zu erschließen (vgl. Amann/Hirschauer 1997, S.12). Das ethnografische Arbeiten während des Schulpraktikums des Lehramtsstudiums soll dazu dienen, „dass Studierende Schulpraxis besser verstehen, vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Theorien und Methoden überdenken und Handlungskompetenzen entwickeln“ (Heinzel/Wiesemann 2005, S. 207). Dabei geht es um einen Perspektivwechsel in Sinne einer pädagogischen Ethnografie (vgl. ebd, S.208). Aus diesem Grund fokussiert sich die vorliegende analytische Dimensionierung sowie die Beobachtungen auf die Schüler*innen als Akteure; konkret auf die Art und Weise, mit der sich Schüler*innen in unterschiedlichen Unterrichtssituationen melden.

Das Unterrichtsgespräch ist eine Interaktionsform, die sich täglich in Klassenzimmern abspielt. Für diese schulische Art des Gesprächs, die sich von außerschulischen Gesprächen unterscheidet, sind soziale Regelungen notwendig, um als Lehrkraft ein erfolgreiches Lernen zu ermöglichen (vgl. Hess/Denn 2019, S.37). Zu einer der ersten Regeln, die im Schulalltag vermittelt werden, gehört das Melden, das bald „größtenteils selbstläufig und unbewusst bis in den körperlichen Vollzug“ (Budde 2011, S.143) hinein getätigt wird. Als angehende Lehrkraft achtet man bei Unterrichtsgesprächen gehäuft auf sein eigenes Verhalten oder auf Störungen, die während des Gesprächs stattfinden. Doch das Melden der Schüler*innen wird oft nicht genauer in den Blick genommen, weshalb in der folgenden Arbeit der Fokus auf dem Meldeverhalten der Schüler*innen liegen soll. Dadurch soll eine Annäherung an das Verhalten der Schüler*innen während des Meldens getätigt werden, um als Lehrkraft die Kinder und ihre Verhaltensweisen genauer zu betrachten und den eigenen Blickwinkel zu erweitern, um die Kinder nicht nur als Schüler*innen zu sehen, die ihren Schülerjob tätigen, sondern die sich individuell im Unterricht beteiligen. Somit soll die Individualität der Schüler*innen in der Mitarbeit herausgestellt und berücksichtigt werden. Dieser Themenbereich lässt sich im schulischen Kontext innerhalb der Unterrichtsdurchführung und -gestaltung sowie der DHeterogenität verorten. Denn nimmt man Unterrichtsgespräche genauer in den Blick, so lässt sich erkennen, dass Schüler*innen nicht nur unterschiedlich handeln, sondern dieses Verhalten bei den gleichen Schüler*innen immer wieder zu beobachten ist.

Das Melden der Schüler*innen zeigt die Bereitschaft oder auch den Wunsch an, sich zu äußern (vgl. Sacher 1995, S.1; Breidenstein 2006, S.99). Durch die Meldung bewerben sich die Schüler*innen um das offizielle Rederecht. Das Recht der Turn-Zuteilung liegt in der Regel in den Händen der Lehrkraft, welche durch die Meldungen ein Selektionsangebot erhält (vgl. Breidenstein 2006, S.98; Kalthoff 2020, S.90). Diese Verteilung der Rechte führt unter den Schüler*innen zu einem Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit der Lehrkraft (vgl. Sacher 1995, S.3f.) und zur Anwendung von Strategien zur Selbstauswahl (vgl. Budde 2011, S.131f.). Um ihr Drankommen zu forcieren rufen Schüler*innen die Antwort in die Klasse. Dieses Verhalten wird von der Lehrkraft im Nachhinein häufig ratifiziert, indem sie die Äußerung als offiziellen Beitrag zum Unterrichtsgespräch aufgreift (vgl. Breidenstein 2006, S.101). Eine weitere Strategie, um der Lehrkraft aufzufallen, ist das gezielte Stören des Unterrichts mit dem Nachbarn, um durch das disziplinierende Drangenommen-werden durch die Lehrkraft die Lösung nennen zu können, vor allem dann, wenn sich viele Schüler*innen gleichzeitig melden und sie sich durchsetzen wollen (vgl. ebd., Sacher 1995, S.61). Doch auch die Art des Meldens kann durch die Dringlichkeit, die Antwort geben zu wollen, variieren. So signalisieren ein geschwenkter, schnipsender Finger sowie ein Aufstehen und sich groß machen ein dringendes Bedürfnis drangenommen werden zu wollen. Ein lässiger, aufgestützter Arm hingegen zeigt das Melden und Antwort geben als eine lästige Pflichtübung an, während ein langsames, zögerndes, aber ernsthaftes Erheben des Armes die Meldung als riskanten Versuch angibt. (vgl. Breidenstein 2006, S.99; Budde 2006, S.136f.) Außerdem muss das Zeichen der Meldung nicht zwangsläufig der Wunsch sein, das Rederecht zu erhalten. Eine Meldung kann auch nur zum Zeichen des Engagements geschehen. So melden sich Schüler*innen auch dann, wenn sie die Antwort nicht wissen, damit ihre Aktivität von der Lehrkraft wahrgenommen wird. (vgl. Breidenstein 2006, S.101) Auch das undeutliche Melden kann eine Simulation der Beteiligung darstellen (vgl. Budde 2011, S.137). Ebenso nutzen die Schüler*innen Strategien, wenn sie nicht drangenommen werden möchten: „Wollen Schüler nicht ausgewählt werden, ist Unscheinbarkeit der wirksamste Schutz. In diesen Momenten versuchen sie, nicht zu abgelenkt, nicht zu beschäftigt, nicht zu konzentriert zu wirken – einfach da sein, ohne aufzufallen“ (Kalthoff 2020, S.90).

Meine Rolle im Feld als Forscherin und Praktikantin – Reflexion

Meine Rolle als Forscherin unterschied sich deutlich von der als Praktikantin. Als Praktikantin unterstütze ich die Lehrerin in diversen Situationen während des Unterrichts, bspw. indem ich den Kinder bei Fragen und Aufgaben behilflich war, Material verteilte oder mich bei Unruhe zu einzelnen SchülerInnen setzte, um sie während des Unterrichts auf ihre Störungen hinweisen zu können und sie zur Mitarbeit zu animieren. Vereinzelt habe ich in dieser Klasse auch Unterrichtssequenzen angeleitet oder die Klassenlehrerin bei Krankheit vertreten, sodass ich auch als Lehrerin in der Klasse anerkannt war. Dies wurde auch dadurch deutlich, als ich den Kindern erzählte, dass ich noch keine fertige Lehrerin sei und diese sichtlich verwundert darüber waren, dass ich nicht als Lehrerin bei ihnen bleibe, wenn das Praxissemester beendet ist. Somit wurde ich bei der Klasse als vollwertige Lehrerin akzeptiert. Als Forscherin war meine Rolle eine andere. So agierte ich während der Beobachtungen nicht als Lehrerin, sondern zog mich als Teil des Unterrichtsgeschehens zurück. Zuvor habe ich der unterrichtenden Lehrkraft Bescheid gegeben, dass ich nun beobachten werde, sodass diese mich nicht aktiv in den Unterricht einbezog. Meist saß ich im hinteren oder vorderen Teil der Klasse an der Seite auf einem Stuhl oder auf der Bank im Sitzkreis, sodass ich die ganze Klasse überblicken konnte. Auf diese Weise habe ich mich auch körperlich außerhalb des Unterrichtsgeschehens befunden. Die SchülerInnen akzeptierten schnell meine Rolle als Forscherin. Zu Beginn kommentierten sie noch mein Tablet oder fragten, was ich dort gerade mache, da es vermutlich den Eindruck vermittelte, ich würde mich nicht mit dem Unterricht sondern anderweitig beschäftigen. Meist erklärte ich dann in wenigen Sätzen, was ich gerade tat und schon bald waren sie den Anblick gewöhnt, sodass es zu keinen Unterbrechungen seitens der SchülerInnen mehr kam und sie nicht mehr weiter nachfragten. Von Vorteil war außerdem mein Beobachtungsfokus, der sich auf das Arbeiten im Plenum beschränkte. Stand ich nicht gerade selbst vor der Klasse, so saß ich während diesen Phasen ohnehin meist auf einem Stuhl an der Seite, sodass sich während der Beobachtungen nicht viel änderte.

Bei der Auswahl der Situationen habe ich mich mit der Klassenlehrerin abgesprochen. Dafür habe ich ihr von dem Thema meines Studienprojektes berichtet und sie gebeten, mir rechtzeitig Bescheid zu geben, wenn sie Plenumsphasen durchführen möchte. So haben wir häufig bereits am Anfang der Woche nachgesehen, wann sie Plenumsphasen geplant hatte, sodass ich mich zu Beginn der Stunde gezielt auf das Beobachten vorbereiten konnte. Bei Fachlehrerinnen habe ich entweder vor dem Beginn der Stunde nachgefragt oder mich entsprechend vorbereitet, sollte sich spontan eine Beobachtungsmöglichkeit ergeben.

Beschreibung der Lernkultur der Klasse

Mein Praxissemester habe ich überwiegend in einer zweiten Klasse verbracht. In der Klasse waren 22 Kinder, davon neun Mädchen und 13 Jungen. Einige Kinder hatten einen Migrationshintergrund und sprachen Deutsch als Zweitsprache. Ein Schüler ist erst vor knapp einem Jahr nach Deutschland gekommen und hatte daher teilweise Probleme sich auszudrücken oder Arbeitsanweisungen zu verstehen. Ein weiterer Junge hatte ebenfalls Probleme mit der deutschen Sprache, weshalb auch er häufig individuelle Erklärungen benötigte. Trotz der Heterogenität der Klasse wurde selten inklusiv oder differenziert gearbeitet.

Ein Mädchen und ein Junge mit dem Förderbedarf emotionale und soziale Entwicklung (ESE) hatten Lernbegleiter, mit denen sie während der Fächer Deutsch und Mathematik außerhalb des Regelunterrichts lernten. Dafür gingen sie oft auf den Flur. In den anderen Fächern wurden sie in den Regelunterricht mit eingebunden und arbeiteten meist am gleichen Material wie die restliche Klasse.

Ein anderes Mädchen hatte den Förderbedarf Lernen und erhielt in Deutsch und Mathematik individuelle Aufgaben. Ein weiteres Mädchen mit dem Förderbedarf Lernen erhielt ebenfalls in Mathe eigenständige Aufgaben und arbeitete während Arbeitsphasen häufig am Laptop. Außerhalb dieser Fächer nahmen sie am regulären Unterricht teil und erhielten keine differenzierten Aufgaben. Auch in Plenumsphasen waren sie überwiegend integriert, meldeten sich jedoch selten, um einen Beitrag zum Unterrichtsgespräch zu leisten.

Während der aufgeführten Beobachtungen herrschte die Covid-19-Pandemie. Aufgrund dessen waren die Kinder vor der Aufzeichnung der Beobachtungen einige Wochen im Wechselunterricht und anschließend im Distanzunterricht. Da die Kinder von ihren bisher knappen zwei Schulbesuchsjahren fast eines im Distanzunterricht verbracht hatten, war oft zu erkennen, dass die Verhaltensregeln im Unterricht nicht gefestigt waren und häufig neu wiederholt oder eintrainiert werden mussten. Durch die ungewisse Situation durch die Pandemie war häufig ein gewisser Frust unter den Schüler*innen der Klasse zu beobachten. Die Beobachtungen fanden zu der Zeit statt, als die Kinder wieder als gesamte Klasse in der Schule unterrichtet werden durften. Aufgrund dieser Situation mussten die Kinder während des Unterrichts einen Mund-Nasen-Schutz tragen. Zu diesem Zeitpunkt herrschten in dieser Klasse jedoch keine weiteren Regeln. Jeden Morgen hatten die Kinder eine freie Sitzplatzwahl oder konnten sich während der Plenumsphasen so umsetzen, dass sie bspw. das Smartboard gut sehen konnten.

Dichte Beschreibungen

Beschreibung 1

22. Juni 2021, 08:18-08:34

Die Situation
Es ist die erste Schulstunde (Sachunterricht bei der Fachlehrerin) in der 2a an diesem Tag. Der Morgenkreis wurde gerade beendet und die SuS finden sich auf ihren Plätzen ein. Ich sitze während der Beobachtung auf einem Stuhl vorne links vor dem Pult, von dem ich einen guten Blick auf die ganze Klasse habe.

Während der Unterrichtssituation hängen die fünf Sinne als Begriff und Bild nebeneinander an der Tafel. Die Lehrperson hängt etwas weiter links davon kleine Bilder von Gegenständen dazu, sodass ein Tabellenformat entsteht, an dem angekreuzt werden kann, durch welche Sinne diese Dinge wahrgenommen werden können. Die Kinder sitzen an zwei Gruppentischen, zwei mal zwei Kinder sitzen an Zweiertischen, vier an Einzeltischen.

Dichte Beschreibung

Es ist 08:19 Uhr. Die Lehrerin fragt nach den fünf Sinnesorganen. Fünf Kinder melden sich, indem sie ihre Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger weit nach oben halten. Dabei schauen sie die Lehrperson an. Tanja1 wird drangenommen, nimmt ihren Arm herunter und beginnt mit der Aufzählung der Sinnesorgane. Auch die anderen Kinder, die sich gemeldet haben, nehmen ihre Hand wieder herunter, nur Mira lässt ihren Arm mit Finger nach oben ausgestreckt. Während Tanjas Aufzählung nimmt sie ihn runter. Als Tanja drei Sinnesorgane genannt hat fragt Matteo dazwischen, ob auch andere Kinder etwas sagen dürfen. Die Lehrerin antwortet mit einem „Klar“ woraufhin sich gleich fünf Finger heben. Matteo wird drangenommen. Drei Kinder nehmen ihre Hand wieder runter. Mira senkt diese etwas verzögert, während sie Matteo anschaut. (08:20) Die Lehrperson heftet anschließend ein Bild eines Gegenstandes an die Tafel und fragt, mit welchen Sinnesorganen dies wahrgenommen werden kann. Mira, Kim und Matteo melden sich mit dem ausgestreckten Arm und dem Zeigefinger in der Luft. Dabei sitzen sie entspannt zurückgelehnt auf ihren Stühlen. Mira wird drangenommen und gibt eine Antwort, indem sie eines der Sinnesorgane nennt.. Die anderen behalten ihre Hand oben. Die Lehrperson wiederholt die Frage, womit der Gegenstand wahrgenommen werden kann. Mira hebt wieder ihre Hand. Die Lehrperson schaut sie an und nickt leicht. Daraufhin gibt Mira ihre ergänzende Antwort und nimmt mitten in der Antwort ihre Hand herunter. (08:21) Das nächste Bild zeigt eine Portion Pommes. Mehrere Kinder, etwa vier bis fünf, atmen schnell und geräuschvoll ein und rufen „Pommes“. Sechs Kinder melden sich, ebenfalls mit dem Finger weit nach oben gestreckt. Pepe wird drangenommen und gibt eine Antwort. Während der Antwort senken zwei Kinder ihre Hände. Matteo, Kim und Mira halten ihre oben. Matteo wird als nächstes drangenommen und gibt eine letzte Antwort zu den Pommes. Nun senken sich alle weiteren Hände. (08:22) Die Lehrperson hängt nun ein Bild von stinkenden Socken unter die Pommes und fragt, was man damit machen kann. Matteo, Tanja, Hatice und Mira melden sich. Die Lehrperson spricht Nils an und sagt, dass er das sicher auch weiß. Nils stellt eine Nachfrage zu dem, was er nun sagen soll. Die Lehrperson wiederholt die Frage, was mit den stinkenden Socken gemacht werden kann. Fragend antwortet Nils: „In derWaschmaschine waschen?“ Die Erwachsenen in der Klasse, fangen leise an zu lachen. Daraufhin erklärt die Lehrperson, dass das richtig ist, es aber gerade um die Sinnesorgane geht. Dann nennt Nils eines der Sinnesorgane. Währenddessen melden sich weiterhin drei der Kinder. Beim nächsten Gegenstand melden sich für alle Kreuze, die gesetzt werden sollen, Mira, Tanja, Hatice und Matteo. Nach etwa der Hälfte der Kreuze melden sich auch Kim und Kiran. Alle mit einem Finger weit in der Luft. (08:23) Als der nächste Gegenstand an die Tafel gehängt wird, melden sich die gleichen Kinder von zuvor. Maria meldet sich mit einem leisen „Ah!“, indem sie ihren Arm schlagartig in die Luft streckt. Die Lehrperson nimmt sie dran. Anschließend kommt Tanja an die Reihe. Währenddessen meldet sich Raffael. Er liegt mit dem halben Oberkörper auf seinem Tisch und stützt seinen Ellenbogen auf dem Tisch ab. Die Lehrperson nimmt ihn dran und er gibt eine Antwort. (08:24) Kiran beginnt sich währenddessen zu melden, indem er beide Hände senkrecht über seinen Kopf nach oben gestreckt hält und die eine Hand dabei um die Hand hält, die den Finger nach oben zeigt. Die Lehrperson nimmt ihn dran. Er behält die Hände oben und antwortet nicht gleich. Dann sagt er, dass er das sagen wollte, was Raffael gesagt hat, der nun den Gegenstand beendet hat. Die Lehrperson sagt, dass er dann gleich beim Nächsten etwas sagen kann. Daraufhin senkt er seine Arme und wartet. Die Lehrperson hängt den nächsten Gegenstand an die Tafel. Einzelne Kinder auf den Plätzen im hinteren Teil der Klasse fragen, was das ist. Eine Lernhelferin bestätigt, dass man das von hinten schlecht erkennen kann. Die Lehrperson sagt, dass es Tee sein soll. (09:25) Dann wendet sich die Lehrperson wieder an die ganze Klasse und fragt, welche Sinne dazu passen. Während der gesamten Arbeit an dem Gegenstand behält Kim ihren Arm oben. Dabei legt sie ihren Unterarm auf dem Kopf ab. Es werden andere Kinder drangenommen, die sich mit dem Finger in der Luft melden. Beim letzten Sinn streckt sie ihren Arm wieder aus und richtet ihn der Lehrperson entgegen. Als sie dafür ebenfalls nicht drangenommen wird, senkt sie ihren Arm und sackt auf ihrem Stuhl etwas zusammen. Während die Lehrperson einen nächsten Gegenstand raussucht, warten die Kinder leise mit dem Blick Richtung Tafel gerichtet. (08:26) Als die Lehrperson das nächste Ding freigibt, melden sich vier Kinder: Matteo, Hatice, Tanja und Mira. Hatice stützt dafür ihren Arm im rechten Winkel auf der Stuhllehne ab. Tanja hat ihren Arm leicht, nicht vollständig, nach oben gestreckt. Alle melden sich mit dem Finger. Erst wird Matteo drangenommen, dann Mira. Als sie nach zwei Malen nicht drangenommen wird, beendet Hatice die Meldung und knotet ihren Schuh zu. Tanja meldet sich beim dritten Sinn nicht, hebt für den nächsten dann wieder ihren Finger. (08:28) Die Lehrperson hängt alle Bilder ab und wischt die Kreuze weg. Dann hängt sie einen neuen Gegenstand auf. Während dieser Phase meldet sich Mira ununterbrochen. Auf Nachfrage der Lehrperson, wer weiß, welche Sinne angesprochen werden, melden sich auch Matteo und Kim. Mira wird drangenommen und senkt daraufhin ihren Finger. Beim nächsten wird Matteo drangenommen. Mira hat wieder ihre Hand oben. Auch Kim meldet sich durchgehend, den Kopf schräg zur Seite gelegt, den Finger weit nach oben gestreckt. Die Lehrperson fragt Lennard, der sich nicht meldet, ob er das auch weiß. Dieser antwortet nicht sofort und sagt dann, dass er die Gegenstände nicht gut erkennen kann. Eine Integrationskraft von hinten bestätigt dies. Die Lehrperson gibt Lennard und anderen Kindern, die es nicht erkennen können erneut die Möglichkeit, sich nach vorne zu setzen. Die Kinder reagieren nicht und bleiben an ihren Plätzen sitzen. Die Lehrperson setzt die Arbeit an der Tafel fort. Raffael liegt auf dem Tisch, der Kopf auf dem Oberarm, der Unterarm nach oben gerichtet meldet er sich mit dem Zeigefinger. Dann hebt er etwas den Kopf an. Auch Maria hat ihren Ellenbogen auf dem Tisch gestützt und meldet sich. Matteo, der sich mit ausgestrecktem Arm nach oben meldet, wird drangenommen und senkt wieder seinen Arm, während er die Antwort gibt. (…) (08:34) Kim sagt laut Richtung Lehrkraft, dass sie lange nicht mehr dran war, obwohl sie sich die ganze Zeit meldet. Die Lehrperson entschuldigt sich bei ihr und sagt: „Jetzt aber,“ während sie den nächsten Gegenstand an die Tafel hängt. Kim senkt den Arm und dreht sich auf ihren Stuhl hin und her.

Beschreibung 2

24. Juni 2021, 8:33-8:38

Die Situation
Es ist die erste Unterrichtsstunde an diesem Tag. Sie findet bei der Klassenlehrerin statt. Es sind 17 Kinder anwesend. Außerdem ist ein Kind per Video zugeschaltet. Zum Zeitpunkt der Beobachtungen befanden sich zwei Kinder mit Förderbedarf mit den Schulbegleitern im Flur. In der folgenden Beobachtung spielt die Rolle des Tageskindes eine Rolle. Das Tageskind ist jeden Tag ein anderes Kind. Es darf den Morgenkreis leiten und der Lehrerin immer dann zur Hand gehen, wenn SuS aktiv in den Unterricht mit einbezogen werden sollen. Das Tageskind an diesem Tag ist Mira. Sie hat Pepe ausgewählt, um ihr zur Hand zu gehen und den Mathefächer vorzulesen, während sie die Antworten an der Tafel notiert. Der Mathefächer wird in der Regel zu Beginn einer jeden Mathestunde bearbeitet. Ich befinde mich an meinem Platz neben dem Pult, seitlich der Klasse, von dem ich alle SuS überblicken kann.

Dichte Beschreibung

Es ist 9:33 Uhr, als Pepe die Überschrift des Mathefächers vorliest. Daraufhin würfelt die Klassenlehrerin mit zwei Stoffwürfeln eine eins und eine drei. Sie fragt Mira, ob die Zahl eine 13 oder eine 31 sein soll. Mira entscheidet sich für die 31 und schreibt diese an die Mitte der Tafel. Pepe beginnt damit, den nächsten Teil des Fächers vorzulesen. In diesem Moment ruft Kiran den Namen der Klassenlehrerin in die Klasse rein und schaut diese dabei an. Als die Klassenlehrerinlaut „Nein!“ ruft und den Kopf mit Blick auf Kiran schüttelt, unterbricht Pepe. Sie entschuldigt sich bei Pepe und er setzt fort. (9:34) Die Aufgabe lautet, die Zahl als Wort zu schreiben. Mira dreht sich zur Tafel und hebt den Stift zum Schreiben an. Dann verharrt sie kurz, bevor sie ihren Kopf zur Lehrerin dreht und sie fragend anschaut. Mira wirkt verunsichert. Die Lehrerin sagt ihr, dass sie jemanden drannehmen kann, wenn sie Hilfe benötigt. Daraufhin meldet sich Nils vorsichtig mit seinem Zeigefinger, Ellenbogen auf den Tisch vor ihn gestützt, indem er diesen verhalten, nah an seinem Gesicht, nach oben streckt. Sonst meldet sich keiner. Mira nimmt Nils, der an einem Tisch direkt vor ihr sitzt, dran. Daraufhin kommt er nach vorne und beginnt die Zahl zu schreiben. Er schaut immer wieder die Lehrerin an, die beginnt, das Wort zu buchstabieren. Als Nils fertig ist und sich hinsetzt, liest Pepe den nächsten Punkt vor. Die Zahl soll in Geheimschrift (Striche für Zehner, Punkte für Einer) aufgeschrieben werden. Mira stellt sich seitlich zur Tafel und schaut die Lehrerin wortlos an. Ihr Blick scheint fragend. Nils meldet sich langsam und vorsichtig, indem er seinen Finger vor sein Gesicht hält. Ansonsten meldet sich keiner. Die Lehrerin weist sie darauf hin, dass sie jemanden drannehmen kann. Mira nimmt ihn dran, woraufhin er ihr einen Tipp gibt und sie die Antwort an der Tafel notiert. (9:35) Als nächstes soll aufgeschrieben werden, wie viele Zehner die Zahl hat. Mira steht ein weiteres Mal seitlich zur Tafel mit dem Blick auf die Lehrerin gerichtet. Der Rest der Klasse schaut leise nach vorne. Ihre Blicke liegen in Richtung von Mira, der Tafel oder der Lehrerin. Kim und Matteo, die an einem Zweiertisch im hinteren Teil der Klasse stehen, flüstern miteinander. Nils meldet sich vorsichtig, der Arm im rechten Winkel auf den Tisch gestützt. Mira nimmt, nachdem die Lehrerin ihr gesagt hat, dass ein Kind ihr helfen kann, Nils dran und notiert die Antwort. Die Lehrerin hilft damit nach, in welcher Form dies notiert werden soll. Die nächste Frage ist, wie viele Einer die Zahl hat. Raffael meldet sich mit erhobenem, aber nicht durchgestrecktem Arm, mit dem Zeigefinger. Er nennt die Antwort, als Mira ihn drannimmt und sie schreibt auch diese an die Tafel. (9:36) Pepe liest die nächste Frage vor. Es sollen die Nachbarzehner der Zahl genannt werden. Mira stellt sich mit dem Blick zur Klasse und dem Rücken zur Tafel hin und überblickt die Klasse. Tanja steht an ihrem Platz hinter ihrem Stuhl, lehnt sich mit der linken Hand auf den Stuhl und hebt die rechte Hand mit dem Zeigefinger. Nils Arm schnellt bei der Frage schlagartig nach oben und er reißt seine Augen auf. Gary, der gerade seine Hände auf seinem Tisch abgelegt hatte, hebt vorsichtig seinen Unterarm an und streckt seinen Finger langsam vor seinem Gesicht aus. Als der Blick von Mira in seine Richtung geht, zieht er ihn wieder ein. Dann streckt er ihn wieder kurz aus, bis Mira Nils drangenommen hat. (09:37) Pepe liest die nächste Frage auf dem Fächer vor: Ist die Zahl gerade oder ungerade? Kaum hat Pepe den Satz beendet, schnellt Nils Finger hoch und er hält ihn ausgestreckt. Gary wackelt, in der gleichen Position wie zuvor, mit dem Zeigefinger hoch und runter. Sein Blick ist nach vorne gerichtet. Seine Arme, die er an seinen Oberkörper drückt, sorgen dafür, dass er wirkt, als sei er sich der Antwort nicht sicher. Raffael meldet sich mit dem Finger neben seinem Gesicht, den Ellenbogen auf den Tisch vor ihm gestützt. Gary wird drangenommen und gibt eine Antwort, die nicht richtig ist. Die anderen Kinder, die sich gemeldet haben, senken bei Garys Aufruf langsam den Arm. Die Lehrerin stellt erneut die Frage vom Fächer und schaut Gary an, als erwarte sie eine Antwort von ihm. Raffael meldet sich nun mit dem Finger, sein Arm im rechten Winkel. Gary korrigiert seine Antwort. Sie wird an der Tafel von Mira notiert und Pepe liest die nächste Frage vor. Keine Kinder melden sich. Die Lehrerin nimmt Matteo dran, dessen Kopf hochschnellt und die Lehrerin mit geweiteten Augen anblickt. Sie lächelt und sagt dabei freundlich, dass er nicht aufgepasst hat. Matteo lächelt und gibt die richtige Antwort. Danach wird Raffael von Mira drangenommen, der den zweiten Teil der Antwort gibt. (9:38) Bei der nächsten Frage steht Tanja immer noch hinter ihrem Stuhl und meldet sich erneut. Nils meldet sich mit hoch erhobenem Finger in Miras Richtung gestreckt. Er wackelt mit dem Finger und wechselt zwischen Stehen und Sitzen. Raffael meldet sich mit dem Finger, der Arm im rechten Winkel. Kiran sitzt mit dem Körper von der Tafel gedreht, dreht seinen Kopf über die Schulter in Richtung der Tafel und hat seinen Arm und Finger nach oben gestreckt. Mira nimmt Kim dran, die sagt, dass sie sich nicht gemeldet hat. Die Lehrerin verlangt von ihr trotzdem eine Antwort. Kim gibt eine, welche falsch ist und versucht drei Mal sich zu korrigieren. Währenddessen steht Nils auf, lehnt sich über seinen Tisch und stellt sich von einem Fuß auf den anderen. Tanja beginnt auf ihrem Platz auf und ab zu springen. Auch Kiran steht auf und beginnt immer energischer zu hüpfen, während Kim die richtige Antwort sucht. Alle Kinder, die sich melden, wackeln mit ihrem Finger hin und her. Immer mehr Kinder rufen „Nein!“ oder, dass sie die Antwort wissen. Als Kim die richtige Antwort gibt, ertönt aus allen Seiten der Klasse ein lautes, kollektives Ausatmen.

Analytische Dimensionierung

Zu Beschreibung 1

In der Beschreibung fällt zum einen Mira durch ihre rege Beteiligung auf. Ihr Arm ist meistens ganz ausgestreckt und der Finger deutlich oben. Außerdem senkt sie ihren Arm auch dann häufig nicht, wenn schon anderen Kindern das Rederecht durch die Lehrkraft zugesprochen wurde, oder sie senkt ihn verzögert. Dieses Verhalten von Mira scheint ihr Bedürfnis, etwas sagen zu wollen, zu signalisieren. Ihr stetes Melden könnte eine Strategie sein, durch die sie der Lehrkraft zeigen möchte, dass sie die Antworten kennt und gibt zudem auf diese Weise durch ihre Aktivität ihr Engagement weiter. Dies beschreibt Breidenstein (2006, S.101) indem er sagt, dass Schüler*innen sich melden können, auch ohne etwas sagen zu wollen, um lediglich die Mitarbeit zu signalisieren. Es zeigt sich bereits bei der Beobachtung des ersten Kindes, dass ein Verhalten bloß aufgrund der Beobachtung nicht auf ein bestimmtes Ziel rückschließen lässt, sondern dem Verhalten unterschiedliche Gründe zugrunde liegen können. Interessant ist auch die Beobachtung über Matteo. Während Tanja die Antwort auf die Frage der Lehrerin gibt, welche Sinnesorgane es gibt, unterbricht Matteo und fragt, ob auch andere Kinder etwas sagen dürfen. Auffallend ist, dass er nicht fragt, ob auch er Sinnesorgane nennen dürfte, sondern er die Frage sehr allgemein formuliert. Dies erweckt den Eindruck, als wisse er, was höflich ist und versuche seine Bemühung, das Rederecht zu erhalten, möglichst nahe an den Konventionen des Unterrichtsgesprächs gekoppelt zu formulieren. Auch dies zeigt eine Strategie, das Rederecht zu erhalten. Breidenstein (2006, S.101) nennt dies ein „Forcieren“ des Drankommens, das häufig durch das Reinrufen der Antwort vollzogen wird. Doch im Fall von Matteo ruft er nicht die Antwort herein. Zwar spricht er, ohne das Rederecht erhalten zu können, doch bleibt er dabei höflich und weißt die Lehrkraft darauf hin, dass auch andere Kinder etwas sagen möchten. Doch seine Strategie ist erfolgreich. Wie auch Breidenstein (2006, S.101) beschreibt, wird dieses unaufgeforderte Sprechen ratifiziert und die Lehrkraft erteilt ihm daraufhin das offizielle Rederecht, um ebenfalls eine Antwort geben zu können. Kalthoff (2020, S.90) nennt dies Selbstwahl, da Matteo hier selbstständig das Wort ergriffen hat, als er Sprechen wollte und nicht auf die Fremdwahl durch die Lehrkraft gewartet hat. Interessant ist auch, dass Sacher (1995, S.61) sagt, dass Schüler*innen gerade dann ohne Aufruf sprechen, wenn sich viele Mitschüler gleichzeitig melden und sie sich durchsetzen möchten oder ein unautorisiertes Verhalten durchsetzen, wenn sie sich schon häufig erfolglos gemeldet haben. Gerade letzteres ist im Falle von Matteo nicht erkennbar, denn der Unterricht hat gerade erst begonnen und es ist die erste Meldung innerhalb des Unterrichtsgespräches, sodass noch nicht von einem langen erfolglosen Melden die Rede sein kann.

Auch Maria scheint eine Strategie zu verwenden, um mit ihrem Meldeverhalten an das Rederecht zu gelangen. Sie ruft leise „Ah!“ und streckt ihren Arm schlagartig in die Luft. Dieses impulshafte, ruckartige Melden sowie die verbale Reaktion scheinen auf ein großes Bedürfnis hinzudeuten, die Antwort nennen zu wollen. Budde (2011, S. 136) erklärt, dass eine verbale Unterstützung beim Melden dem Zweck dienen kann, der Lehrperson aufzufallen. Ihre Strategie ist erfolgreich und sie wird drangenommen.

Raffaels verhalten lässt sich mit der Beschreibung Breidensteins, der Meldung als lästige Pflichtübung (vgl. Breidenstein 2006, S.99), vergleichen. Wiederholt wird beschrieben, wie er mit dem halben Oberkörper auf dem Tisch liegt und den Arm angewinkelt auf dem Tisch abgestützt hält. Es zeigt durchaus, dass Raffael am Geschehen beteiligt ist, doch es scheint, als wäre sein Bedürfnis, das Rederecht zu erhalten, nicht groß. Vielmehr scheint er es als seinen Schülerjob wahrzunehmen, dass er sich am Unterrichtsgespräch beteiligen muss. Der aufgestütze Arm lässt sich auch bei weiteren Kindern beobachten, wie z.B. bei Maria.

Kiran zeigt eine weitere Art und Weise des Meldens. Er hält beide Hände nach oben gestreckt und umfasst mit der einen Hand die Hand, die den Zeigefinger ausstreckt. Diese körperliche Beteiligung lässt es wirken, als würde er deutlich zeigen wollen, dass er es weiß und gerne drangenommen werden würde. Als er das Rederecht zugeteilt bekommt, antwortet er nicht gleich und sagt dann, dass er das Gleiche sagen wollte, wie Raffael zuvor. Dies könnte bedeuten, dass er sich zum Zeichen des Engagements gemeldet hat. In diesem Kontext beschreibt Breidenstein (2006, S.101), dass Schüler*innen sich häufig als Zeichen des Engagements auch dann melden, wenn sie die Antwort nicht kennen, da eine falsche Antwort weniger ins Gewicht fällt, als sich nicht gemeldet zu haben. Aufgrund der dringlich wirkenden Meldung mit großem körperlichem Engagement und dem Eindruck, er wolle sich groß machen, scheint dieser Bezug hier jedoch unwahrscheinlich. In diesem Sinne wäre es auch möglich, dass er lediglich vergaß, seine Meldung zurückzunehmen.

Hatice zeigt ein weiteres Meldeverhalten. Sie stützt zum einen bei ihrer Meldung ihren Arm auf der Stuhllehne ab. Laut Breidenstein (2006, S.101) könnte dies zeigen, dass sie das Melden innerhalb des Unterrichtsgesprächs als Pflichtübung ansieht, wie bereits zuvor bei Raffael beobachtet. Außerdem könnte es sein, dass sie der Lehrerin lediglich zeigen möchte, dass sie sich am Unterrichtsgeschehen beteiligt. Dass Hatice kein großes Bedürfnis zu haben scheint, die Antwort zu geben, zeigt auch ihr weiteres Verhalten. Denn als sie nach zwei Versuchen nicht drangenommen wird, beendet sie ihre Meldung und beschäftigt sich anderweitig mit ihrem Schuh. Dies wirkt, als würde sie den Unterricht nebenbei verfolgen und hin und wieder durch die Meldung als Schülerjob ihren Beitrag leisten. Sacher (1995, S.3) beschreibt, dass langsamere und leistungsschwächere Schüler*innen resignieren, wenn Stärkere schneller eine Antwort zu Hand haben und sich beispielsweise schneller Melden und diese bevorzugt von der Lehrkraft drangenommen werden. Es ist der Beobachtung zu entnehmen, dass Matteo und Mira sich sehr häufig und durchgängig melden. Diese beiden wurden vor Hatices Rücknahme der Meldung drangenommen. Hatices Meldung wurde in der Beobachtung jedoch nicht häufig festgehalten. Gegebenenfalls könnte auch dies der Grund für Hatices senken ihrer Meldung sein, allerdings lässt sich auch nicht feststellen, ob Hatice zu den stärkeren oder schwächeren Schüler*innen zählt.

Auffallend im zweiten Teil der Beobachtung ist Kims Meldeverhalten, dass sich im Verlauf wandelt und sie ihre Strategien zu wechseln scheint, bis sie das Rederecht erteilt bekommt. Im ersten Teil der Beobachtung wird Kims Name immer wieder im Zusammenhang mit den sich meldenden Kindern erwähnt, jedoch wird sie nicht drangenommen. Nach einiger Zeit beginnt Kims Melden aufzufallen. Während sie sich zuvor mit ausgestrecktem Arm „normal“ meldete, wird bald beschrieben, dass sie ihren Unterarm, dessen Finger zur Meldung ausgestreckt ist, auf dem Kopf ablegt und ihr Meldung aufrechterhält, auch wenn andere Kinder bereits das Rederecht erhalten haben. Beim letzten Sinn, somit ihrer letzten Möglichkeit in diesem Abschnitt des Unterrichtsgesprächs, die Antwort nennen zu können, streckt sie ihren Arm wieder aus und richtet diesen der Lehrkraft entgegen. Dies erweckt den Anschein, als würde sie der Lehrerin auffallen wollen, indem sie ihren Finger näher zur Lehrerin heranbringt. Als sie auch dann nicht drangenommen wird, sackt sie auf ihrem Stuhl zusammen. Es wirkt, als wäre sie enttäuscht darüber, nicht die Antwort nennen zu können. Im Verlauf wird weiter beschrieben, wie sie sich durchgehend meldet, den Finger weit nach oben gestreckt, ohne zwischendrin ihren Arm herunterzunehmen. Dies scheint ihr dringendes Bedürfnis zu signalisieren, die Antwort nennen zu wollen. Schließlich ändert Kim ihre Strategie und spricht die Lehrkraft konkret darauf an, dass sie schon lange nicht mehr dran gewesen wäre, obwohl sie das täte, was von ihr verlangt wird, sich zu melden. Damit wählt sie eine ähnliche Strategie wie Matteo zu Beginn der Beobachtung. Hier ist erneut zu beobachten, was Kalthoff (2020, S.90) Selbstwahl nennt. Auf diese Weise erobert sie das Rederecht für die nächste Antwort.

Zu Beschreibung 2

Nils verändert sein Meldeverhalten im Laufe der Beobachtung. Zu Beginn wird beschrieben, wie sein Melden eher unsicher wirkt. Seinen Zeigefinger hält er nah an seinem Gesicht und sein Ellenbogen ist auf dem Tisch abgestützt. Sein Meldeverhalten könnte eine Unsicherheit über die Richtigkeit seiner Lösung signalisieren. Breidenstein (2006, S.99) deutet ein solches Verhalten als einen riskanten Versuch, da der Schüler Sorge zu haben scheint, dass seine Antwort nicht korrekt ist. Die Art und Weise, wie Nils anschließend die Antwort an die Tafel schreibt, bestätigt diese Vermutung, denn er holt sich währenddessen immer wieder die Bestätigung der Lehrkraft bis hin zum Vorsagen der Lösung durch die Lehrkraft. Dieses vorsichtige Melden hält an, sowie das Aufstützen des Ellenbogens. Zum Ende der Beobachtung ändert sich sein Verhalten. Sein Finger ist nun ausgestreckt, teilweise in Miras Richtung gehalten, wodurch es scheint, als würde er dringend das Rederecht erhalten wollen. Dies zeigt beispielhaft, dass Meldungen unterschiedliche Intensitätsgrade haben können (vgl. Budde 2011, S.133).

Raffaels Meldeverhalten wirkt weniger unsicher. Nachdem sich Nils einige Male als Einziger gemeldet hat, fängt auch Raffael an, sich regelmäßiger zu melden. Sein Arm ist bei der ersten Meldung nicht aufgestützt, sondern erhoben, wenn auch nicht durchgestreckt. Bei seiner nächsten Meldung wird beschrieben, wie er den Arm auf dem Tisch abstützt. Das Verhalten von Raffael zeigt, dass Breidensteins Ausführungen (2006, S.99) nicht vollständig sind, sondern es Verhaltensintensitäten zwischen den aufgeführten geben kann. So ist Raffaels Verhalten weder ein durch einen geschwenkten Arm und schnipsenden Finger signalisiertes dringendes Bedürfnis, noch lässt es sich als lässige, reduzierte Geste durch einen aufgestützten Arm werten.

Garys Meldeverhalten unterscheidet sich von den beiden zuvor beschriebenen. Vor seiner ersten Meldung liegen seine beiden Arme auf dem Tisch ab. Dann hebt er ihn vorsichtig – ggf. unsicher – an und streckt seinen Finger langsam vor seinem Gesicht aus. Auffallend ist, dass er die Meldung kurzzeitig zurückzieht, als Mira in seine Richtung schaut. Dies könnte, gemessen an seiner Körpersprache, daran liegen, dass er sich seiner Antwort unsicher ist und lieber nicht drankommen möchte, um keine falsche Antwort zu nennen. Doch dann meldet er sich wieder, vielleicht, weil er, als Mira ihn nicht mehr anschaut, kein Risiko mehr wahrnimmt, an die Reihe zu kommen. Bei der nächsten Frage meldet sich Gary ähnlich. Seine Arme sind an seinen Körper gedrückt, was unsicher wirkt. Seinen Finger bewegt er nach oben und nach unten. Dies scheint, als würde er abwechselnd drankommen wollen, sich dann jedoch unsicher darüber werden. In diesem Zusammenhang fällt auf, dass sein Meldeverhalten, sollte er tatsächlich unsicher über die Antwort sein, nicht dafür sorgt, weniger aufzufallen. Obwohl Nils bei dieser Meldung hochschnellt und auch Raffael sich meldet, wird Gary von Mira drangenommen. Dies könnte in dem Zusammenhang mit der Art des Meldens sein. Wie bereits mehrfach aus der Literatur zitiert (vgl. Breidenstein 2006; Budde 2011) wird Bewegung bei der Meldung auch als Strategie verwendet, um der Lehrkraft, oder in diesem Falle Mira, aufzufallen und dranzukommen. In diesem Falle scheint Gary durch die Körpersprache zwar unsicher, seine Bewegung führt jedoch dazu, dass seine Meldung wahrgenommen wird. Strategien zum dringenden Erlangen wollen des Rederechts ist besonders in der Unterrichtssituation am Ende der Beschreibung zu erkennen. Kim wurde, obwohl sie sich nach ihrer Aussage nicht gemeldet hat, drangenommen und soll nun eine Antwort geben. Als ihre erste Antwort falsch ist, korrigiert sie sich drei Mal. In dieser Zeit zeigt sich unterschiedliches Meldeverhalten von den Kindern, welche die richtige Antwort geben möchten. Nils lehnt sich über seinen Tisch nach vorne, steht auf und stellt sich von einem Fuß auf den anderen. So macht er sich durch das Näherlehnen und die Bewegung körperlich bemerkbar (vgl. Budde 2011, S.136). Tanja, die bereits seit einiger Zeit hinter ihrem Stuhl steht und sich von dort aus meldet, beginnt dort auf und ab zu springen. Auch durch ihr Verhalten fällt sie durch die Bewegung auf. Bei Kiran zeigt sich dasselbe Verhalten, denn auch er ist aufgestanden und hüpft immer energischer. Alle dieser Kinder wackeln außerdem mit ihrem Finger hin und her, was Breidenstein (2006, S.99) als ein dringendes Bedürfnis deutet. Neben dieser Strategie, durch Bewegung auffallen zu wollen, rufen einige Kinder ein „Nein!“ in die Klasse, wenn Kims Korrektur falsch war oder sagen, dass sie die Antwort kennen. So ist auch eine verbale Strategie zu erkennen, die Lehrerin davon überzeugen zu wollen, sie dranzunehmen. In Bezug auf Kim zeigt sich ein Problem, dass Sacher (1995, S.2) kritisiert. Dies ist der Druck, unter dem die Schüler*innen stehen, eine korrekte Antwort zu geben. Sie haben dafür nur eine kurze Bedenkzeit, noch während die Lehrkraft die Frage stellt und meist keine Zeit, nach der Frage noch darüber nachzudenken. Hinzu kommt, wie zu beobachten ist, dass auch die Mitschüler*innen Kim unter Druck setzen, indem sie deutlich signalisieren, dass sie die Antwort, im Gegensatz zu Kim, kennen. Es zeigt, dass das Meldeverhalten der anderen Mitschüler*innen einen Einfluss auf das Antwortgebende Kind haben kann.

Des Weiteren lässt sich eine Situation mit Matteo herausarbeiten. Bei ihm ist kein konkretes Meldeverhalten zu beobachten, jedoch etwas anderes, das in der Literatur häufig in dem Zusammenhang erwähnt wird. Matteo liegt mit dem Kopf auf dem Tisch. Sein Verhalten, auch nach dem Aufruf, lässt vermuten, dass er dem Unterricht nicht aktiv folgt. Die Lehrerin nimmt ihn dran, als keiner sich meldet. Sacher (1995, S.1) definiert Melden als einen Wunsch, drangenommen zu werden. Somit lässt sich festhalten, dass Matteo, der sich nicht meldete, nicht drangenommen werden wollte. Doch diese Strategie scheint nicht erfolgreich zu sein, denn er wird aufgerufen. Kalthoff (2020, S.90) beschreibt, dass Schüler*innen Strategien der Unscheinbarkeit nutzen, um nicht aufzufallen. Dazu gehört es unter anderem, nicht zu abgelenkt zu wirken. Durch Matteos Verhalten lässt sich die Aussage Kalthoffs genauer erklären und definieren und zeigt, dass es Strategien außerhalb der aktiven Meldung mit der Hand geben kann, um kein Teil des Unterrichtsgesprächs sein zu müssen.

Fazit

In den Beschreibungen konnten verschiedene Strategien des Meldens beobachtet werden. Unter anderem Breidensteins (2006, S.99) Beschreibungen unterschiedlicher Meldungen und ihrer Intentionen waren in den Beobachtungen wiederzufinden. Erkennbar war in den vorliegenden Beobachtungen, dass die Schüler*innen sich bei dem dringenden Bedürfnis, drangenommen werden zu wollen, vor allem körperlich bemerkbar machten, z.B. indem sie aufstanden, sprangen, den Finger in Richtung der Person streckten, die für das Aufrufen verantwortlich war oder mit dem Finger wackelten. Außerdem waren auch verbale Strategien zu erkennen, wie das Hineinrufen. Auffallend war jedoch, dass nie beschrieben wurde, dass die Lösung hineingerufen wurde, sondern vielmehr gefragt wurde, ob auch andere etwas sagen dürften oder, dass man die Antwort kenne. Interessant ist auch die Beobachtung, dass sich Strategien im Verlauf des Unterrichts verändern können. Zudem scheint es unterschiedliche Arten der Geduld bei den Kindern zu geben. Deutlich wird dies vor allem in der ersten Beobachtung. Während Matteo gleich zu Beginn sein Rederecht durch eine verbale Äußerung fordert, wartet Kim bis fast zum Schluss des Unterrichts, bis sie sich verbal bei der Lehrkraft bemerkbar macht. Matteos Verhalten innerhalb der zweiten Beobachtung zeigt, dass es beim Meldeverhalten mehr zu beobachten gibt, als lediglich das aktive Melden. Sein Verhalten lässt sich vielmehr mit einem passiven Nicht-Melden definieren. Somit ist festzuhalten, dass das Melden und Nicht-Melden gemeinsam als Meldeverhalten beobachtet werden kann.

In Bezug auf die Strategien muss jedoch Sacher zitiert werden: „Schülerstrategien lassen sich in den Mitarbeitsinteraktionen also nur z.T. nachweisen. In mancher Hinsicht veralten sich Schüler genau umgekehrt, wie es strategische Überlegungen erfordern würden. Sofern ihr Verhalten durch strategische Erwägungen bestimmt ist, kommt anscheinend längerfristigen (kumulierten) Effekten größere Bedeutung z als kurzfristigen (unmittelbar vorangehenden)“(Sacher 1995, S.65). Als Lehrkraft dürfen wir somit keine voreiligen Schlüsse auf unsere Schüler*innen oder unseren Unterricht ziehen. Auch dann, wenn Beobachtungen Rückschlüsse auf den Schwierigkeitsgrad der gestellten Fragen (vgl. Breidenstein 2006, S.100) oder die Motivation der Schüler*innen geben können, sollte, möchte man das Meldeverhalten für eine solche Analyse des Unterrichts nutzen, mehr als eine Beobachtung hinzugezogen werden. Somit kann die Beobachtung vielmehr ein erster Anhaltspunkt sein, sollte in diesem Zusammenhang jedoch z.B. durch Befragungen der Schüler*innen gestützt werden.

Außerdem zeigt es, dass die Art des Meldens und das Verhalten nicht automatisch die Bewertung der mündlichen Note beeinflussen sollte. Unbewusst bewerten sicherlich Lehrkräfte Schüler*innen, die sich engagiert melden besser, als diejenigen, die sich auch melden, dabei jedoch auf dem Tisch liegen. Meiner Meinung nach sollte die mündliche Leistung nicht von einem Verhalten während des Meldens abhängen, sondern vielmehr von der Qualität der Antwort oder schon allein aufgrund der Beteiligung. Allerdings zeigen die Beobachtungen und die Literatur, dass auch die Beteiligung ein Spiel sein kann und ein Engagement vorgemacht werden kann, ohne, dass dies von der Lehrkraft registriert wird. Bei der Bewertung der mündlichen Leistung sollte auch dies nicht ausgeblendet werden.

Bei zukünftigen Beobachtungen des Meldeverhaltens wäre eine Videoaufnahme sinnvoll. Bei vielen Schüler*innen, die mit der Lehrkraft oder untereinander interagieren ist es schwierig, alle wahrzunehmen. So wurden sicherlich Kinder übersehen, die sich neben den „lauten“ Meldungen eher unscheinbar oder nicht auffallend bzw. undeutlich gemeldet haben, so wie bspw. auch Kalthoff (2020, S.90) unscheinbare Meldungen beschreibt. Auch Sacher (1995, S.2) bemerkt, dass Meldungen häufig stillschweigend zurückgezogen werden und dies nicht registriert wird. Solche Beobachtungen sind in den Beschreibungen kaum zu finden, während in der Analyse jedoch durchaus interessant gewesen. Außerdem besteht, aufgrund der schnellen Handlung im Klassenraum, die Möglichkeit, dass viele weitere interessante und ggf. wichtige Details übersehen wurden, die ebenfalls aufschlussreich für das Meldeverhalten der Schüler*innen gewesen wären. Zudem wäre es sinnvoll gewesen, jeweils Sitzpläne zu erstellen, um die Meldungen und die Beteiligungen besser nachvollziehen zu können.

Des Weiteren lässt sich wenig beschreibende und ethnografische Literatur zum Meldeverhalten finden, vielmehr deutende. So wurde häufig davon gesprochen, welches Verhalten welchen Ausdruck hat oder welche Schwierigkeiten es in der Gesprächspraxis in Schulen gibt. Vor allem in der Analyse führte dies zu der Erschwernis, beschreibend zu analysieren, nicht jedoch in eine deutende Analyse zu verfallen. Da sich dies jedoch nicht vermeiden ließ, wurden mögliche Deutungen als Möglichkeiten ohne endgültige Richtigkeit der Intention dargestellt. Auch im Forschungsprozess stellte sich dies als Schwierigkeit dar, da häufig unbewusst Schlüsse über die Intention des Verhaltens gezogen wurden, da man als Lehrkraft häufig dazu neigt, etwas auf seine Ursprünge zu analysieren, um konkret an seinem eigenen Verhalten etwas ändern zu können. Dies war gerade deshalb schwierig, da große Teile des Praxissemesters daraus bestehen sich selbst und das eigene Verhalten zu reflektieren. Von sich wegzuschauen und allein das Verhalten der Schüler*innen zu fokussieren stellte daher eine Herausforderung dar.

Für die weitere Forschung wäre es interessant, das Meldeverhalten in Kontexten, in denen die Schüler*innen für das gegenseitige Drannehmen verantwortlich sind, genauer zu untersuchen, da dann nicht mehr um die Aufmerksamkeit der Lehrerin geworben wird, sondern um die des Kindes. Es lässt sich vermuten, dass diese Bewerbungen um das Rederecht anders aussehen, da das Verhältnis zwischen den Kindern ein anderes ist als zu der Lehrkraft. Auffallend war beispielsweise in der zweiten Beschreibung, in welcher das Tageskind für das Aufrufen verantwortlich war, dass sich die Meldungen unter ihrer Führung von denen unterschieden, in denen die Lehrerin die Aufrufe tätigte. Außerdem wäre es interessant, die Beobachtung des Meldeverhaltens auch auf das Nicht-Melden zu erweitern und zu erfassen, wie sich nichtmeldende Schüler*innen verhalten und welche unterschiedlichen Arten und Strategien dort zu beobachten sind. Zuletzt könnten die Unterrichtssituationen, in denen das Meldeverhalten beobachtet wird, verändert werden. So könnte beispielsweise ein Augenmerk auf das Meldeverhalten in Sitzkreisen gelegt werden.

Literatur

  • Amann, K./Hirschauer, S. (1997): Die. Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In: Hirschauer, S./Amann, K. (Hrsg.), S.7-52.
  • Breidenstein, G. (2006): Teilnahme am Unterricht. Ethnografische Studien zum Schülerjob. Wiesbaden: Verlag für Sozialwissenschaften.
  • Budde, J. (2011): Dabei sein ist alles? Erkenntnispotential ethnographischer Beobachtungen anhand von Interaktionspraktiken zur Verteilung des Rederechts im Unterricht. In: ZQF Heft 1/2011, S.125-148.
  • Heinzel, F./Wiesemann, J. (2005): Den Schulalltag beobachten. In: Dauber, H./Krause- Vilmar, D. (Hrsg.): Schulpraktikum vorbereiten – Pädagogische Perspektiven für die Praxis. Bad Heilbrunn, S.207-222.
  • Hess, M./Denn, A. (2019): Niedrige inferente Kodierung: Meldungen und Aufrufe im öffentlichen Unterricht. In: Lipowsky, F./Hess, M./Denn, A. (Hrsg.): Dokumentation der Erhebungsinstrumente des Projekts „Persönlichkeits- und Lernentwicklung von Grundschulkindern.“ Technischer Bericht zu den PERLE-Videostudien. Band 2: Beobachtungssysteme zur Beschreibung und Qualität von Grundschulunterricht. Frankfurt am Main: GFPF; DIPF, S. 37-52.
  • Kalthoff, H. (2020): Wohlerzogenheit. Eine Ethnografie deutscher Internatschulen. (2. Auflage) Frankfurt: Campus Verlag.
  • Sacher, W. (1995): Meldungen und Aufrufe im Unterrichtsgespräch. Theoretische Grundlagen, Forschungsergebnisse, Trainingselemente und Diagnoseverfahren. Augsburg: Wissner.

SchülerInnenhandeln bei der Herstellung von Unterrichtsordnung (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Inhalt 

  1. Einführung
  2. Dichte Beschreibung
  3. Analytische Dimensionierung
  4. Fazit
  5. Literaturverzeichnis

1. Einführung

„Durch Beobachtungen (im Unterricht) (…) wurde deutlich, wie Kinder in ihrer Aufmerksamkeit hin- und herpendeln: zwischen den Regieanweisungen der Lehrerin und den Inszenierungsvorschlägen der Gleichaltrigen, zwischen den von der Lehrerin für wichtig erachteten Themen und den leerkulturellen Themen.“ (Heinzel 2012: 178)

In einer dezidierten Untersuchung der kindlichen Perspektive auf Schulunterricht macht Friederike Heinzel sichtbar, wie Kinder innerhalb von Unterrichtsszenarien unterschiedliche und stellenweise antagonistische soziale Systeme balancieren müssen – einerseits als SchülerIn die durch Schule an sie formulierten Anforderungen, d.h. Unterricht konstituierende Rituale und Aufgaben, andererseits ihre Teilhabe an Peerkultur, d.h. an den sozialen Mechanismen und Umgangsformen zwischen Gleichaltrigen (vgl. auch 2004: 114-125).

Mithilfe der Methoden ethnografischer Forschung, in deren Blick die Untersuchung von Unterricht zunehmend geraten ist, können die von SuS[1] im Rahmen solcher Balanceakte bewusst und unbewusst verwendeten Strategien sichtbar gemacht werden, indem sie dezidiert verfremdet beobachtet werden (vgl. Wiesemann 2011: 1-2).[2] Als vielversprechend erweist sich in diesem Zusammenhang die Beobachtung der liminalen Phasen einer Unterrichtseinheit als Phasen der sukzessiven Ablösung eines sozialen Systems (Kommunikation in der Peergruppe, prägend im Rahmen von Pausenphasen) durch ein anderes (Kommunikation innerhalb der Richtlinien von Unterrichtsordnung) und den dabei für SuS erforderlichen Strukturierungsleistungen (vgl. Zizek 2015: 322; Schelle 2018: 90-93).

In der folgenden ethnografischen Untersuchung werde ich analysieren, welche Gestalt kindliche Strategien zum Umgang mit den sozialen Anforderungen von Unterricht in einer solchen Liminalphase annehmen können. Dabei konzentriere ich mich vornehmlich auf die an Kinder in ihrer Position als SchülerIn gestellten Anforderungen, da dies innerhalb des begrenzten Rahmens dieser Arbeit einen schärferen Analysefokus erlaubt.

Grundlage meiner Untersuchung ist die von mir im Rahmen meines Praxissemesters durchgeführte Beobachtung und davon ausgehende dichte Beschreibung. Erstere habe ich am 12.11.2020 zu Beginn der dritten Schulstunde nach der Hofpause (10:10 Uhr bis 10:21 Uhr) in einer zweiten Schulklasse sowie an einer mittelgroßen Grundschule im Sauerland durchgeführt. An der Schule wird ausschließlich jahrgangshomogener Frontalunterricht praktiziert, mithilfe der von Peschel formulierten Kategorien lässt sich die Lernkultur auf Stufe 0, „Organisatorische Öffnung als Vorstufe“, ansiedeln (vgl. 2010: 97). Aufgrund der im Rahmen der Corona-Pandemie verordneten Schutzbestimmungen sitzen SuS zu zweit auf festgelegten Plätzen an frontal ausgerichteten Tischen, die in einem Abstand von etwa einem Meter stehen.

Im Anschluss an die unten formulierte dichte Beschreibung der beobachteten Situation werde ich im Sinne des oben formulierten Untersuchungsschwerpunktes innerhalb einer analytischen Dimensionierung die sichtbaren Strategien von SuS im Umgang mit der Herstellung von Unterrichtsordnung nachzeichnen. Abschließend werde ich in einem Fazit die Ergebnisse dieser Untersuchung zusammenfassen und mögliche hiervon ausgehende Forschungsperspektiven aufzeigen.

2. Dichte Beschreibung

Die Klasse kehrt unter angeregten Gesprächen aus der Hofpause in das Klassenzimmer zurück. Einige laufen, andere kommen eher gemütlich und in konversierenden Grüppchen. In der Klasse angekommen, fangen viele SuS an, ihre Jacken auszuziehen und an Kleiderhaken nahe der Eingangstür aufzuhängen, andere setzen sich wiederum mit ihrer Jacke an den Platz und kramen in ihren Frühstücksboxen.

Frau Iser, die im Klassenraum weilende Lehrerin, welche die zurückkehrende Klasse nach der Hofpause zur dritten Unterrichtsstunde erwartet, ist sichtbar in Eintragungen an ihrem Schreibtisch vertieft und nimmt so scheinbar zunächst keine Notiz von den zurückkehrenden SuS. Erst, als die Lautstärke in dem Klassenzimmer anschwillt, erhebt sie sich mit versteinerter Miene von ihrem Platz. Sie stellt sich an die Wand, verschränkt die Arme und schaut ausdruckslos in die mittlerweile volle Klasse, die weitestgehend in Gespräche mit SitznachbarInnen vertieft ist, indem sich SuS an diesen beteiligen oder die Köpfe in Richtung eines solchen Gespräches wenden.

Einige Schülerinnen in der vorderen Reihe haben währenddessen ihren Platz aufgeräumt, indem sie ihre Frühstücksboxen in der Tasche sowie ihre Jacken an den Kleiderhaken verstaut haben, und schauen nun erwartungsvoll zu Frau Iser. Auf einem so vorbereiteten Platz befindet sich nur das Mäppchen, das von den meisten SuS bereits geöffnet wurde. Diese SuS nehmen den Ärger der Lehrerin wahr, eine von ihnen dreht sich zur Klasse und ruft gut vernehmlich „Seid leise!“ durch die Klasse, einige andere der Schülerinnen drehen sich hierauf ebenfalls nach hinten. Daraufhin heben sich die Augenbrauen von Frau Iser, sie beantwortet den Ausruf der Schülerin, indem sie, umso lauter, „Nein, Lena! Dreht ihr euch bitte nach vorne?“ dazwischen ruft, woraufhin die Schülerinnen gehorchen und eingeschüchtert den Kopf senken. Dies scheinen auch andere SuS gehört zu haben, denn nachdem eine Schülerin aus den hinteren Reihen das Leisezeichen – den ausgestreckten Daumen, der andere SuS zum Beenden von Gesprächen animieren soll – signalisiert, folgen andere SuS ihrem Beispiel. Während die Klasse zunehmend leiser wird, indem nach und nach die einzelnen Gesprächsgrüppchen ihre Aufmerksamkeit nach vorn richten und verstummen, richten die SuS einen entschuldigenden, schuldbewussten Blick auf die Lehrerin Iser, die einzelne SuS abwechselnd durchdringend taxiert.

Als es fast völlig still ist, was etwa 2 Minuten dauert, fängt an einem hinteren Tisch erneutes gut hörbares Gemurmel an. Frau Iser wendet ihren Blick daraufhin beleidigt von der Klasse, was einige SuS mit einem enttäuschten Seufzen kommentieren. Erst nachdem sich diese SuS durch Blicke und Zischgeräusche mit den hinteren Tischen verständigen, um die Lautstärke zu senken, wird es so leise, dass sich Frau Iser wieder zur Klasse wendet und zu sprechen beginnt. Ihre Stimme ist dabei zwar langsam und leise, jedoch voller kalter Wut: „Es sind jetzt 10 Minuten vergangen. Es kann ja wohl nicht sein, dass ich jedes Mal so lange warten muss, bis ihr ruhig werdet. Eigentlich wollte ich mit euch ein Spiel machen, aber dazu haben wir jetzt keine Zeit mehr.“ SuS in den vorderen Reihen bringen ihre neue Enttäuschung durch Stöhnen und kleinen Ausrufen zum Ausdruck, besonders gegenüber denjenigen SuS, die sie als Urheber des Gemurmels ausmachen, was sich in Aussagen wie „Oah, Naomi!“ ausdrückt.

3. Analytische Dimensionierung

In der folgenden analytischen Dimensionierung kann nun aufgezeigt werden, wie Kinder als SchülerInnen mit den sozialen Anforderungen der zuvor illustrierten Situation umgehen. Dabei begreife ich Kinder mit Heinzel als „kompetente Akteure […], die ihre Lebenswelten aktiv gestalten und an ihrer Entwicklung und Sozialisation selbst mitwirken“ (2012: 174), die „in ihren Kontexten immer sinnvoll handeln“ (ebd. 185), die also nachvollziehbare Gründe für das hier gezeigte Verhalten besitzen und mit diesem auch auf die systemischen Rahmenbedingungen von Schule reagieren. In einer solchen Analyse soll vor allem die Perspektive der SuS auf Unterricht nachvollzogen werden (vgl. ebd. 177-182).

Zunächst markiert werden kann die der liminalen Situation immanente Ritualhaftigkeit, die nach Wagner-Willi zur „Herstellung von Unterrichtsbereitschaft“ (2018: 60) dient und die beim Übertritt der SuS über die Türschwelle in den Klassenraum eine bestimmte Handlungsfolge diktiert: Jacke ausziehen, Tisch aufräumen, hinsetzen, aufmerksam sein und schweigen. Indem SuS etwa wie beschrieben unaufgefordert ihren Blick wartend nach vorn richten, zeigen sie, dass sie das Handlungsmuster kennen und sich weiterhin diesem unterordnen. Inwiefern Kinder jedoch auch hier durchaus typische Peerkommunikation (vgl. Heinzel 2012: 179) und damit im Sinne der Herstellung von Unterrichtsordnung von diesem Ritual abweichendes Verhalten zeigen, ist möglicherweise mit Blick auf das ebenfalls abweichende Verhalten der zunächst unaufmerksamen und nicht instruierenden Lehrkraft erklärbar. Für die gerade aus der durch peerkulturelle Aktivitäten geprägten Pause ankommenden SuS mag es die Lehrkraft sein, die von dem ihnen bekannten Ritual und ihrer Rolle im Frontalunterricht abweicht und ihnen so einen Aufschub vor der Teilnahme an Unterrichtsordnung gewährt.

In der Aufforderung „Seid leise!“, mit der sich Lena an ihre MitschülerInnen richtet, wird genau wie in dem durch SuS angestoßenen „Leisezeichen“ oder den Zischgeräuschen gegenüber den Murmelnden in den hinteren Reihen wiederum die Einordnung der hier aktiven SuS in die hier ausgeübte Unterrichtsordnung sichtbar. Lena etwa begreift, dass Frau Iser sich hier in ihrer Funktion als Lehrkraft als Einzige zur Rede autorisiert begreift. In Lenas Versuch, dem im Ärger der Lehrkraft sichtbaren Wunsch nach Schweigen und Aufmerksamkeit aller SuS nachzukommen und eine diesem Wunsch entsprechende Umgebung herzustellen, erkenne ich eine Strategie, die die Sanktionen durch die dazu berechtigte Lehrkraft vermeiden soll. Eine solche Sanktion gebraucht Frau Iser am Ende der Beschreibung (Vorenthalten einer Belohnung), daher mag Lena und anderen SuS diese Funktionsweise bekannt sein. Auch den durch die Lehrkraft verordneten „Warteauftrag“, in dem den SuS jede Handlung verboten ist, kann man aus Sicht der SuS als Sanktion begreifen. Im Durchbrechen des Redeverbotes durch Gemurmel sowie den konsekutiven Rufe der Enttäuschung, als die Lehrkraft  eine Verlängerung des Verbotes signalisiert, wird sichtbar, wie unangenehm den SuS dieser Auftrag ist. Indem Lena und Co. ihre MitschülerInnen zur Teilnahme am Ritual auffordern, möchten sie meiner Meinung nach durch die Herstellung von Konformität ein schnelles Ende des wohl als quälend empfundenen Zustandes absoluter Passivität herbeiführen, während sie diesen gleichzeitig auf „erlaubte“ Weise unterlaufen.[3]

Neben Passivität demonstrieren SuS den Anforderungen der hier gezeigten Unterrichtsordnung sowie den Erwartungen der Lehrkraft entsprechend zusätzlich an verschiedenen Stellen performative Unterwürfigkeit. Als Lena und ihre Sitznachbarinnen infolge ihres Ordnungsversuches gerügt werden, ist ihre Reaktion, den Kopf zu senken, für mich einerseits aus ihrer Enttäuschung erklärbar, immerhin war Handeln gegen die Unterrichtsordnung – wie oben gezeigt – vermutlich nicht ihre Absicht, andererseits scheint es die gerade generierte Unterrichtsordnung zu verlangen, dass sich SuS auf diese Weise erneut demonstrativ unterordnen und die Lehrkraft so ihrer Regelkonformität versichern. In gleicher Weise markieren von der Lehrerin taxierte SuS ihre bisherige Beschäftigung in einer Art sichtbarem Schuldeingeständnis selbst als Fehlverhalten.

4. Fazit

In dieser Arbeit gezeigt worden ist, wie Kinder begriffen in ihrer Rolle als SuS in einer spezifischen schulischen Situation auf die Anforderungen der in einer Liminalphase ritualhaft hergestellten Unterrichtsordnung reagieren und dabei die ihnen gewährten Freiräume nutzen. In Anbetracht der Grundlage einer singulären Beobachtung und Beschreibung sowie des Umfangs dieses Textes müssen die hier formulierten Überlegungen als vorläufig und gewissermaßen oberflächlich betrachtet werden. Für entsprechend fruchtbar erachte ich die Ausweitung des Beobachtungszeitraumes sowie der TeilnehmerInnengruppe zum Zwecke einer differenzierten Einordnung.

Darüber hinaus könnte eine weiterführende Untersuchung anders als diese Arbeit SuS vor allem innerhalb der sozialen Mechanismen der Peerkultur im Unterricht perspektivieren und dabei hier illustrierte SchülerInnenhandlungen, etwa die gegenseitigen Ermahnungen, der gegeneinander zum Ausdruck gebrachte Frust, aber auch die für MitschülerInnen sichtbaren Handlungen gegenüber der Lehrkraft, als Ausdruck von für SuS wichtigen „Sozialbeziehungen mit Gleichaltrigen“ (Heinzel 2012: 177) begreifen. Gewinnbringend scheinen mir insbesondere solche Überlegungen, die Peergruppe und Unterrichtsordnung als teilweise rivalisierende Sozialgefüge auch in ihrer Interaktivität wahrnehmen (vgl. Wiesemann 2011: 179 ).

Nur sehr vorsichtig darf hingegen eine Auswertung der Untersuchung aus pädagogisch-normativer Perspektive erfolgen, ist die ethnografischen Untersuchungen inhärente kritische Distanz mit Breidenstein gesprochen gerade durch die „Suspendierung von Normativität“ (2012: 42), i.e. von vorschnellen und didaktisch motivierten Erklärungsversuchen, zu gewährleisten. Wiesemann weist hingegen auch eingedenk dieser Vorsichtsmaßnahmen auf die Möglichkeiten kritischer Evaluation innerhalb von ethnografischer Forschung hin (vgl. 2011: 181). So könnte etwa die Frage danach gestellt werden, welchen langfristigen Einfluss die hier beispielhaft illustrierte Unterrichtsordnung auf SuS ausübt, welche Art SchülerIn sie also hervorbringt (vgl. ebd.). In Vergleichsperspektive ließe sich weiterhin untersuchen, wie sich SuS gegenüber der in liminalen Ritualen hergestellten Unterrichtsordnung in offenen Unterrichtsszenarien verhalten, wie dies auch Wagner-Willi fordert (vgl. 2018: 63).

5. Literaturverzeichnis

  • Breidenstein, G. (2012). Ethnographisches Beobachten. In H. De Boer & S. Reh (Hrsg.), Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen (S.27-44). Wiesbaden: Springer VS.
  • Breidenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H. & Nieswand, B. (2015). Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung (2. Aufl.). Konstanz/München: UKV Vertragsgesellschaft mbH.
  • Heinzel, F. (2004). Traktat vom „schwierigen Kind“ oder pädagogischer Optimismus? In F. Heinzel & U. Geiling (Hrsg.), Demokratische Perspektiven in der Pädagogik. Annedore Prengel zum 60. Geburtstag (S. 114–125). Wiesbaden: VS.
  • Heinzel, F. (2012). Der Blick auf Kinder. In H. De Boer & S. Reh (Hrsg.), Beobachtung in der Schule – Beobachten lernen (S.173-188). Wiesbaden: Springer VS.
  • Peschel, F. (2010). Freiraum statt Einschränkung: Offener Unterricht muss konsequenter umgesetzt werden. In T. Bohl, K. Kansteiner-Schänzlin, M. Kleinknecht, B. Kohler & A. Nold (Hrsg.), Selbstbestimmung und Classroom-Management. Empirische Befunde und Entwicklungsstrategien zum guten Unterricht (S. 93-114). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Schelle, C. (2018). Unterricht anfangen. In M. Proske & K. Rabenstein (Hrsg.), Kompendium Qualitative Unterrichtsforschung. Unterricht beobachten – beschreiben – rekonstruieren (S. 85-102). Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
  • Wagner-Willi, M. (2018). Rituelle Praktiken auf den schulischen Vorder- und Hinterbühnen. In J. Brühlmann & D. Conversano (Hrsg.), Rituale an Schulen. Wirksam und unterschätzt (S. 58-63). Zürich: Verlag LCH.
  • Wiesemann, J. (2011). Ethnographische Forschung im Kontext von Schule. In H.-U. Grunder, K. Kansteiner-Schänzlin & H. Moser (Hrsg.), Professionswissen für Lehrerinnen und Lehrer (S. 167-185). Baltmannsweiler: Schneider-Verl. Hohengehren.
  • Zizek, B. (2015). Exemplarische Rekonstruktion der Eröffnungsphase von Unterricht. Sozialisations-, bewährungs- und professionalisierungstheoretische Perspektiven auf Schule. Zeitschrift für Soziologie der Erziehung und Sozialisation, 35 (3), 321-338.

[1] Mit dieser Abkürzung bezeichne ich im Folgenden Schülerinnen und Schüler.

[2] Konstitutiv für ethnografische Forschung ist weiterhin die teilnehmende Beobachtung, d.h. die Teilnahme der beobachtenden Person an den Interaktionsmechanismen der zu beobachtenden Gruppe (vgl. Breidenstein et al. 2015: 7).

[3] SuS sind weiterhin bei der Allokation von Belohnungsmechanismen des Schulsystems (Lob, soziale Vorteile) von der Lehrkraft abhängig; Handeln nach ihrem Wunsch sowie gegen die eigene Peergroup kann damit auch als „Komplizenschaft,“ als Hoffnung auf einen Wettbewerbsvorteil in der Aussicht auf diese Belohnungen, verstanden werden. Die Lehrkraft verstärkt m.E. dieses Verhalten von Komplizenschaft, etwa indem sie zwar Lenas verbalen Versuch zur Beteiligung an der Herstellung von Unterrichtsordnung, nicht aber die sich etwa gegen Naomi entladenden Ausrufe, die der einzelnen Schülerin die Schuld für die vorenthaltene Belohnung zuweisen, sanktioniert.

Anfänge in der Grundschule – Unterrichtsanfang im Regelunterricht und Stundenanfang in der Notbetreuung im Vergleich (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Inhalt

1. Einführung

„Was kennzeichnet einen beforschten Anfang?“ (Schelle, 2018, S. 86)

Anfang machen im Kontext Schule ist bei weitem noch nicht so erforscht, wie vielleicht zunächst angenommen werden würde, da dieser oft nicht mit in Beobachtungen aufgenommen und als eher nebensächlich betrachtet wird (vgl. ebd.). Unterrichtsanfänge werden zwar als „dynamisches Geschehen“ (Juen, 2013, S. 102f.) gesehen, es ist aber nicht einheitlich definiert, was sie genau konstituiert und wo sie anfangen (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt, 2001, S. 142).

Um Unterrichtsanfänge näher betrachten und die für das Studienprojekt getätigten Beobachtungen definieren zu können, muss zunächst geklärt sein, was Unterricht im Allgemeinen ist. Nach Breidenstein und Tyagunova handelt es sich bei dem Schulunterricht um eine soziale Praxis, die zeitlich begrenzt ist und bei der sich Lehrkräfte, Schülerinnen und Schüler gemeinsam in einem Interaktionsfeld befinden (vgl. 2016, S. 77 f.). Nicht so deutlich definiert ist, wann genau eine Unterrichtsstunde beginnt (vgl. Tyagunova & Breidenstein, 2016, S. 81). Dies kommt jeweils auf die praktischen Umstände an, die je nach Schule, Klasse, Lehrkraft und Vorgaben variieren können (vgl. ebd.). Außerdem wird hier nochmal in zwei Phasen unterteilt: „in die Stundeneröffnung und den Unterrichtseinstieg“ (Juen, 2013, S. 31). Die Stundeneröffnung hat zunächst das Ziel, eine angenehme Lernatmosphäre herzustellen und die Lerngruppe zu etablieren, während der Unterrichtseinstieg gekennzeichnet ist durch das Befassen mit dem jeweiligen Thema der Stunde (vgl. Hüdepohl, 2009, S. 250). Im Kontext der vorliegenden Arbeit handelt es sich daher bei der ersten Beobachtung eher um eine Stundeneröffnung, während die zweite Beobachtung nochmal gesondert betrachtet werden muss. Sie weist weder Merkmale von Unterricht, noch einer Stundeneröffnung auf, da die Kinder eigenständig beginnen an unterschiedlichen Materialien zu arbeiten, ohne, dass von Seiten der Lehrkraft eine Lern- und Arbeitsatmosphäre hergestellt werden muss. Außerdem findet kaum Interaktion zwischen den teilnehmenden Personen statt und es wird nicht gemeinsam an einem Stundenthema gearbeitet. Daher handelt es sich bei der zweiten Beobachtung eher um einen allgemeinen Stundenanfang, der nur an der Uhrzeit festgemacht wird. Da trotz Notbetreuung weiter an den festen Schulzeiten mit einem Beginn um acht Uhr und den normalen Pausenzeiten festgehalten wurde und die gleiche Lehrerin beobachtet wird, handelt es sich um ähnliche Gegebenheiten, mit Ausnahme der Lerngruppe und dem Klassenraum. Die Fragestellung hinsichtlich des Studienprojekts lautet also: Wie unterscheidet sich der Stundenanfang während der Notbetreuung von dem Unterrichtsbeginn im Regelunterricht?

Zunächst wird im Folgenden das methodische Vorgehen im Studienprojekt dargestellt und eine Reflexion der eigenen Rolle, sowie das Vorstellen der beiden Lernkulturen finden statt. Anschließend folgen die beiden dichten Beschreibungen und deren analytische Dimensionierung. Die Arbeit endet mit einem Fazit, einer Zusammenfassung und einem kurzen Ausblick.

 

2. Mein methodisches Vorgehen

Im Rahmen meines Praxissemesters habe ich ein Studienprojekt an meiner zugeteilten Grundschule durchgeführt. Auf dem Hintergrund meiner Fragestellung habe ich mich auf die ethnografische Feldforschung konzentriert, mit dem hier spezifischen Feld des schulischen Unterrichts (vgl. Breidenstein, 2012, S. 28).

Hierbei handelt es sich um eine sozialwissenschaftliche Forschungsstrategie mit Fokus auf der teilnehmenden Beobachtung (vgl. Breidenstein, 2012, S. 27). Ursprünglich ging es bei der Ethnographie noch darum, eine fremde Kultur zu erforschen, ohne Erklärungen oder Urteile zu fällen (vgl. Breidenstein, 2012, S. 28). Die neu gefasste, hier genutzte Ethnographie zielt darauf ab, etwas bereits bekanntes zu beobachten „als sei es fremd“ (Amann & Hirschauer, 1997, S. 12), um neue Entdeckungen zu machen und Erkenntnisse zu sammeln.

Mein Interesse während der Beobachtungen galt vor allem den Interaktionen und Handlungen der Schülerinnen und Schüler, aber auch der Lehrkraft. Während der Beobachtungszeit habe ich Notizen gemacht, diese direkt im Anschluss geordnet und ergänzt, um anschließend „dichte Beschreibungen“ zu verfassen, welche möglichst übersichtlich, präzise und verallgemeinerungsfähig sind (vgl. Breidenstein, 2012, S. 31).

Außerdem habe ich bei beiden Beobachtungen darauf geachtet, alle handelnden Personen gut im Blick zu haben, um eine detaillierte Beobachtung anfertigen zu können und „Mikrostrukturen des jeweils konkreten unterrichtlichen Geschehens aufzuspüren“ (Wiesemann, 2011, S. 174).

Zunächst war geplant, dass ich den Unterrichtsanfang in meiner zugeteilten Klasse bei der Klassenlehrerin beobachte und diesen mit einem Unterrichtsanfang in der gleichen Klasse vergleiche, wenn eine andere Lehrerin den Unterricht beginnt. Da allerdings aufgrund der Corona-Pandemie im Januar kein Regelunterricht mehr stattgefunden hat, sondern nur noch eine Notbetreuung für einzelne Schülerinnen und Schüler, konnte die zweite Beobachtung nicht angefertigt werden. Die Thematik wurde daraufhin so abgeändert, dass die bereits im Dezember gemachte Beobachtung verglichen werden sollte mit einem Stundenanfang in der Notbetreuung. Der Themenwechsel erfolgte zwar erst nach Abschluss der ersten Beobachtung, war allerdings im Hinblick auf die neue Fragestellung kein Hindernis und die Beobachtung konnte übernommen werden. Im Hinblick auf die Fragestellung „Wie unterscheidet sich der Unterrichtsbeginn im Regelunterricht von demStundenanfang in der Notbetreuung?“, wurde im Januar dann in einer kleinen Gruppe, mit mir fremden Kindern, die zweite Beobachtung durchgeführt. Hier wäre noch zu erwähnen, dass es sich, trotz unterschiedlicher Lerngruppen, um die gleiche Uhrzeit und die gleiche Lehrerin handelt, sodass sich der Vergleich anbietet und sinnvoll erscheint.

Meine Teilhabe in der Beobachtung bestand „darin, die Aktivitäten der Akteure zu beobachten, zu beschreiben und zu verstehen“ (Wiesemann, 2011, S. 168). Im weiteren Verlauf werden die gewonnenen empirischen Befunde näher analysiert und miteinander verglichen, um die Unterschiede der beiden Beobachtungen herauszuarbeiten. Dabei gehe ich „Schritt für Schritt vor und folge damit der sich im Vollzug entfaltenden Logik der Praxis“ (Breidenstein, 2012, S. 36).

 

3. Reflexion

3.1. Meine Rolle im Feld als Forscherin

Während des Praxissemesters wechselte ich immer wieder zwischen den Rollen als Forscherin und Praktikantin. Durch meine teilnehmende Beobachtungsrolle nahm ich zwar am Geschehen teil, habe mich aber bewusst aus dem Handlungsverlauf des Unterrichts rausgehalten, um mich auf das Beobachten zu konzentrieren. Dies stand im Gegensatz zu meiner restlichen Rolle in der Klasse, da diese ansonsten geprägt war von einem regen Austausch mit den Schülerinnen und Schülern, dem Verfügbarstehen bei Fragen und dem Leiten von einzelnen Unterrichtssequenzen oder Unterrichtsstunden. Während ich die meiste Zeit des Praxissemesters in der Klasse umherging, vorne bei der Tafel einen Sitzplatz direkt neben einer Schülerin hatte, oder am Pult bei der Lehrkraft stand, entschied ich mich während der Beobachtungen bewusst dafür, hinten an einem Einzeltisch zu sitzen. Von dort hatte ich eine gute Sicht auf die Eingangstür, den vorderen Bereich der Klasse und alle Sitzplätze der Schülerinnen und Schüler. Außerdem stand dort ein Tisch und ich konnte direkt im Anschluss der Beobachtung noch an den Notizen arbeiten.

Zum Zeitpunkt der ersten Beobachtung war ich bereits über zehn Wochen in der Klasse, hatte bereits Vertrauen zu den Schülerinnen und Schülern aufgebaut und fühlte mich wohl damit, Unterrichtsstunden zu leiten. Das ethnographische Beobachten hingegen war mir weniger vertraut, da ich bisher eher Notizen bezüglich Unterrichtsmethoden und Ideen für eigene Unterrichtsstunden gesammelt hatte. Trotzdem funktionierte dies gut und die Schülerinnen und Schüler akzeptierten ab der ersten Beobachtung, dass ich währenddessen ich hinten saß, nicht für Fragen zur Verfügung stand. Der Wechsel zwischen Ethnographin und Praxissemesterstudentin fand immer wieder statt, ohne Probleme aufzuwerfen.

 

Anders war dies bei der zweiten Beobachtung, da ich keines der Kinder kannte und daher nicht wusste, wie auf mich reagiert wird. Außerdem wussten die Schülerinnen und Schüler nichts von meiner Beobachtungsaufgabe.  Da zu einem Großteil der Beobachtung keine Lehrkraft im Klassenzimmer war und kaum Interaktionen stattgefunden haben, hatte ich Schwierigkeiten damit, viele Notizen zu machen. Gerade durch das fehlende Erwidern meiner Begrüßung (vgl. Kapitel 5.3.) fühlte ich mich auch eher unwohl während des Beobachtungszeitraumes. Auch die Sitzplatzwahl war eine andere, da ich das erste Mal in dem Klassenraum war und nicht wusste, wo die Schülerinnen und Schüler Platz nehmen werden und wie viele überhaupt an der Notbetreuung teilnehmen. Daher habe ich mich an den Pult neben der Tafel gesetzt, von dem aus man zwar alle Tische der Kinder gut im Blick hat, allerdings nicht klar war, wie gut ich die Lehrperson beobachten kann.

 

3.2. Reaktionen des „Feldes“ auf meine Anwesenheit als Forscherin

Da mich die Klasse 4a seit vielen Wochen kennt, sowohl als Praxissemesterstudentin die den Unterricht unterstützt und bei Fragen zur Verfügung steht, als auch als leitende Lehrkraft, die ganze Unterrichtsstunden und auch einzelne Unterrichtstage übernommen hat, bin ich ihnen sehr vertraut. Außerdem sind sie es gewöhnt, dass ich regelmäßig hinten an dem Einzeltisch Platz genommen habe, um mir den Unterricht genauer anzusehen und Notizen zu machen. Dies wurde nicht weiter hinterfragt und es wurde akzeptiert, dass ich dabei möglichst nicht angesprochen werden sollte. Durch meine andere Sitzplatzwahl und das Arbeiten an den Notizen war für alle immer direkt klar, an welchen Tagen dies der Fall war.Allerdings kam es vorab oder auch nach den Beobachtungen dazu, dass einzelne Schülerinnen und Schüler auf mich zukamen und wissen wollten, was genau ich beobachte und wieso ich das tue. Meine Erklärung, dass ich mir ihren Schulalltag genauer anschaue oder Aufgaben für meine Universität erledige, reichte ihnen aus und wurde nicht weiter hinterfragt.

 

Zu den Kindern der zweiten Lerngruppe bestand kein vertrautes Verhältnis, da sie mich nicht kannten, außer eventuell von der Aufsicht auf dem Schulhof. Dies zeigte sich auch darin, dass keines der Kinder auf mich zukam oder mich ansprach, obwohl sie nicht wussten, in welcher Rolle ich in der Klasse bin. Sie haben mich zwar alle wahrgenommen und kurz angesehen, allerdings erfolgte keinerlei Kommunikation oder sichtbare Reaktion auf mein Dasein.

 

4. Beschreibung der Lernkultur der Klasse

Ich habe mein Praxissemester an einer zweizügigen, katholischen Bekenntnisgrundschule in Siegen durchgeführt und den Großteil meiner Zeit in der Klasse 4a verbracht, da die Klassenlehrerin auch meine Mentorin war. Meine erste Beobachtung fand auch in dieser Klasse statt, wobei es sich um 13 Mädchen und 7 Jungen handelt. Nach Angaben meiner Mentorin sind mehr als die Hälfte der Familien als bildungsfern eingestuft und insgesamt haben 17 Kinder einen Migrationshintergrund, acht von ihnen mit noch großen sprachlichen Problemen. Bei einer Schülerin wurde eine Lernbehinderung diagnostiziert, eine weitere hat ADHS und wird mit Ritalin behandelt. Daher ist jeden Tag eine Integrationshelferin mit in der Klasse, die die Lehrkraft unterstützt, besonders hinsichtlich der beiden zuvor genannten Schülerinnen.

In von mir durchgeführten Stunden wurde deutlich, dass die Klasse bei ihrer Klassenlehrerin deutlich leiser arbeitet und weniger Unruhe herrscht, als wenn ich die leitende Lehrkraft im Raum war. Die Beteiligung war aber erfreulicherweise immer sehr hoch und auf Aufforderung hin wurde es immer deutlich leiser, sodass eine angenehme Arbeitsatmosphäre herrschte. Außerdem nahm die Klasse mich sehr offen auf, freute sich auf von mir durchgeführte Stunden und meldete mir anschließend oft zurück, dass sie großen Spaß hatten.

Der Klassenraum der 4a ist sehr groß und verfügt über eine einseitige Fensterfront, von der aus man auf einen Wald und die große, zur Schule gehörende Spielwiese blicken kann. Gegenüber der Fensterfront stehen viele Regale und Schränke, die einen sehr ordentlichen Eindruck machen. Lediglich das Regal an der hinteren Wand des Klassenzimmers, in dem jedes Kind ein eigenes Fach besitzt, ist sehr unaufgeräumt. Direkt daneben sind vier Sitzbänke übereinandergestapelt, da sie zurzeit nicht genutzt werden dürfen. Dies führt dazu, dass in der Mitte des Raumes viel Platz ist, da die Bänke dort normalerweise stehen und die Doppeltische der Kinder dahinter in einer U-Form aufgestellt sind. Bei der Ordnung der Tische wurde darauf geachtet, dass sich alle Schülerinnen und Schüler im Blick haben, da viele Unterrichtsphasen darauf ausgelegt sind, dass sich gegenseitig drangenommen und diskutiert wird. Trotzdem ist, durch leichtes Drehen der Stühle, die Tafel für alle gut sichtbar, sodass der Mittelpunkt des Unterrichts jederzeit dorthin verlegt werden kann.

 

Bei der zweiten Lerngruppe handelte es sich um drei Kinder aus drei verschiedenen Klassenstufen, die ich bisher nur vom Sehen kannte. Auch meine Mentorin, die am Tag der zweiten Beobachtung die Aufsicht über die Gruppe übernahm, hatte bisher keines der Kinder im eigenen Unterricht und somit keine vertraute Beziehung zu ihnen. Sie kommen alle aus bildungsfernen Haushalten und haben einen Migrationshintergrund. Während deutschlandweit eine klare Differenz zwischen Berechtigung und der Inanspruchnahme der Notbetreuung besteht, und viele berechtigte Eltern ihre Kinder nicht in die Schule schicken (Langmeyer u.a., 2020, S. 19), ist es an meiner Praktikumsschule andersherum. Nicht nur berechtigte Familien schicken ihre Kinder in die Notbetreuung, sondern auch viele Eltern darüber hinaus. So ist es auch in dieser Lerngruppe, da ihre Zuordnung zu der Notbetreuung nicht darauf basierte, dass ihre Eltern arbeiten und sie daher Zuhause unbeaufsichtigt gewesen wären, sondern von Seiten der Lehrkräfte gewünscht war, dass sie kommen. Auf Nachfrage hin begründeten sie dies damit, dass die Kinder zu Hause keinerlei Unterstützung oder Aufsicht erhalten und man Sorge um ihren Zustand hätte, falls sie über Wochen nicht zur Schule kommen würden.

Von keinem der Kinder war der Raum der Notbetreuung das eigentliche Klassenzimmer, sodass auf diesen hier nicht näher eingegangen wird.

 

5. Dichte Beschreibungen und ihre analytische Dimensionierung 

5.1. Alltag in der Klasse 4a

Die Lehrkraft kommt kurz vor dem Klingeln in den Klassenraum. Einige Schülerinnen und Schüler sitzen bereits an ihren Plätzen, unterhalten sich angeregt mit ihren Sitznachbarn und andere stehen in Gruppen in der Klasse. Dabei handelt es sich mit einer Ausnahme um geschlechtshomogene Gruppen. Insgesamt herrscht eine gesellige Stimmung und es wird viel gelacht und sich lautstark unterhalten.

Die Lehrerin stellt ihre Sachen am Pult ab und Lena läuft direkt zu ihr, um einen Zettel abzugeben. Frau Müller nimmt diesen beiläufig entgegen und fragt das Mädchen, ob es ihr besser geht. Sie unterhalten sich noch, als es zur ersten Stunde klingelt.

Die Lehrerin schickt Lena auf ihren Platz und stellt sich vor die Klasse. Sofort wird es etwas leiser, die sich unterhaltenden Gruppen werden aufgelöst und alle gehen auf ihre Plätze. Nachdem die Lehrkraft fragt, wer fehlt und darauf hinweist, dass deren Stühle bitte noch von den Tischen genommen werden sollen, rufen mehrere Kinder die Namen der Fehlenden laut durcheinander. Die drei Kinder, die jeweils neben dem noch hochgestellten Stuhl sitzen, nehmen die Stühle von den Tischen, während die Lehrerin erklärt, dass zwei der Kinder sich noch in Quarantäne befinden und ein Kind krankgemeldet sei. Inzwischen schauen alle Kinder nach vorne und haben die Gespräche eingestellt.

Frau Müller schaut in die Runde und sagt mit freundlicher Stimme: „Ich wünsche euch allen einen schönen guten Morgen!“. Im Chor begrüßen die Schülerinnen und Schüler zunächst die Lehrkraft, die Integrationshelferin und zuletzt mich. Die Integrationshelferin schließt die Fenster, während Frau Müller die Tür schließt und zu dem Klassenschrank geht, der zwischen der Tafel und der Tür steht. An der Schranktür kleben viele verschiedene Gebete, aus denen jeden Morgen von der Lehrerin eines ausgewählt und vorgetragen wird. Alle stehen ohne zu sprechen auf und die Lehrkraft wartet mit Blick auf die Klasse, bis es ganz leise ist und alle zu ihr sehen. Dann beginnt sie mit den Worten: „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, Amen.“ Währenddessen machen alle gemeinsam das Kreuzzeichen und hören im Anschluss daran zu, als die Lehrerin mit ruhiger Stimme sehr betont ein Gebet vorspricht. Dabei haben einige Kinder die Hände verschränkt, manche haben ihre Hände auf der Tischkante und wieder andere lassen die Arme einfach baumeln. Als sie fertig ist, setzen sich alle hin und es beginnen Gespräche untereinander, die allerdings direkt eingestellt werden, als die Lehrkraft kräftig in die Hände klatscht und sie laut sagt, dass sie anfangen möchte und das Stundenthema vorstellt.

 

5.2. Erste analytische Dimensionierung: Die Perspektive der „Kinder“-Akteure 

Die beschriebene Szene spielte in einem zeitlichen Rahmen von elf Minuten im Klassenraum der 4a. Die Schülerinnen und Schüler können eigenständig ab 7:45 Uhr in den Raum, daher befinden sich bereits seit einigen Minuten viele Kinder in der Klasse.

Das Eintreten der Lehrkraft wird nicht von allen wahrgenommen, was daran zu sehen ist, dass Kinder mit dem Rücken zum vorderen Bereich der Klasse stehen, sich aber auch nicht umdrehen oder untereinander kommunizieren, dass Frau Müller gekommen ist. Außerdem ändert ihr Eintreten nichts an den Gesprächen oder der Aufteilung im Raum, was zeigt, dass ihr Eintreten nicht das Ereignis Unterricht für alle einleitet (vgl. Wagner-Willi, 2018, S. 60).

Die ausgelassene Stimmung und die angeregten Gespräche sind Ergebnisse der Interaktionen der verschiedenen Peergroups im Klassenraum. Diese sind in ähnlichen Zusammensetzungen wie schon in den Wochen davor und nur ein Junge steht in einer Gruppe mit Mädchen zusammen. Ansonsten handelt es sich um reine Mädchen- oder Jungengruppen, die unabhängig von der Sitzordnung sind. Diese geschlechtshomogene Aufteilung ist typisch für die vierte Klasse und löst sich oft erst einige Jahre später wieder auf (vgl. Tillmann, 1992, S. 14). Auch der Gang zum Pult und das Abstellen der Tasche ist ein typisches Ritual der Lehrerin, wobei sie die Aufmerksamkeit einer Schülerin auf sich lenkt und diese zu ihr nach vorne geht, um einen Zettel abzugeben. Der Schülerin scheint bewusst zu sein, dass der Unterricht noch nicht losgegangen ist und sie die Möglichkeit hat, Zeit der Lehrkraft zu beanspruchen. Diese „liminale Phase [vor dem]Unterricht lässt Raum für dyadische Prozesse zwischen einzelnen Schülern und dem Lehrer“ (Wagner-Willi & Göhlich, 2001, S. 187). Die Bezeichnung der Phase, die ausdrücken soll, dass noch kein Unterricht angefangen hat, wird von dem Ritualforscher Victor Turner als „liminale“ beziehungsweise als „Schwellenphase“ bezeichnet (vgl. 1989, S. 94) und ist auf ihn zurückzuführen. Diese dyadische Interaktion wird hier in der Unterform deutlich, dass die Schülerin der Lehrerin etwas übergibt. Dies ist ein vertrautes Muster, das zur Unterrichtsvorbereitung zählt (vgl. Wagner-Willi & Göhlich, 2001, S. 187).

Ähnlich ist es bei dem Klingeln, da dieses klassischerweise ein organisatorisches Ordnungssignal darstellt, auf das die Schülerinnen und Schüler reagieren, da es anzeigt, dass ein zeitlich gebundener Unterricht beginnt (vgl. Wolf, 2020, S. 9). Während dieses Signal den Schülerinnen und Schülern nach der Pause geläufig ist und sie daraufhin zurück in die Klasse kommen, ruft es zu Beginn des Schultages keinerlei Reaktion bei den Kindern hervor und scheint keinen Aufforderungscharakter zu haben, sich auf die Unterrichtsstunde vorzubereiten. Allerdings reagiert die Lehrkraft auf das Klingeln, schickt die Schülerin auf ihren Platz und nimmt eine für alle gut sichtbare Position vor der Tafel ein, von der aus sie alle Schülerinnen und Schüler im Blick hat. Anders als bei den vorherigen Situationen reicht dies aus, um die komplette Klasse sofort zu mobilisieren. Die Gespräche werden eingestellt und alle suchen ihren Sitzplatz auf, ohne diesbezüglich aufgefordert zu werden. Es scheint sich um eine etablierte Anfangsmarkierung zu handeln, die allen geläufig ist, keine weitere Kommunikation erfordert und die Brücke zwischen „Peerkultur und Unterrichtsordnung“ (Willi-Wagner, 2018, S. 63) schafft. Sie beendet das zwanglose Miteinander, dass bisher stattgefunden hat, ohne, dass dies weiter hinterfragt oder dem widersprochen wird (vgl. Schelle, 2018, S. 93). An dieser Stelle ist die liminale Phase des Übergangs zum Unterricht gut erkennbar, da die Lehrperson erste Schritte für die Herstellung einer Unterrichtsöffentlichkeit einleitet, der eigentliche Unterricht aber noch nicht beginnt (vgl. Wagner-Willi & Göhlich, 2001, S. 122), da sie zunächst fragt, wer noch fehlt. Auch die Anwesenheitskontrolle ist typisch für die Eröffnungsphase und führt hier dazu, dass es wieder lauter wird, da mehrere Kinder durcheinander in die Klasse rufen und drei der Kinder aufstehen, um die Stühle der fehlenden Kinder von den Tischen zu nehmen (vgl. Lüders, 2003, S. 217).

In der folgenden Begrüßung wird klar, dass sie „sich einer zutiefst routinisierten und vor allem von pädagogischen Ambitionen völlig befreiten Form der Unterrichtseröffnung bedient: einer standardisierten Begrüßungshandlung“ (Wolf, 2020, S. 12). Diese scheint im Kontext Schule etwas übertrieben, da mit dem Unterrichtsbeginn das zwanglose Miteinander endet (vgl. Schelle, 2018, S. 93). Auch die Reaktion von Seiten der Schülerinnen und Schüler, gemeinsam im Chor die Begrüßung zu erwidern, folgt einem altbekannten Muster, das in der Klasse ritualisiert zu sein scheint (vgl. Wolf, 2020, S. 12). Interessant ist, dass die Begrüßung der Kinder nicht allein auf die Lehrkraft bezogen ist, sondern sie automatisch auch die Integrationskraft und die Praxissemesterstudentin mit einbeziehen.

Auch im Anschluss der Begrüßung, als sowohl die Integrationshelferin, als auch die Lehrerin sich zunächst um das Schließen von Fenstern und der Tür kümmern, sitzen die Schülerinnen und Schüler leise auf ihren Plätzen und scheinen auf den weiteren Verlauf der Stunde zu warten, wie es auch die bisherigen Wochen zuvor immer der Fall war.

Das Rituale in der Klasse den Morgen strukturieren, wird auch daran deutlich, dass alle Schülerinnen und Schüler unaufgefordert aufstehen, als die Lehrerin zu dem Klassenschrank geht, an dem die Gebete hängen, von denen sie jeden Morgen eines vorträgt. Auch das anschließende Kreuzzeichen wird von allen gemacht und es ist ganz still, während das Gebet vorgelesen wird. Währenddessen nehmen die Kinder verschiedene Haltungen ein. Einige auch eine typisch muslimische Gebetshaltungen, was zeigt, dass die Kinder, trotz der katholischen Bekenntnisschule und den christlichen Gebeten, ihre eigenen Religionen mit einfließen lassen dürfen.

Im Anschluss an das gemeinsame Morgenritual setzen sich alle Schülerinnen und Schüler unaufgefordert hin und es beginnen Gespräche untereinander. Allerdings werden diese, durch das in die Hände klatschen der Lehrperson, direkt wieder eingestellt. Dieses akustische Signal scheint bei allen präsent als eine Aufforderungzu sein, leise zu werden. Es kann in der Klasse als etabliert bezeichnet werden, da sofort wieder Ruhe einkehrt und die Lehrperson mit Nennung des Themas den Unterricht einleitet (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt, 2001, S. 141).

 

5.3. Totenstille im Klassenzimmer

Um 8 Uhr befindet sich ein Mädchen mit mir in dem Klassenzimmer, das an der Notbetreuung teilnimmt, und arbeitet leise an ihren Aufgaben, die sie zuvor eigenständig dem wöchentlichen Lernplan entnommen hat. Es kommen zwei weitere Kinder in die Klasse, schauen mich kurz an, reagieren aber beide nicht auf mein „Guten Morgen“. Stattdessen schauen sie in den Klassenraum und gehen an Plätze, die sehr weit voneinander entfernt sind, auch von der schon hinten sitzenden Hanna. Sie nehmen jeweils die beiden Stühle von ihren Tischen und setzen sich leise. Hanna schaut ihnen dabei zu, widmet sich dann aber wieder ihren Aufgaben, ohne dass sie miteinander gesprochen haben. Auch die beiden neuen Kinder holen eigenständig ihre Arbeitsmaterialien heraus, Timo liest in seinen Lernplan und Lisa nimmt zunächst eine Schere aus ihrem Mäppchen und schabt damit an einem Stift. Obwohl dies ziemlich laut ist, beachten die anderen beiden Kinder sie nicht.

Die Lehrkraft steht währenddessen auf dem Flur und unterhält sich mit einer anderen Lehrerin. Timo durchsucht einen Ordner voller Hefte, während Lisa ihr Schreibheft aus ihrer Tasche holt und beginnt zu arbeiten. Auch Timo entscheidet sich für ein Heft und beginnt zu schreiben. Sie arbeiten alle an anderen Materialien, schauen sich nicht an und keines der Kinder sagt etwas.

Timo schaut dabei immer wieder um sich, scheint einige Objekte länger zu fixieren und blickt öfters aus dem Fenster, während die anderen beiden konzentriert auf ihre Materialien schauen und den Blick nicht heben. Da die Tür offen ist, hört man durchgängig, wie sich die Kinder aus dem Nebenraum laut unterhalten und lachen. Während dort eine sehr gesellige Stimmung herrscht und die Kinder Spaß zu haben scheinen, wirken die Kinder hier nicht, als hätten sie Spaß oder als würden sie gerne untereinander kommunizieren.

Hanna schließt ihr Heft und widmet sich einer Box voller kleiner Kärtchen, indem sie immer eine Karte herausnimmt, sie liest und dann auf die Rückseite schaut. Währenddessen beendet die Lehrerin ihr Gespräch und kommt mit zwei Taschen in die Klasse, stellt sie am Pult ab und schaut in die Runde. Dann sagt die Lehrkraft an alle gerichtet, dass sie noch telefonieren muss, gleich wieder da wäre und die Kinder sich bei Fragen an mich wenden können. Die Schülerinnen und der Schüler schauen die Lehrkraft an, sagen allerdings nichts und wenden sich wieder ihren Schulsachen zu. Auch als die Lehrerin den Raum verlässt und die Tür schließt, arbeiten die drei leise in ihren Heften weiter, während man auch durch die Tür noch die Kinder im Nebenraum lachen hört.

 

5.4. Zweite analytische Dimensionierung: Die Perspektive der „Kinder“-Akteure

Die Szene spielt in einem zeitlichen Rahmen von zehn Minuten und beginnt ebenfalls um acht Uhr, wobei es während der Notbetreuung nicht klingelt und den Kindern so nicht durch ein akustisches Signal deutlich gemacht wird, dass der Schultag beginnt.

Hanna, die schon seit einigen Minuten in dem Klassenraum ist, arbeitet seitdem leise an ihren Aufgaben, ohne zuvor dazu aufgefordert worden zu sein. Auch ihr Platznehmen und das Aussuchen von Arbeitsmaterialien erfolgten eigenständig, obwohl es sich erst um den dritten Tag handelt, an dem sie im Rahmen der Notbetreuung zur Schule kommt. Dies zeigt ihre schnelle Anpassungsfähigkeit in der neuen Situation, da es zunächst ungewöhnlich wirkt, wie schnell sie den neuen Ablauf angenommen hat. Die Selbstständigkeit, die die Schülerin zeigt, ist Leitidee eines „offenen Unterrichtes“, wodurch die Situation zunächst den Eindruck macht, als könnte es sich um diesen handeln (vgl. Jank & Meyer, 2011, S. 212).

Zwei weitere Kinder kommen vom Flur aus in die Klasse, ohne mit der dort stehenden Lehrerin zu reden. Dies kann daran liegen, dass sie mit dem Rücken zum Eingang steht und sich mit einer anderen Lehrkraft unterhält. Das Timo und Lisa zielstrebig in die Klasse kommen deutet darauf hin, dass sie bereits bei der Notbetreuung waren und wissen, in welchen Raum sie morgens gehen müssen. Interessant ist, dass keines der Kinder den Morgengruß erwidert, obwohl dieser ihnen aus ihrem Regelunterricht bekannt ist. Eine mögliche Erklärung könnte sein, dass sie die grüßende Person nicht kennen, das Umfeld ein nicht vertrautes ist und sie sich an den jeweils anderen Kindern orientieren, die ebenfalls nicht grüßen. Diese Vermutung wird noch darin bestärkt, dass die Begrüßung am folgenden Tag in der gleichen Konstellation erwidert wird, nachdem die Kinder einen Tag lang gemeinsam mit der Ethnographin verbracht haben. Auch dass beide sich automatisch weit voneinander entfernt einen Platz suchen zeigt, wie schon zuvor bei Hanna, die schnelle Anpassungsfähigkeit an die neue Situation.

Da die beiden Mädchen leise arbeiten, tritt Timo in den Fokus der Beobachtung, was allerdings nicht an auffälligem Verhalten liegt, sondern daran, dass er als einziger nicht durchgängig in sein Heft schaut und darin arbeitet. Die ethnographische Aufgabe war dahingehend eine Herausforderung, dass „nonverbale Kommunikationen aufgrund ihrer sozialen Sprachlosigkeit nicht zweifelsfrei eindeutig und präzise adressierbar sind und somit immer ein Stück weit ‚situativ-diffus‘ und interpretatorisch offen bleiben“ (Meier, 2004, S. 112). So ist beispielsweise nicht klar, ob er keine Lust hatte zu arbeiten, Schwierigkeiten mit seinen Aufgaben hatte, oder er eventuell generell Probleme dabei hat, fokussiert über einen gewissen Zeitraum zu arbeiten.

Keines der Kinder wirkt während der Beobachtung aufmerksamkeitsheischend und sie sind sehr ruhig, sodass ein starker Kontrast zu der Lerngruppe im Klassenzimmer einen Raum weiter entsteht. Diese unterhalten sich über den gesamten Beobachtungszeitraum laut und lachen, was keine Neugierde bei den drei Kindern zu wecken scheint, da diese keinerlei Reaktion darauf zeigen.

Zunächst könnte erwartet werden, dass die Lehrerin, wie auch zu Unterrichtsbeginn in ihrer Klasse, nach dem Gang zum Pult und dem Abstellen ihrer Taschen die Lerngruppe begrüßt, da sie dies bisher nicht getan hat. Stattdessen sagt sie, an alle gerichtet, dass sie noch telefonieren muss. Es wird deutlich, dass sie weder versucht die Aufmerksamkeit der Lerngruppe zu etablieren, noch ein gemeinsames Stundenthema zu finden und in dieses einzuführen. An diesen Aspekten kann man deutlich sehen, dass es sich nicht um einen normalen Schulunterricht handelt (vgl. Tyagunova & Breidenstein, 2016, S.77 f.). Neben den vorab genannten Merkmalen von Unterrichtsaufgaben einer Lehrkraft, ist hier auch kein für Unterricht typisches Interaktionsfeld erkennbar, da die Lehrerin die Klasse für eine unbestimmte Zeit verlässt. Auch ihr Verweisen auf mich, eine den Kindern unbekannte und nicht vertraute Person, wird ohne Kommentar angenommen. Sie könnten sich mit nichtunterrichtlichen Aktivitäten beschäftigen, ohne dass dies zunächst auffallen würde, da ich die Lern- und Aufgabenpläne der einzelnen Schülerinnen und Schüler nicht kenne und es beispielsweise auch Aufgabe sein könnte, etwas zu malen. Die stille Arbeitsphase, die anschließend erfolgt und noch weit über die Beobachtung hinaus geht, steht erneut in Kontrast zu der Lautstärke im Klassenzimmer nebenan, aus dem, trotz geschlossener Tür, weiter Gespräche und Lachen zu hören sind.

 

6. Fazit

In den analytischen Dimensionierungen sollte dargelegt werden, wie sich die Anfänge im Regelunterricht von denen in der Notbetreuung unterscheiden und wieso nicht in beiden Fällen von Unterrichtsbeginn gesprochen werden kann. Von Unterrichtsbeginn ist hierbei die Rede, wenn die Schritte Platzzuweisung, die Herstellung einer Unterrichtsöffentlichkeit und die Nennung des Stundenthemas durch die Lehrkraft erkennbar sind (vgl. Becker-Mrotzek & Vogt, 2001, S. 141). Während alle drei Phasen in der ersten Beobachtung gut erkennbar sind und nacheinander durchlaufen werden, beinhaltet die zweite Beobachtung keine davon. Obwohl das Verhalten der Schülerinnen und Schüler bei der analytischen Dimensionierung im Fokus lag, wurde durch dieses Beispiel deutlich, dass die Lehrkraft eine zentrale Rolle darstellt, da es ohne ihre Präsenz zu keiner Unterrichtssituation kommt.

Der erste Unterschied besteht also darin, dass es sich nur bei einer der Beobachtungen um einen wirklichen Unterrichtsbeginn handelt, während die zweite Beobachtung einen Anfang zum selbstständigen Arbeiten an den Arbeits- und Lernplänen darstellt. Da Wochenpläne ein typisches Merkmal von „offenem“ Unterricht sind, könnte zunächst eine Verbindung hergestellt und dadurch angenommen werden, dass es sich um diesenhandelt (vgl. Rabenstein & Reh, 2007, S. 25). Allerdings geht es bei dem Konzept des „offenen“ Unterrichts immer noch um einen von der Lehrkraft geleiteten und strukturierten, zeitlich begrenzten Rahmen, der hier nicht erkennbar ist, da die Lehrerin weder die Lerngruppe mobilisiert, Aufgaben verteilt oder diese kontrolliert oder bei ihrer Bearbeitung hilft. Somit lässt sich die Beobachtung erneut nicht genau zuordnen und wird als ein Stundenbeginn definiert, da sie wie die erste Beobachtung mit Beginn der normalen Schulzeit um acht Uhr beginnt und sich auch im weiteren Verlauf der Notbetreuung an den normalen Schul- und Pausenzeiten orientiert.

Ein weiterer, deutlich erkennbarer Unterschied besteht in dem Verhalten und der Interaktion, sowohl zwischen den Schülerinnen und Schülern untereinander, als auch mit der Lehrkraft. Während in der ersten Beobachtung typische Verhaltensweisen, wie die Interaktion zwischen Schülerin und Lehrerin, dem gemeinsamen Begrüßen, einem Ritual und dem Zusammenkommen in Peergroups, zu erkennen sind, fehlen diese in der zweiten erneut. Die fehlenden Gespräche könnten darauf zurückzuführen sein, dass die Kinder weder zueinander, noch zu der Lehrperson, ein vertrautes Verhältnis haben und keiner gemeinsamen Peergroup angehören. Dies ist wahrscheinlich, da sie alle aus unterschiedlichen Klassen sind und keiner bei der Lehrkraftbisher Unterricht hatte. Trotzdem kann aus der Beobachtung keine Verallgemeinerung entnommen werden, da es sich bei der Lerngruppe im Nebenraum ebenfalls um eine zufällig zusammengestellte Lerngruppe aus unterschiedlichen Klassenstufen handelte, diese aber laute Gespräche führten und sich untereinander gut zu verstehen schienen. Der Beobachtung kann man zusätzlich entnehmen, dass ich als Ethnographin eher überrascht über das Schülerverhalten war, da ich mit mehr Interaktion gerechnet hatte, was man der Beschreibung entnehmen kann, was die Schülerinnen und Schüler nicht tun, obwohl der Fokus darauf lag, zu beobachten was sie tun.

Ebenfalls große Unterschiede waren im Verhalten der Lehrkraft zu sehen, obwohl es sich um die gleiche Person handelte. Während sie in der ersten Beobachtung gezielt darauf hinarbeitet, die Unterrichtsstunde zu beginnen, scheint sie während der Notbetreuung eine andere Rolle einzunehmen. Dies wird gerade durch die fehlende Begrüßung deutlich und daran, dass sie die Stunde nicht leitet, sondern sich der Verantwortung der Betreuung entzieht, indem sie die Klasse über einen langen Zeitraum verlässt, um zu telefonieren.

Es wird sehr deutlich, dass große Unterschiede bei den Beobachtungen zu sehen sind und der Beginn im Regelunterricht ein anderer ist, als der in der Notbetreuung. Allerdings wird letzteres nicht immer in dem hier aufgezeigten Maße der Fall sein, was man in direktem Vergleich mit der Lerngruppe im Nebenraum sehen kann. Dies zeigt die großen Unterschiede je nach Lerngruppe und wie individuell das Verhalten der Schülerinnen und Schüler sein kann. Außerdem gibt es viele Einflussfaktoren, die dieses Verhalten begünstigen.

Daher wäre es interessant gewesen, weitere Lerngruppen zu beobachten um so mehrere Anfänge in der Notbetreuung miteinander zu vergleichen. Auch der Vergleich der ersten Beobachtung mit der gleichen Lerngruppe und der gleichen Lehrkraft während der Notbetreuung hätte noch deutlicher aufzeigen können, inwiefern sich das Verhalten der Kinder und der Lehrkraft, je nach Situation, ändert.

Durch eine andere Methode, die Videographie, hätten hierbei eventuell noch mehr Ergebnisse gesammelt werden können. Videos ermöglichen, im Gegensatz zu der teilnehmenden Beobachtung, eine wiederholte Betrachtung des Geschehenen, wodurch die Aufmerksamkeit der Forscherinnen und Forscher „auf mehrere simultan ablaufende Interaktionsprozesse möglich wird“ (Wagner-Willi, 2007, S. 141).

Insgesamt zeigt das Studienprojekt, dass Anfänge in der Grundschule sehr unterschiedlich gestaltet werden können, viele Einflussfaktoren diese Unterschiede bedingen und es viele weitere Ansatzpunkte gibt, um in diesem Bereich weiter zu forschen.

Literaturverzeichnis

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Wolf, E. (2020). Unterrichtsbeginn – Zur Entzauberung des Anfangs. Falltiefen, 6, S. 9-18.

Soziale Ordnung im Chaos – Wie wählen Kinder ihren Sitzplatz in offenen Lernsettings? (Anonym)

Diese Arbeit ist aus Gründen des Datenschutzes anonym veröffentlicht.

Inhalt

Einleitung

Die Formulierung „Soziale Ordnung im Chaos“ soll überspitzt die Situation der freien Sitzplatzauswahl im Klassenraum beschreiben. Sie ist geprägt durch eine unordentlich scheinende Atmosphäre und eine kurze Phase mit einer hohen Dichte an Handlungen. Folgende Erfahrungen stammen aus meinem Praxissemester an einer jahrgangsgemischten Grundschule in Siegen, die angelehnt an das Maria Montessori Konzept arbeitet. Die Auswahl eines Sitzplatzes wird im beobachteten Fall von den Schülern[1] im Sitzkreis, der für den Unterrichtseinstieg und -abschluss rituell erfolgt und an den Arbeitsplätzen, die für die Arbeitsphasen genutzt werden können, selbstbestimmt gewählt. Die von den Schülern eingenommene Sitzordnung basiert daher auf Eigenständigkeit in Bezug auf die Auswahl sowie zeitliche Nutzung und nicht, wie in den meisten Schulen durch die Lehrperson bedingte frontale und festgelegte Form (vgl. Breidenstein 2006, S. 61). Das offene Schulkonzept und ebenfalls die freie Sitzplatzwahl waren für mich neue Phänomene, welche daher mein Interesse geweckt haben und folgende ethnografische Beobachtungen entstanden sind.

Bestandteile eines Raumes wie z.B. Sitzplätze können nicht ohne den Klassenraum an sich analysiert werden. Daher folgt zunächst eine Beschreibung des Begriffs Raum. Löw (2007, S. 96) beschreibt „Räume als relational (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern an Orten“. Damit ist zum einen eine gesellschaftlich bedingte Ordnung und zum anderen eine Anordnung im Sinne von Platzierungen gemeint. Beide Aspekte werden im Folgenden kurz näher erläutert. Gesellschaftliche Ordnungen werden in Handlungen von Individuen bemerkbar, sind aber ebenfalls Folge dieser. Räumliche Strukturen bilden in Kombination mit anderen zum Beispiel zeitlichen oder politischen Aspekten gesellschaftliche Strukturen. Demzufolge werden räumliche Strukturen im Handeln geschaffen und sichtbar. Jene bestimmte räumliche Struktur wird wiederum in der Konstitution von Räumen abgebildet, in Institutionen eingelagert und steuert Handeln. Menschliches Handeln lässt sich als repetitiv beschreiben, das heißt, dass der Alltag nach entwickelten Gewohnheiten gestaltet wird. Dies hat zur Folge, dass sie sich ohne langes Nachdenken im Alltag bewegen können und ebenfalls nicht darüber austauschen müssen (vgl. ebd.). Des Weiteren sind „Räume […], da sie im Handeln entstehen und auf Konstruktionsleistungen basieren, stehts sozial. Materiell sind platzierte Objekte, welche zu Räumen verknüpft werden.“ (ebd., S. 97) Der Aspekt der Materialität kann ebenso nicht ohne gesellschaftliche Strukturen gesehen werden. Menschen verfügen über die Fähigkeit sich selbst zu platzieren und diese Verortung wieder zu verlassen. Darüber hinaus können sie ihre Raumkonstitutionen mittels körperlicher Merkmale beeinflussen. Inwiefern Räume relevant für Menschen sind, ist durch ihren Habitus, d.h. durch Gruppenzugehörigkeiten, bedingt und nicht rein individuell noch homogen (vgl. Löw 2007, S. 97f.). Auch im Bereich der Sitzordnung sind solche beschriebenen gesellschaftliche Strukturen und Platzierungen insbesondere in diesem Fall durch eine freie Platzwahl erkennbar. Willms (2007, S. 1) beschreibt die Sitzordnung als „Ort im Raum und die Verortung im sozialen Arrangement der Klasse. Beide regulieren die Interaktionsmöglichkeiten zwischen Lehrkörper und […] Schülern sowie zwischen den […] Schülern.“ Sitzplätze können somit als Ort verstanden werden, die nicht der Raum selbst sind, aber zu seinen Bestandteilen gehören (vgl. Breidenstein 2006, S. 43). So beschreibt Breidenstein in Bezugnahme auf Löw, dass jeder einzelne Sitzplatz einen Ort darstellt, der die Konstitution von Raum abbildet, generiert und den Raum als solchen erst denkbar macht (vgl. ebd., S. 62f.; Löw 2001, S. 198). Zudem gibt die soziale Verortung Aufschlüsse über Interaktionen zueinander und somit generierte Informationen über die Eigenlogik sollen in dieser Arbeit beschrieben und analysiert werden. Breidenstein (vgl. 2006, S. 43ff.) geht ebenfalls in seiner ethnografischen Studie auf die Thematik der Klassenräume ein und zeigt verschiedene Erkenntnisse zu visuellen, akustischen und haptischen Räumen und wie sich diese im Klassenverbund zeigen. Im Unterschied zu seiner Forschung zeigt diese Arbeit ein offenes, statt frontales Lernsetting und fokussiert stärker die Sitzplatzwahl der Kinder. Im Allgemeinen lässt sich die Analyse der räumlichen Dimension von Unterricht als jünger Forschungszweig beschreiben, die die sozialwissenschaftliche Forschung vor Herausforderungen stellt (vgl. ebd., S. 61).

 

Ethnografie als methodische Vorgehensweise

Die Ethnografie gilt als historisch gewachsene Erkenntnisstrategie. Ihre Ursprünge gehen auf die Erkundung fremder Kulturen im Zuge der Kolonialisierung sowie auf die Erforschung von Großstädten in Folge von Einwanderungswellen der Chicago School zurück (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 13ff.). „Zunehmend entsteht das Interesse gesellschaftliche Phänomene der Normalität und Mehrheitskultur, Interesse an normaler sozialer Ordnung und Praxis in der eigenen Gesellschaft zu erforschen.“ (Lange & Wiesemann 2012, S. 263). Gemeinsam ist diesen Traditionslinien der Erkenntnisstil des Entdeckens (vgl. Breidenstein et al. 2015, S.13). Dabei wird Vertrautes als Fremd betrachtet und methodisch befremdet (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 12).

Die Ethnografie arbeitet mit einem starken Empiriebegriff, d.h. es wird davon ausgegangen, dass Wissen über die Gesellschaft den Sozialwissenschaften nicht schon immer und in Gänze vertraut, verstanden und verfügbar ist (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 7) und dass es somit kulturelle Phänomene noch zu entdecken gilt (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 13). Demgegenüber verfügt die Ethnografie über einen weichen Methodenbegriff, dessen Entscheidungsgewalt vom Feld aus bedingt ist und nie der Forschung willen (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 9, 19). Primär für eine ethnografische Forschung ist die Teilnehmende Beobachtung (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 7).

Dabei besteht die Besonderheit, dass der Forscher eine Art „parasitäres“ (Amann & Hirschauer 1997, S. 27) Verhalten zum Feld zeigt. Durch eine längerfristige Kopräsenz des Beobachters kann hier empirisches Wissen sozusagen aus erster Hand über einen konkreten Fall generiert werden. Diese Beobachtung in Form der Teilnahme legt die Grundannahme der Ethnografie, dass jedes Feld über eine individuelle Sozio-Logik bzw. kulturelle Ordentlichkeit verfügt sowie sich kontinuierlich selbst methodisch generiert und strukturiert, zugrunde (vgl. ebd., S. 19ff.). „Kulturelle Felder verfügen über eine Eigenlogik, […] die auch einen Beobachter, der sich treiben lässt, an die Hand nimmt und führt.“ (Breidenstein et al. 2015, S. 38).

Eine Kopräsenz des Beobachters ist immer durch eine Spannung zwischen Teilnahme und Distanzierung bestimmt (vgl. ebd., S. 7). Auf der einen Seite versucht der Ethnograf durch Teilnahme eine solche Feldlogik zu verstehen, auf der anderen Seite muss er auch sein strategisches Privatspiel im Blick behalten um empirisches Wissen zu schaffen (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 27). Eine Handlungspraxis als solche zu erkennen, kann nur erfolgen, wenn die Beobachterrolle frei von Handlungszwängen ist (vgl. ebd., S. 24). Dies zeigt auch der Unterschied zu den Akteuren im Feld, deren Lebenswelt durch die Lösung handlungspraktischer Anforderungen bestimmt ist (vgl. Lüders 2012, S. 390). Ein befremdeter Beobachter kann daher lokales Wissen explizieren, welches Teilnehmern reflexiv nicht zur Verfügung steht (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 24). Der Ethnograf muss sich der Situation befremden um Phänomene klarer erkennen zu können (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 8). Der Prozess der Befremdung bzw. des immer wieder neuen Wunderns, besitzt somit fortlaufenden Charakter (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 29).

Um die Logik dieses spezifischen Falls in Bezug auf die Platzwahl herauszuarbeiten, erfolgt neben einem längeren Aufenthalt durch das Praktikum eine explizite Phase der Beobachtung. Infolge der Erstellung von „Fieldnotes“ wird so eine erste Versprachlichung von sozialen Phänomenen (vgl. Breidenstein et al. 2015, S. 35) vorgenommen sowie die Möglichkeit einer erneuten Fokussierung und Befremdung durch die Erstellung Dichter Beschreibungen. Diese sollen zum Weiterleben der Erfahrungen anregen (vgl. Amann & Hirschauer 1997, S. 30) und werden als Basis zur Analyse genutzt.

Die Ethnografie eignet sich für die Erschließung der Platzwahl, da ein selbstverständlich scheinendes Phänomen vorliegt, welches auf ein Wissen anspielt, das Akteuren nur bedingt reflexiv verfügbar ist. Daher ist eine ausschließlich auf Interviews angelegte Forschungsmethode in diesem Fall nicht sinnvoll, um die Eigenlogik der Gruppe zu erschließen. Wie beispielsweise Aushandlungen von Plätzen erfolgen, ist durch einen großes inkorperiertes Wissen, d.h. Mimik und Gestik geprägt. Dieses kann somit durch Beobachtungen erschlossen werden.

Reflexion

Im Folgenden setze ich ein verschärftes Augenmerk auf meine Rolle als Forscherin und die daraus resultierenden Reaktionen des Feldes. Solch eine Reflexion an dieser Stelle hat eine wichtige Bedeutung für die Dichte Beschreibung sowie die Analyse, da ein wichtiges Kennzeichen der Ethnografie nicht nur die Beobachtung des Feldes, sondern auch die Selbstbeobachtung ist.

 Rolle als Forscherin

Die Rolle als ethnografische Forscherin ist geprägt durch eine extensive Teilhabe am Geschehen, jedoch auch durch einen bewussten Rückzug am Handlungsverlauf. So musste auch ich eine klare Grenze zwischen meinen Rollen ziehen, zum einen als agierende Person in der Rolle einer Praktikantin, die auch durch einige Verantwortung und Eigeninitiative geprägt war und zum anderen als ethnografische Forscherin. Der Alltag dieser beiden Rollen ist von Grund auf verschieden, aber bietet auch positive Synergieeffekte. Durch den längeren Praktikumszeitraum kann ein Grundvertrauen aufgebaut werden, welches für die Forschung positive Auswirkungen hat. Für meine Forschungsanfänge musste ich mir Nischen suchen, die mich von einem Handlungsdruck entlasten, z.B. geht das gleichzeitige Kontrollieren von Hausaufgaben und der Teilnehmenden Beobachtung auf die Qualität der Dokumentation. Solche Nischen und das Interesse an der Platzwahl führten zu meiner jetzigen Fragestellung. Dass Kinder sich in der Schule Plätze aussuchen dürfen, war für mich eine ganz neue Beobachtungsgrundlage, die mich auch an meine eigene Auswahl eines Platzes erinnerte. Ich selbst hatte im Rahmen des Praktikums im Klassenraum ebenfalls keinen festen Platz und war dadurch von der Eigenlogik des Feldes nicht befreit, sondern agierte in irgendeinem Modus mit. Als mir dies bewusst wurde, empfand ich die Wahl eines Platzes tatsächlich als „kurios“ und war gefangen in einer Art Unverständnis. Eine lange Zeit empfand ich diese Planlosigkeit als konstant, als würde diese nie weggehen, aber dann fielen immer mehr Erkenntnisse, von denen ich im Folgenden berichte. Im Rahmen der Teilnehmenden Beobachtung habe ich mich der Methodenfreiheit bedient. Erstmals habe ich auf Beobachtung gesetzt, dem Dokumentieren von Atmosphäre und Anzeichen von Erkenntnissen oder Regelmäßigkeiten. Dabei musste ich mich aktiv von der Dominanz des Wortes frei machen, um nicht wie ein Diktiergerät stimmungslos Aussagen der Akteure niederzuschreiben. Im weiteren Verlauf habe ich informelle Gespräche genutzt sowie versucht durch meine Platzwahl Reaktionen der Eigenlogik des Feldes zu erzwingen, um weiteres Wissen zu generieren.

 Reaktion des Feldes

Die Reaktion des Feldes ist nicht zuletzt durch meine Rolle geprägt. Durch meinen ersten frühen Unterrichtsbesuch und die Bereitschaft mir ein großes Maß an Eigeninitiative zu überschreiben, habe ich schon einen frühen Zugang zur Rolle als „Lehrerin“ gewonnen, die sich meiner Meinung nach zu der der Praktikantin in vorhandenen Studienpraktika unterscheidet. Die Rolle als Forscherin entwickelte sich langsamer sowie auch mein Interesse an dem Phänomen der Platzauswahl. Dass ich mich für etwas „Neues“ in den Augen der Akteure, vor allem der Schüler, interessiere, ist immer mehr in Erscheinung getreten. Gerade im anfänglichen Forschungsprozess habe ich die Reaktion des Feldes erfahren und gerade mein Zurückziehen wurde von den Kindern kritisch hinterfragt. Beispielsweise, warum ich heute keine Hausaufgaben korrigiere und was ich in meinen Notizblock schreibe, schien viele Kinder zu interessieren. Demzufolge habe ich erklärt, was und warum ich dies tue sowie mich mit den Fragen der Kinder beschäftigt. Dieses Interesse habe ich letztendlich zu meinem Vorteil genutzt und Gespräche in meine Forschung integriert. Die Kinder haben gefallen daran gefunden mir ihre Sicht der Lebenswelt näher zu bringen, haben mir meine Fragen beantwortet und kamen zu mir, wenn ihnen etwas Neues rund um das Thema Sitzplätze eingefallen ist. Ein Mädchen wollte unbedingt ihre Aussagen des Gespräches in meinen Block schreiben und half mir mit Erklärungen. Das lässt mich vermuten und durch meine späteren Beobachtungen auch stützen, dass das Thema Platzwahl eine gewisse Dichte auch bei den Kindern enthält, da es auch ihre lebensweltlichen Handlungsprobleme beschreibt. Nachdem die meisten Kinder sich intensiv mit meinem Erkenntnisinteresse beschäftigt haben, ist die Aufmerksamkeit auf meine Beobachtungen abgeflacht.

Beschreibung der Lernkultur

Die folgenden ethnographischen Ergebnisse wurden im Rahmen des Praxissemesters gesammelt und stammen aus einer mittelgroßen Grundschule in der Stadt Siegen. Die Lernkultur lässt sich als offen beschreiben, da die Klassen jahrgangsgemischt von der ersten bis vierten Klasse unterrichtet werden. Das Unterrichtskonzept ist an Maria Montessori angelehnt. Insgesamt befinden sich acht Klassen in der Schule, wobei immer zwei stärker miteinander kooperieren. Dies kann man zum einen an dem räumlichen Aufbau erkennen, da diese Klassen oft mit einer Verbindungstür zusammen liegen. Zum anderen finden einmal die Woche in heterogenen Gruppen Einführungsunterricht in den Fächer Deutsch, Mathematik und Sachunterricht mit der Nebenklasse zusammen statt. Dominierende Unterrichtsform ist die Freiarbeit, die durch einen Wochenplan strukturiert wird. In dieser sollen die Schüler selbstständig Aufgaben wählen, zum Teil sind diese bereits auf dem Wochenplan festgehalten und zum anderen Teil dürfen die Kinder sich auch an weiteren Aufgaben bedienen. Das Material für die Freiarbeit ist für die Kinder zugänglich in Regalen positioniert und ebenfalls an dem Maria Montessori Konzept angelehnt. Die Kinder sollen in der Freiarbeit möglichst Deutsch- und Mathematikaufgaben zu gleichen Teilen erledigen, dies wird durch ein akustisches Signal unterstützt. Der Beginn und Abschluss einer Unterrichtsstunde oder -sequenz wird mit einem gemeinsamen Sitzkreis strukturiert. Der Klassenraum ist nicht typisch gestaltet, sondern enthält mehrere Gruppentische im Klassenraum sowie einen Sitzkreis. Die Tafel und der Lehrerhochtisch sind nicht so zentral gelegen, wie oft in Schulklassen. Die Schüler dürfen während des kompletten Unterrichtstages ihren Sitzplatz frei wählen und ebenfalls, ob sie die ausgesuchte Aufgabe eigenständig oder mit einem Partner erledigen. Außerdem wird oft geschaut, dass Verbindungen zwischen den fachlichen Inhalten der Fächer sowie Niveaustufen geschaffen werden. In den Klassen herrscht eine Vielfalt von Kindern mit unterschiedlicher Herkunft sowie Kindern mit verschiedenen Förderbereichen. Auch kooperiert die Schule mit verschiedenen außerschulischen Institutionen, wie zum Beispiel einem Kinder- und Jugendtreff. Des Weiteren bietet die Schule vielerlei AG´s und eine Betreuung an.

Dichte Beschreibung

Es ist Montag 7:55 Uhr und die meisten Schüler befinden sich bereits im Klassenraum. Die Hausaufgabenkontrolle neigt sich langsam dem Ende zu.

Es herrscht eine chaotische Stimmung, viele Kinder reden miteinander und die Lehrerin hört man ab und zu im Hintergrund reden. Sie sitzt noch an einem aus mehreren Tischen zusammengestellten „Gruppentisch“[2] und bespricht mit einem Jungen seine Hausaufgaben. Währenddessen sind bereits viele fertig mit der Hausaufgabenkontrolle, räumen ihre Sachen wieder in die Schultaschen, die alle nebeneinander an einer Wand und einem Regal nah der Klassentür zum Flur hängen und stehen. Die Schülerin Julia hat ihre Sachen bereits weggeräumt und geht schnellen Schrittes auf den Sitzkreis zu. Dieser ist aus vier Holzbrettern auf Getränkekisten zusammengebaut und steht in der hinteren Ecke des Raumes. Julia setzt sich auf die letzte Bank aus ihrer Richtung, die sich mit dem Rücken zum Whiteboard richtet. Sie setzt sich mit dem Rücken etwas gebeugt auf die Bank und stützt sich mit einem Arm ab. Dann klopft sie mit der flachen Hand auf die Bank und ruft: „Aylin, hier, setz dich hier hin.“ Aylin steht noch an ihrer Schultasche, dreht sich um und schaut zu Julia. Dreht sich wieder zu ihrer Schultasche um, faltet ihre Hefte schneller als zuvor und legt diese in die Schultasche. Sie macht ihre Schultasche zu und läuft zu dem Platz neben Julia. Zwei weitere Schüler, David und Simon setzten sich auf eine andere Bank und raufen sich, indem sie die Hände fest an die Arme des anderen drücken und mit ihrem Körpergewicht nach links und rechts schwenken. Dilan und Fynn setzen sich ebenfalls auf die gleiche Bank, jedoch mit etwas Abstand und direkt an das anliegende Regal. Dort liegen viele verschiedene Sachen, die für den Sitzkreis, das Whiteboard oder für den CD-Player im Unterricht gebraucht werden. Dilan sitzt direkt dort neben und wählt sich eines der darauf liegenden Kuscheltiere mit fokussiertem Blick und bewegenden Mundwinkeln aus. Dieses hält er nach erneutem Sitzen in den Händen und dreht es immer wieder mit seinen Fingern hin und her. Auch Fynn steht jetzt auf, stellt sich kurz vor das Regal und nimmt sich eines der noch übrigen Kuscheltiere. Er setzt sich wieder auf die Bank und wirft seines immer ein kleines bisschen in die Luft und fängt es auf, dabei folgt sein Blick dem Kuscheltier. In dieser Zeit sind bereits einige Kinder langsamen Schrittes eingetrudelt und haben Plätze im Sitzkreis eingenommen. Alle vier Bänke sind bereits gut gefüllt. Der Platz zentral vor dem Whiteboard ist jedoch bis jetzt konstant frei geblieben. Auch die Lehrerin kommt nun in den Sitzkreis und setzt sich ohne Zögern direkt auf diesen frei gebliebenen Platz. Noch drei weitere Kinder, diese müssten die Letzten sein, stehen nun am „Eingang“ des Sitzkreises, d.h. zwischen den beiden Bänken, durch die man gewöhnlich geht, um einen Platz im Sitzkreis zu wählen. Die drei stehen in einer Art Schlange hintereinander. Theo ist vorne, dreht seinen Kopf immer wieder und scheint zu überlegen, dabei verzeiht er seinen Mund zur Seite. Die anderen beiden Abdul und Leonardo sind dagegen noch mit einer Unterhaltung beschäftigt und zappeln mit den Beinen und Armen herum, zudem lachen sie. Abdul steht dabei in der Schlange mit Blick zu Leonardo, d.h. nicht Richtung Sitzkreis. Die Lehrerin schaut Theo an, zeigt mit ausgestreckter Hand auf einen der Plätze an der Fensterseite und nickt schräg zur Seite. Sie schaut auf den Platz und sagt: „Tarik rutsch etwas, damit der Theo da noch zwischen passt.“. Dabei wischt sie mit ihrem ausgestreckten Arm zur Seite. Tarik wirkt nicht begeistert und verzieht sein Gesicht, legt seine Beine enger zusammen und rutscht zu Fynn rüber. Theo setzt sich in die Lücke. Tarik legt seine Hände aneinander auf den Schoß und zieht seine Schultern zu sich. Während die Lehrerin bereits Plätze für die anderen sucht, ruft Tarik in die Klasse und sagt: „Hier ist viel zu wenig Platz, ich bin total gequetscht“. In diesem Moment sagt die Lehrerin mit ernster Stimme zu Abdul, der sich einen Stuhl zum Sitzkreis geschoben hat, dass er sich bitte, wie alle anderen auch in den Sitzkreis setzten soll. Abdul steht von seinem Stuhl auf, bleibt kurz stehen und schnauft vor sich hin. Dann nimmt er den Stuhl und schiebt diesen über den Boden wieder zu dem Tisch zurück und setzt sich direkt an den Sitzkreiseingang mit seinem halben Gewicht auf die Bank. Die Integrationskraft und ich setzen uns mit Stuhlen etwas hinter den Sitzkreis, sodass wir jedoch noch einen guten Blick dorthin haben und nicht zu außerhalb sitzen. Die Integrationskraft setzt sich mit ihrem Stuhl nah zu Ilyas, tippt ihn an. Als er sie anschaut, flüstert sie: „Rutsch mal ein bisschen, dass der Abdul sich noch richtig auf die Bank setzen kann.“ Währenddessen hat die Lehrerin mit organisatorischen Dingen zum heutigen Schultag angefangen. Die Lautstärke sinkt und die Atmosphäre wirkt auf mich ruhiger. Auf der Bank neben der Lehrerin, sowie auf der rechten sitzen die Mädchen der Klasse, bis auf Elif, die sich auf die Bank gegenüberliegend zur Lehrerin gesetzt hat. Neben ihr auf der Bank zur rechten und linken sitzen Jungen sowie ebenfalls auf der links danebenliegenden Bank.

Nach dem Sitzkreis findet die Freiarbeit statt. Dazu wird eine Box mit Lernplanern auf den Tisch in Mitten des Sitzkreises gelegt. Die Lehrerin nennt die Bänke mit den Kindern, die aufstehen dürfen. Die Kinder gehen zu ihren Schubladen, nehmen sich ihr Arbeitsmaterial, welches sie für ihre ausgesuchte Freiarbeitsaufgabe brauchen und wählen nun einen Sitzplatz für die Arbeitsphase.

Das Aufstehen von den Plätzen zu den Schubladen, in denen das Arbeitsmaterial liegt wirkt auf mich langsam, ruhig und etwas träge. Die Stimmung verändert sich jedoch als erste Kinder ihre Arbeitssachen in der Hand haben. Nun geht es schnell, aber doch überlegt zu. Devin stürmt als erster zu einem blauen Scheibtischstuhl, der an einem der Lernplätze steht und als einziger im Raum über diese Ausstattung verfügt. Setzt sich drauf, wippt mit der Lehne nach hinter und lehnt sich mit Rücken und Kopf nach hinten, als würde er kurz eine Auszeit nehmen. Dann steht er jedoch wieder flink auf, wirkt als würde er lächeln und setzt sich auf einen anderen Platz. Dazu tauscht er zwei Stühle, die an einem Zweiertisch stehen, sodass auf der rechten Seite, wo er seine Schulmaterialien abgelegt hat, ein Stuhl mit Polsterung ist.

Einige Zeit später kommt Leonie zu dem blauen Stuhl, legt ihre Sachen auf den Tisch davor ab und setzt sich hin. Emir kommt mit schweifendem und genervtem Blick und sagt zu Leonie, dass er dort sitzen wollte. Leonie steht auf, hält jedoch eine Hand fest am Stuhl und zuckt mit dem Schultern. Es scheint, als würde Emir noch versuchen wollen sie umzustimmen, aber seine Aussichtslosigkeit bereits schon ahnt. Er schmeißt seine Sachen mit einem Ruck auf den Tisch gegenüber, stampft seine Arme überkreuzt vor seine Brust und geht schleppend einmal um den Tisch herum zu seinem Platz und lässt sich dort auf seinen Stuhl fallen. Leonie hält sich mit einem Arm an dem Stuhl mit dem anderen auf dem Tisch fest und hoppst mit einem Sprung wieder zurück auf den Stuhl. Emir, der nun gegenüber sitzt schaut sie immer noch mit heruntergezogenen Mundwinkeln an und Leonie sitzt in gerader Haltung auf dem ergatterten Stuhl und schlägt ihr Arbeitsmaterial entschieden auf.

Kurz danach kommt Devin zum Stuhl gerast und tippt Leonie an. Sie dreht sich zu ihm um und er sagt: „Heute darf doch keiner auf den Stuhl.“ [In einem Klassenrat wurde verabredet, dass der blaue Schreibtischstuhl an manchen Tagen für die Integrationskraft bestimmt ist.] Dabei klingt er sehr direkt. Leonie scheint direkt zu wissen, was los ist, denn sie schnauft etwas und verzeiht ihr Gesicht. Dann schiebt sie ihre Sachen zusammen und hopst vom Stuhl runter und setzt sich zum nächstgelegenen Gruppentisch. Devin nimmt nachdem Leonie aufgestanden ist den Stuhl in die Hand und schiebt diesen Mitten in den Raum, weg von jeglichem Tisch. Er scheint mich entdeckt zu haben, denn er kommt schnellen Schrittes zu mir und sagt mit ernster Stimme: „Du musst den Stuhl freihalten.“

Nach circa einer Minute kommt Tarik zum Stuhl und will diesen an seinen alten Platz schieben. Devin, der sich einen Platz mit Blick auf das Stuhlgeschehen gesucht hat, steht blitzschnell auf und hält mit seiner Hand den Stuhl fest. Tarik dreht sich mit einem „Hä“ um und guckt ihn entgeistert an. Devin sagt mit leicht genervter Stimme: „Der Stuhl muss doch frei blieben.“ Tarik antwortet mit „Oh man!“, schüttelt den Kopf und geht gemütlich zu einem anderen Gruppentisch, wo er seine Sachen mit einem kleinen Ruck fallen lässt. Als die Integrationskraft zu dem Vierertisch geht und den Stuhl zum Tisch zieht, steht auch Devin auf und erklärt der Integrationskraft, dass er diesen Stuhl extra für sie freigehalten hat. Er wirkt dabei stolz und die Integrationskraft bedankt sich dafür.

Theo nimmt sich einen Wackelhocker, der an einem Vierertisch steht und läuft mit diesem an seinen Arbeitsplatz, der nicht als Gruppentisch, sondern Reihe konzipiert ist. Er verlässt diesen jedoch nach kurzer Zeit und trägt seinen Hocker mit durch die Klasse, um etwas aus seinem Schulranzen zu holen. Danach kehrt er mit Hocker wieder zu seinem Arbeitsplatz zurück.

Langsam befinden sich alle der Schüler an Plätzen. Alle vier Gruppentische sind besetzt, zum größten Teil sitzen Jungen neben Jungen und Mädchen neben Mädchen an einem Doppeltisch. Lina und Emilia liegen mit ihren Heften aufgeschlagen auf einem Teppich vor der Tafel. Ich verlasse langsam die Rolle der reinen Beobachterin und beginne mit Gesprächen. Ich frage den Vierertisch, an dem auch Devinl und Leonie sitzen, nach ihren Begründungen zur Platzwahl.

Elyas antwortet, dass das hier der einzig gute Vierertisch ist, da er gut gelegen ist, nah bei der Materialbeschaffung zur Stationenarbeit. Der andere Vierertisch sei zum Arbeiten viel zu laut. Seine Stationsnachbarin, Leonie bestätigt dies und ergänzt, dass die Kinder dort immer viel reden. Elyas ergänzt, dass er jedoch lieber an dem anderen Vierertisch direkt am Fenster gesessen hätte, weil man dort rausgucken kann. Aber die Integrationskraft wollte dort sitzen und die ist manchmal streng. Leonie ergänzt zusätzlich, dass sie böse guckt, aber bittet mich schmunzelnd das nicht in meine Notizen aufzunehmen. Die Kinder des Vierertisches fragen mich ebenfalls interessiert und schauen fokussiert auf meine Notizen, warum ich diese notiere. Ich erkläre ihnen, dass ich dies für die Uni mache und mich interessiert, an welchen Plätzen sie gerne sitzen. Ich frage Dilan, warum er diesen Platz gewählt hat. Er antwortet mir, dass er bei seinem Freund sitzen möchte und zeigt auf Devin. Leonie fragt mich, ob sie diese Beobachtung in meinen Collegeblock schreiben darf. Ich erlaube ihr dies und gebe ihr meinen Stift. Sie schaut mich noch einmal kurz an und fragt nach kurzer Wartezeit dann, ob sie doch lieber mit Bleistift schreiben darf, so kann sie noch radieren, wenn sie sich verschreibt. Dies bestätige ich ihr ebenfalls. Elyas erklärt, dass er hier sitzt, weil seine Freunde hier sitzen. Ich frage ihn, warum er auf dem Wackelhocker sitzt. Daraufhin antwortet er mir, dass er es mag, wenn er wackeln kann. Leonie ergänzt: „Schau mal, ich sitze auf so einem Kissen, dass wackelt auch. Darf ich das auch aufschreiben?“ Ich gebe ihr wieder den Collegeblock. Während sie schreibt, fragt sie mich, wie das Kissen denn heißt. Ich antworte ihr, dass ich es Sitzkissen nennen würde. Sie schreibt auf, dass sie es mag auf dem Sitzkissen zu sitzen, aber noch lieber auf dem blauen Schreibtischstuhl sitzt. Das Sitzkissen mag sie, da sie dann wackeln und tanzen kann und der blaue Schreibtischstuhl ist besonders kuschelig. Sie gibt mir den Block zurück und lächelt stolz.

 

Analytische Dimensionierung

Aus der vorliegenden Dichten Beschreibung sind mehrere Kriterien herauszufiltern, die eine besondere Bedeutung im vorliegenden Setting bei der Platzwahl haben. Folgende Punkte sind mir bei meiner Analyse besonders aufgefallen, was aber andere wichtige Punkte nicht ausschließt. Daher möchte ich in meiner Analytischen Dimensionierung insbesondere auf die Aspekte Raum, Materialität, Freundschaft und Geschlechter ein Augenmerk legen.

 Raum

Schulisches Lernen und soziales Miteinander findet zu einem großen Teil im Klassenraum statt. Daher ist die Beschaffenheit des Raumes zentral für die folgende Analyse. Wie wird der Raum genutzt, insbesondere in der Hinsicht auf die Platzwahl? Welcher Raum wird für sich selbst bzw. für andere beansprucht und wie wird dieser im schulischen Handeln konstituiert?

Insgesamt lässt sich der Klassenraum in verschiedene Handlungsräume unterteilen. Diese wären zum Beispiel der Sitzkreis, der etwas vom Unterrichtsgeschehen abgetrennt ist durch Tische, Regale und Sitzreihen. Der Sitzkreis bietet ein fest ritualisiertes Beisammensein, was in einer gemeinschaftlichen Form stattfindet und durch die quadratische Anordnung ein erhöhter visueller Raum ermöglicht wird. Dieser Raum ist besonders durch seine Nähe und Gemeinschaftlichkeit geprägt, während Sitzreihen und Gruppentische für die Einzel-, Partner- oder Kleingruppenarbeit vorgesehen sind. Der eigene beanspruchte haptische Raum ist im Sitzkreis ebenfalls kleiner und enger als an den Arbeitstischen. Zum Teil machten Kinder, wie in den Beschreibungen erkenntlich, Bemerkungen, dass ihnen dieser Raum zu eng ist und gerne weniger Körperkontakt hätten. Dies wird indirekt auch an der zur Hilfenahme eines Stuhls von Abdul sichtbar, der dadurch den Vorteil von mehr und gesicherterem Platz besitzt. Zwar wissen die Schüler, dass dies von der Lehrperson nicht gewollt ist, versuchen dies jedoch oft. Das Arbeiten an den Arbeitsplätzen scheint fest definiert zu sein. Jedes Kind nutzt in etwa die Hälfte eines Doppeltisches sowie einen Stuhl. Dies kann auch als festes Territorium zum Arbeiten im Regelfall beschrieben werden. Aber nicht nur „übliche Plätze“ können für das Arbeiten genutzt werden. Zwei Schülerinnen arbeiten beispielsweise oft auf dem Teppich zwischen Tafel und Lehrerhochtisch. Dieser Ort wurde von ihnen als spezifischer Handlungsort in Bezug auf schulisches Arbeiten konstituiert. Die Gruppentische im Klassenraum verfügen über verschiedene akustische Räume. Bei der Befragung nennen Kinder, dass sie lieber an dem leiseren Gruppentisch sitzen oder auch weitere Kriterien, wie ein Tisch mit Blick nach draußen. Auch Devin wählt einen Ort, an dem er das Geschehen des blauen Schreibtischstuhl genau mitverfolgen kann. Sichtbar wird, dass den Kindern unterschiedliche Kriterien in Bezug auf den Raum wichtig sind, diese können z.B. visueller, akustischer oder auch haptischer Natur sein.

 Materialität

Insbesondere die Materialität im Raum scheint zentral für die Platzwahl. Dies wird sowohl im Sitzkreis als auch an den Arbeitstischen deutlich. Zentrales Beispiel ist hier der blaue Schreibtischstuhl, der eine gewissen Komfort im Gegensatz zu den üblichen Stühlen hat. Schüler scheinen diesen Platz regelrecht zu genießen und sich durch Schnelligkeit erkämpfen zu müssen. Da er jedoch an bestimmten Tagen für die Integrationskraft reserviert ist, bleibt dieser Stuhl für längere Zeit frei. Daher ist gut sichtbar, wie beliebt dieser ist und auch, dass er anderen Mitschülern nicht „einfach so“ überlassen werden kann. Devin hat es sich im Prinzip zur Aufgabe gemacht, den Stuhl freizuhalten und ihn rechtmäßig der Integrationskraft zu übermitteln, dafür sucht er auch meine Hilfe, höchstwahrscheinlich in der Rolle der aufpassenden Praktikantin. So rückt er den Stuhl auch in die Mitte des Raumes, sozusagen als Zeichen der nicht Verfügbarkeit. Dadurch kann er Kinder darauf aufmerksam machen, dass dieser Platz heute nicht zur freien Verfügung steht, was jedoch nicht ganz funktioniert. Aber auch andere Stühle haben eine erhöhte Bequemlichkeit oder Attraktivität, sind aber bei den meisten Schülern in einer Skala mit weniger Wert bemessen als der blaue Schreibtischstuhl. Beispielsweise bietet der Klassenraum auch Stühle mit Polsterung, die scheinbar für Devin eine Alternative bieten. Des Weiteren gibt es Hocker, die geeignet sind zum „Wackeln“ und „Tanzen“. Diese sind scheinbar ebenfalls favorisiert, da diese zum Teil mitgeschleppt werden, um Gegenstände aus den persönlichen Ablagefächern zu holen. Dies bietet ein Indiz dafür, dass Stühle auch mal gerne von Tischen getauscht werden. Die Stühle sind daher alle in ihren Plätzen genauso wie die Schüler platzierbar mit Ausnahme des blauen Stuhls, dieser darf nur an einem vorgegebenen Platz genutzt werden und ist dadurch mit klasseninternen Strukturen belegt. Aber auch der Sitzkreis hat Plätze, die zu einem kleinen Schrank Zugriff haben. In diesem befinden sich beispielsweise Kuscheltiere, die zum Spielen genutzt werden können (Als ich mich einmal an den Platz gesetzt habe, wurde ich gefragt, ob ich den Platz tauschen kann.) und ebenfalls eine bestimmte Beschäftigung insbesondere vor dem Unterrichtsbeginn bieten. Zum Teil sind es jedoch immer ähnliche Schülergruppen, die sich für einen solchen Komfort interessieren bzw. ein höheres Interesse aufbringen, was sie veranlasst schnell und mit mehr Aufwand an solche Plätze zu gelangen. Andere Kinder scheinen bestimmte Dinge nicht zu interessieren. Beispielsweise nutzen Lina und Emilia den Teppich als Arbeitsgelegenheit, aber nicht den blauen Schreibtischstuhl. Dies ist ebenfalls ein Indiz für unterschiedliche Habitusgruppen und damit verbundenen verschiedenen Interessen. Ebenfalls entscheidet die Lehrerin oder gemeinsam erschlossene Regeln, dass bestimmtes Mobiliar oder Dinge zu manchen Zeiten nicht gestattet sind. Beispielswiese durch den Klassenratsbeschluss, der der Integrationskraft Tage für den blauen Stuhl reserviert hat oder, dass mit den Kuscheltieren nicht während der Unterrichtszeit gespielt werden darf. Allgemein zeigt insbesondere die Materialität des Raumes, die diesem zu einem solchen konstituiert, eine hohe Dichte an Interaktionen. Materialität scheint einen großen Einfluss auf die Wahl des Platzes zu haben sowie auf die Interessen der Schüler.

 Freundschaft

Jedoch auch die Interaktionen zueinander sind ausschlaggebend für die Wahl des Platzes. Die Sitznachbarn der Kinder deuten darauf hin, dass Freundschaften ebenfalls eine Bedeutung spielen. Sowohl der Sitzkreis als auch die Arbeitsplätze sind von immer gleichen Konstellationen geprägt. Durch ein häufiges Beisammensein und das Spielen in der Pause bewerte ich diese Beziehung als Freundschaft. Insbesondere im Sitzkreis zeigt sich die Besonderheit, dass Kinder sich gegenseitig Sitzplätze freihalten. Dies tun einige durch Rufen oder Klopfen auf der Bank. Dadurch wird der Person und ihrem Umfeld symbolisiert, dass dieser bestimmte Platz reserviert bleiben soll. Ebenfalls deutlich wird, dass diejenigen die auf der Bank sitzen eine Art Vorrecht darüber haben, wer neben ihnen sitzen soll, sie können sozusagen auf die Platzwahl anderer Einfluss nehmen. Meistens, insbesondere vor Unterrichtsbeginn, dient der Sitznachbar der Unterhaltung. Darunter sind nicht nur übliche Konversationen zu verstehen, sondern auch das Spielen mit Kuscheltieren oder ein Raufen auf der Bank. Diese Tendenz bildet sich auch bei den Freiarbeitsplätzen ab. Die Tische sind im Prinzip bereits gemeinschaftlich konzipiert, so können in der Regel immer mindestens zwei Schüler an einem Tisch sitzen. Diese Konstellationen werden ebenfalls aufgrund von freundschaftlichen Komponenten gewählt und dadurch ähnlich wie im Sitzkreis. Dies erleichtert für die Kinder ebenfalls die Partnerarbeit, die sie am liebsten mit ihren Freunden machen. Auch in dem Gespräch mit Elyas wird deutlich, dass er den Platz gewählt hat, da er neben seinem Freund Devin sitzen möchte. An den Arbeitsplätzen befinden sich an den Gruppentischen zum Teil auch Peergroups, das heißt, dass bis zu vier Kindern ähnlichen Alters an einem Gruppentisch sitzen. Dies geschieht jedoch eher bei den Viertklässlern. Die Erstklässler befinden sich oft in einer zweier Konstellation, wahrscheinlich da sie sich in diesem kleineren Rahmen geschützter Fühlen und durch ihren kürzeren Aufenthalt im Klassenverbund noch über weniger soziale Kontakte verfügen. Insbesondere bei der Anordnung der Schüler sind direkte Nachbarn von Bedeutung, diese werden oft in der gleichen oder zumindest ähnlichen Konstellation gewählt. Dies kann mit dem repetitiven Verhalten von Menschen erklärt werden, da sie nicht immer wieder neu entschieden, da Freundschaftsmerkmale nicht immer wieder neu überprüft und miteinander kommuniziert werden.

 Geschlechterordnung

Auch geschlechterspezifische Merkmale prägen die Sitzplatzwahl. Dies ist besonders im Sitzkreis ersichtlich, durch den im Prinzip eine Diagonale zwischen Jungen und Mädchen gezogen werden könnte. Die Mädchen der Klasse besetzen mit einer Ausnahme die Bank hinter dem Whiteboard, welche auch einen Platz für die Lehrerin enthält sowie die rechte Bank. Die Jungen beanspruchen die linke und der Lehrerin gegenüberliegende Bank. Elif sitzt in meiner Beobachtung gegenüber von der Lehrerin zwischen den Jungen, in anderen Beobachtungen sitzt sie jedoch auch bei ihren Freundinnen neben der Lehrerin, wobei nicht in direkter Nachbarschaft. Das liegt womöglich an ihren unterschiedlichen Freundesgruppen. Zum Teil spielt sie in der Pause mit den Jungen Fußball, wohingegen sie auch oft mit ihren Freundinnen im oder zwischen dem Unterricht Zeit verbringen. Die Reihenfolge der Personen wird zum Teil getauscht, doch der Wechsel der Bank bzw. einer Gruppe ist in meinen Beobachtungen bis auf diese Ausnahme nicht ersichtlich. Im Prinzip besitzen sie eine „Stammbank“ und eine Platzspanne von maximal drei bis vier Plätzen. Auch ist der Schrank, der zum Spielen mit Kuscheltieren und Anlehnen genutzt wird, zwischen Jungen und Mädchen aufgeteilt, beide haben Zugang zu diesem. Diesen Platz besetzen jedoch unterschiedliche Personen. Die Arbeitsplätze sind ebenfalls geschlechterhomogen gestaltet, wobei diese Homogenität des Öfteren durch zum Beispiel der Losung von Partnern beim Stationenlernen aufgebrochen wird. So ist in dieser Beobachtung ein Gruppentisch mit drei Jungen und einem Mädchen besetzt. Zum Teil werden auch Gruppentische mit der Hälfte an Jungen und Mädchen besetzt. Dass die Klasse sich oft geschlechterhomogen bei der Platzwahl anordnet, scheint im Klassenkontext eher als Normalität zu gelten und wird selten explizit benannt. Geschlechter scheinen in diesem Kontext ebenfalls zu einer Art interessengeleiteten Gruppe zu gehören, die eine bestimmte Auswahl von Sitzgelegenheiten präferiert. Dennoch befinden sich die Schüler in mehreren Gruppen, welches zum Beispiel die Wahl von Elif erklärt. Sie kann sich mit ihren weiblichen gleichaltrigen Mitschülern identifizieren sowie auch mit männlichen, da sie mit ihnen zum Beispiel das Hobby Fußball teilt. Eine geschlechterhomogene Anordnung ist jedoch auch durch Freundschaften geprägt, da diese in den meisten Fällen gleichgeschlechtlich sind.

Fazit

Zusammenfassend können hier einige Eigenlogiken des Feldes in Bezug auf die Platzwahl herauskristallisiert werden. Sowohl im Sitzkreis als auch an den Arbeitsplätzen spielen ähnliche Kriterien eine wichtige Rolle, die das Handeln der einzelnen Akteure steuern. Diese Auswahl der Kriterien hat, wie in der ethnografischen Forschung nur möglich, einen erheblichen Teil mit meiner Rolle als Forscherin zu tun. Daher sind natürlich weitere Auffälligkeiten nicht auszuschließen, sondern nur durch meinen individuellen Blick hier erst einmal unberücksichtigt.

Der Klassenraum verfügt über unterschiedliche Handlungsräume, diese können beispielsweise visueller, akustischer und haptischer Natur sein (vgl. Breidenstein 2006, S. 43ff.) und durch sie verorten sich Kinder an unterschiedlichen Stellen des Raumes. Diese sind zum Teil freiwillig gewählt oder auch durch die Rituale des Unterrichts vorgegeben. Der Sitzkreis verfügt beispielsweise über einen visuell offenen und haptisch engen Raum. Bei akustisch ruhigen Räumen handelt es sich um bestimmte Gruppentische, die dieses Kriterium bieten. Sitznachbarschaften verfügen über die meisten Interaktionsmöglichkeiten, beispielsweise einem visuell, akustisch oder haptisch angeregtem Raum. Der Rolle der Materialität bietet ebenfalls eine große Bedeutung bei der Wahl des Ortes im Raum. Wobei einiges Mobiliar umplatziert werden kann. Dadurch kann ein eigener konstruierter Ort geschaffen werden, der den momentanen Bedürfnissen entspricht. Dies geschieht zum Beispiel beim Zusammenstellen von einem „besonderen“ Stuhl zum gewünschten Tisch oder bei der Wahl des Teppichs als Arbeitsplatz. Insbesondere lässt sich beim blauen Schreibtischstuhl eine große Handlungsdichte feststellen, da er über einen gewissen Komfort verfügt. Während der Raum und die Materialität Auskunft über die Verortung geben, lassen sich aus freundschaftlichen und geschlechterspezifischen Aspekten grundlegende Informationen für die Anordnung der Kinder ableiten. Direkte Nachbarn bzw. das unmittelbare Umfeld sind auffällig stark durch die Anordnung nach Freundschaften geordnet. Zudem lässt sich die geschlechterhomogene Anordnung der Schüler vor allem im Sitzkreis nicht übersehen. Hierzu sind auch Überschneidungen mit den Ergebnissen zur Sitzordnung bei Willems (vgl. 2007, S. 2f.) zu finden, die ebenfalls eine strikte Geschlechtertrennung identifiziert, die ebenfalls durch die Körperhaltung abgegrenzt sichtbar wird. In diesem Fall ist es nicht die Körperhaltung, sondern die Einteilung in Sitzbänke, die als Trennung gesehen werden kann. Diese Anordnung ist natürlich nicht zuletzt auch durch freundschaftliche Aspekte bedingt, da diese in der Regel ebenfalls gleichgeschlechtlich sind. Die Klasse ist durch ihre eigenen Logiken sowie gesellschaftliche Strukturen geprägt, die ebenfalls eine starke räumliche Komponente aufweist, wie zuvor gezeigt. Die Akteure der Klasse konstruieren ihren Raum und handeln nach diesem, welches eine Beobachtbarkeit zur Folge hat. Auch bei Materialität, Orten und Anordnungen wird dieses Prinzip sichtbar. Das Handeln ist dabei durch gewisse repetitive Muster, die zur Folge haben, dass Schüler immer wieder nach gleichen oder ähnlichen Mustern handeln, über Gewohnheitsplätze und -anordnungen verfügen, bestimmt. Daher ist insbesondere eine genaue und befremdete Betrachtung notwendig, um die Ebene des Selbstverständlichen zu durchbrechen, was in der ethnografischen Forschung eine unerlässliche Bedingung darstellt. Nicht zuletzt sind Handlungen habituell geprägt, d. h. durch Zugehörigkeiten verschiedener Gruppen. Dies erklärt vor allem, warum z.B. manches Mobiliar, Sitzkreisanordnungen oder bestimmte soziale Interaktionen für einige Kinder interessant waren und für andere wiederum nicht.

Insbesondere ist es von Bedeutung, dass die Ethnografie immer mehr die Kindheit als eigenes Forschungsfeld erkennt und die Perspektiven von kindlichen Akteuren mehr Einklang in die Schul- und Unterrichtsforschung finden (vgl. Lange & Wiesemann 2012, S. 264). Der Klassenraum sollte für oder auch von Kindern passend auf ihre Lebenswelt und Bedürfnisse gestaltet werden. Daher ist es wichtig, solche selbstverständlich scheinenden Bereiche weiter in der Forschung zu vertiefen sowie auch als Lehrperson einen befremdeten Blick für das eigene Umfeld zu gewinnen, um dadurch professionell handeln zu können.

Literaturverzeichnis

Amann, K. & Hirschauer, S. (1997). Die Befremdung der eigenen Kultur. Ein Programm. In S. Hirschauer & K. Amann (Hg.), Die Befremdung der eigenen Kultur. Zur ethnografischen Herausforderung soziologischer Empirie (S. 7-52). Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Breidenstein, G. (2006). Teilnahme am Unterricht. Ethnographische Studien zum Schülerjob (Studien zur Schul- und Bildungsforschung Band 24). Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften.

Breidenstein, G., Hirschauer, S., Kalthoff, H. & Nieswand, B. (2015). Ethnografie. Die Praxis der Feldforschung (2. Aufl.). Konstanz/München: UKV Vertragsgesellschaft mbH.

Lange, J. & Wiesemann, J. (2012). Ethnografie (2. Aufl.). In F. Heinzel (Hg.), Methoden der Kindheitsforschung. Ein Überblick über Forschungszugänge zur kindlichen Perspektive (S. 262-277). Weinheim/Basel: Beltz Juventa.

Löw, M. (2001). Raumsoziologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

Löw, M. (2007). Zwischen Handeln und Struktur. Grundlage einer Soziologie des Raums. In F. Kessl & H.-U. Otto (Hg.), Territorialisierung des Sozialen. Regieren über soziale Nahräume (S. 81-100). Opladen/Farmington Hills: Verlag Barbara Budrich.

Lüders, C. (2012). Beobachten im Feld und Ethnografie. In U. Flick, E. von Kardorff & I. Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch (S. 384-401). Hamburg: Rowohlt Taschenbuch Verlag.

Willems, K. (2007). Fach und Geschlecht – Sitzordnung Klasse A – Geschlechtertrennung. Abgerufen von http://www.fallarchiv.uni-kassel.de/backup/wpcontent/plugins.old/lbg_chameleon_videoplayer/lbg_vp2/videos//willems_sitza_ofas.pdf, 16.12.2013.

[1]   In dieser Arbeit wird im Folgenden, aus Gründen der Übersichtlichkeit, nicht zwischen dem weiblichen und männlichen Geschlecht unterschieden. Selbstverständlich inkludiert die männliche Form in dieser Arbeit auch die weibliche.

[2] Im Folgenden werde ich die Begriffe „Gruppentisch“ und „Zweiertisch“ bzw. „Doppeltische“ verwenden. Letzteres beschreibt einen länglichen Tisch, an den zwei Stühle gestellt werden können. Ein Gruppentisch ist die Zusammenstellung dieser Zweiertische.